FORVM, No. 204/I/II
Dezember
1970

6 Gründe gegen BH

Abrüstung ist eines der gängigsten Worte der internationalen Politik. Dem Reden von Abrüstung steht jedoch kaum eine politische Praxis gegenüber. Die Notwendigkeit der Abrüstung wird beteuert, zugleich ihre Unmöglichkeit behauptet, solange nicht alle Staaten sie vornehmen. So entsteht eine immer größere Kluft zwischen Forderung nach Abrüstung und Tatsache allgemeiner Zunahme der Rüstung.

Argumentiert wird zumeist physikalisch: Gleichgewicht dürfe nicht gestört werden; Vakuum würde sogartig die Armeen der Nachbarstaaten ins Land hereinziehen usw.

Politische Entscheidungen, und eine solche wäre Abrüstung, werden naturgeschichtlich-schicksalhaft abgehandelt, somit der menschlichen Rationalität entzogen, Sie erhalten den Anschein des Unbeeinflußbaren. Dazu kommt die Blut-und-Boden-Romantik, die Mystik des Fürs-Vaterland-Sterbens.

Dagegen kann nur helfen, die Frage der Abrüstung abzuhandeln, wo sie hingehört: auf der Ebene politischer Rationalität. Da die Angst vor dem Neuen, Noch-nie-Dagewesenen, ein konstitutives Moment jedes Konservatismus ist, die Großmächte und deren Satelliten konservativ sind, wären Modelle abgerüsteter Zonen bzw. Staaten erforderlich, an denen die Möglichkeit der Abrüstung überprüfbar, „beweisbar“ würde. Da Angst und Konservatismus unmittelbar zusammenhängen, kommen als derartige Modelle nur Staaten in Frage, für deren „Sicherheit“ das Militär schon jetzt praktisch keine Rolle mehr spielt und die für die „Erhaltung des Gleichgewichts“ unbedeutend sind.

Diese Merkmale treffen bei realistischer Einschätzung der Lage auf Österreich zu. Österreich hätte die Chance, aus der „Not“ militärischer Impotenz eine Tugend zu machen. Österreich ist wegen seiner geopolitischen Lage, seiner historischen Erfahrungen, seiner staatsvertraglich auferlegten Rüstungsbeschränkungen als Abrüstungsmodell geradezu prädestiniert.

Die Hauptgründe für den „Modellfall Österreich“ lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen: 1. militärische, 2. ökonomische, 3. innenpolitische, 4. außenpolitische, 5. sozialpsychologische, 6. ethische Gründe.

1. Militärische Gründe

Österreich kann keinen der möglichen Konfliktfälle militärisch erfolgreich bestehen. Die geopolitische Lage Österreichs zwischen den beiden Blocksystemen schließt den isolierten Angriff eines Kleinstaates aus, so daß jeder in Frage kommende Aggressor militärisch um ein Vielfaches stärker ist als Österreich. Der „Eintrittspreis“, mit dem der österreichische Neomilitarismus argumentiert, kann für den Angreifer nie so hoch gehalten werden wie der Preis, den Österreich für das Aufhalten des „Feindes“ für wenige Stunden oder Tage zu bezahlen hat. [1] Die durch den Staatsvertrag auferlegten Rüstungsbeschränkungen verwehren außerdem den Besitz effektiver moderner Verteidigungswaffen, was einen militärischen Widerstand für Österreich noch absurder erscheinen läßt. Ein Militär ist daher für die Verteidigung der österreichischen Neutralität kein „zu Gebote stehendes Mittel“ mehr.

2. Ökonomische Gründe

Österreich kann aus ökonomischen Gründen viele der wesentlichsten Fragen einer modernen Gesellschaft nicht lösen, zum Beispiel auf dem Bildungssektor, in der Wirtschaftspolitik usw. In dieser Situation bindet unser militärisch ohnehin sinnloses Militär einen zu großen Teil des Volksvermögens. Unser Bundesheer kostet ja nicht nur die mehr als vier Milliarden Schilling Verteidigungsbudget (ohne die Mittel für „geistige Landesverteidigung“ im Unterrichtsbudget). Man muß auch bedenken, wie viele Arbeitskräfte der Wirtschaft entzogen werden. Gegenwärtig sind rund 34 Milliarden Schilling jährlich, das sind etwa 10 Prozent des BNP, durch das Militär gebunden. Ein so teures Spielzeug kann sich Österreich nicht leisten.

3. Innenpolitische Gründe

Das Bundesheer hat laut Verfassung noch immer innenpolitische Aufgaben zum „Schutz der inneren Sicherheit“, Mit seiner Hilfe können bestimmte unliebsame Gruppen innerhalb der Gesellschäft bekämpft werden. Die Erfahrungen aus der österreichischen Zeitgeschichte sowie die Beispiele anderer Länder zeigen, daß ein Militär als innenpolitisches Instrument gern gegen die Demokratie eingesetzt wird.

Doch nicht nur aus diesem Grunde ist das Militär eine Gefahr für die Demokratie. Vor allem als Erziehungsinstrument erweist es sich als „Schule der Antidemokratie“ (gemeinsam mit anderen Institutionen). Der Tugendkodex des Militärs steht in diametralem Gegensatz zum Anspruch einer demokratischen Gesellschaft.

4. Außenpolitische Gründe

Österreichs außenpolitische Chance liegt in der Vermittlung zwischen den Blocksystemen und in der Friedensförderung. Eine solche aktive Neutralitätspolitik kann besser und glaubwürdiger erfolgen, wenn Österreich selbst auf ein Militär verzichtet (über dessen „neutrale“ Einstellung noch dazu jeder — auch die beiden Blöcke — Bescheid weiß). Zugleich müßte Österreich bei der UNO initiativ werden, um den Status der „unbewaffneten Neutralität“ auch völkerrechtlich abzusichern und damit ein Beispiel für die Abrüstung anderer Staaten zu geben. Österreichs Ansehen in der Welt würde dadurch aufgewertet. Unsere Sicherheit würde durch diplomatische Aktivität, Sitz internationaler Institutionen in Österreich sowie völkerrechtlich garantierte „unbewaffnete Neutralität“ auf jeden Fall größer sein als durch ein fragwürdiges Heer.

5. Sozialpsychologische Gründe

Durch die militärische Erziehung und ihr Vorfeld, die „geistige Landesverteidigung“, wird die Bevölkerung zum „Freund-Feind-Denken“ erzogen, wobei klar ist, wer der Freund und wer der Feind ist. Auf diesem Boden ist echte Friedenserziehung sowie Erziehung zur Völkerverständigung als Voraussetzung für den Frieden kaum möglich.

Weiters wird der psychologische Hemmungsmechanismus des Menschen in bezug auf das Töten von Artgenossen in eine planmäßige Pflicht, ja sogar eine Tugend, umfunktioniert. Das führt längerfristig zur Brutalisierung der Gesellschaft (nicht umsonst ist die Anfälligkeit für Verbrechen in den USA bei Vietnam-Heimkehrern ungleich größer als beim Durchschnitt der Bevölkerung). Die Folgen militärischer Erziehung und insbesondere der allgemeinen Wehrpflicht können aus den erwähnten und noch weiteren Gründen als sozialschädlich bezeichnet werden.

6. Ethische Gründe

Ohne auf dem Standpunkt des absoluten Pazifismus zu stehen, kann man das Töten von Menschen — besonders in seiner organisierten Form, dem Krieg — als unmoralisch bezeichnen. Theoretisch kann es dennoch erforderlich sein, wenn das moralische Postulat im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität steht (zum Beispiel bei nicht anders änderbaren ungerechten Sozialstrukturen. Die Legitimität der Gewalt wird hier im Einzelfall sehr genau zu untersuchen sein, doch kann dies hier nicht erfolgen). Im Falle eines modernen Krieges kann jedoch schon auf Grund seiner möglichen Auswirkungen eine „Berechtigung“ nicht mehr angenommen werden. In bezug auf Österreich deckt sich das moralische Postulat der Gewaltlosigkeit mit der gesellschaftlichen Realität, das heißt der Unmöglichkeit eines verantwortbaren gewaltsamen Widerstandes oder anders: Pazifismus und Realismus stehen hier in keinem Widerspruch, ja sie sind identisch. Die Abrüstung Österreichs wäre also einer der seltenen Fälle, in dem sich moralischer und politischer Anspruch decken.

[1Angenommen, es gelangen tatsächlich 30.000 Mann ins Gefecht. Die erfahrungsgemäße Ausfallsquote bei Kämpfen gegen große Übermacht ist 20 Prozent: pro Tag sind das 6.000 Mann. Angenommen, Österreich „hält“ vier Tage durch: 24.000 Mann. Die erfahrungsgemäße Verhältniszahl zwischen militärischen und zivilen Ausfällen ist 1:9. Das macht 240.000 Österreicher als „Eintrittspreis“.

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