FORVM, No. 344-346
Oktober
1982

A.E.I.O.U.

Zienkl, Schlitz und die Karausche

oder
Der wirkliche Weltuntergang findet in Österreich statt

Es gab immer mehr Tage, an denen nichts gelang: kein Handelsabkommen, keine Familienfeier, kein Vogelnest. Die Käufer kauften nicht, die Wähler wählten nicht und die Fernsehansager sagten ein falsches Programm voraus.

An diesen Tagen sangen die Frauen nicht mehr bei der Arbeit und die Triebtäter drangen nicht mehr ein. Der gesamte Verkehr geriet ins Stocken, alle Anrufer wurden falsch verbunden. Einige Spitäler stürzten ein und die Kanäle traten aus den Ufern.

An einem solchen Tag sank das Bruttosozialprodukt endgültig. Vom Trockenen aus betrachteten die Wirtschaftskapitäne verlegen seinen Untergang. Die verbliebenen Mannschaften, die weder abgeworfen noch abgesprungen waren, liefen darauf hin und her und suchten es ohne rechte Überzeugung zu retten; umsonst, der Sog war übermächtig.

Alle Welt hatte diesen Tag mit Schrecken erwartet. Als es nun endlich sank, das BSP, war es wie bei der Nachricht, daß ein lieber Anverwandter nach langem, schwerem Leiden verschieden ist. Es trat vor den Tränen und der gebührlichen Trauer ein Augenblick der Erleichterung ein, eine kurzfristige Entspannung des Weltenkrampfes.

Die Rezessionswellen begruben das BSP. Alles Metall sank schnell, das Plastik schwamm obenauf und verdarb den Fischen zwischen Neusiedel und Lustenau die Sicht. Die Fische waren empört über den Unrat, sie waren einiges gewöhnt von oben, aber das hier ging entschieden zu weit. Dann schlug ihr Zorn um in eine endogene Depression und sie schwammen, Bauch nach oben, an die Gewässeroberfläche.

Die Karausche war der letzte österreichische Fisch in freier Wildbahn. Sie hatte die kalte Jahreszeit verschlafen; während der Katastrophe lag sie im Schlamm vergraben. Jetzt schwamm sie hochrückig-gedrungen, seitlich abgeflacht und 25 cm lang durch die trübe Lauge. Sie blickte sumpfkarpfig vorwurfsvoll um sich, nicht anders als sonst auch.

Bald jedoch bekam sie den Zwang zum evolutionären Sprung zu spüren: weil kein Plankton mehr war, stand sie vor der Alternative, am Grund zu verhungern und als Gattungswesen zu verenden, oder aber aufzusteigen, was gegen ihre Art war. Sie schwamm, Bauch nach unten, nach oben und sprang ungelenk, weil ungeübt, vor den Augen des verwunderten Gmundner Publikums aus dem Wasser. Mitleidige Beobachter errieten, was ihr fehlte und streuten Vogelfutter.

Die Karausche wurde zur Sensation: sie schwamm wie ein richtiger Fisch im Wasser und sprang darüberhinaus um die zugeworfenen Häppchen. Früher hatte sie keiner so recht beachtet, jetzt fotografierte sie ein Reporter einer auflagenstarken Tageszeitung und das Bild erschien anderntags. Darüber stand: Skandal: Killerkarpfen auf freiem Fuß.

Selbstverständlich glaubten weder die Journalisten, noch die Leser einen solchen Schmarrn. Der politische Hintergrund der Meldung war, daß das Blatt in einem zwar losen, jedoch loyalen Verhältnis zu der Partei stand, die die Errichtung einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage am Traunsee plante. Die überständige Karausche aber gefährdete, wie vor ihr so manche Spezies, eine schleunige Abwicklung der Bautätigkeit.

Zienkl, ein letzter Aufrechter im Kampf um den Fortschritt, verständigte nach dem Auftauchen der Karausche sofort seine Gmundener Freunde. Sie sollten den Fisch aus dem Traunsee in den benachbarten Attersee umsiedeln. Er ging zurecht davon aus, daß auch die Seewalchner das Tier füttern würden. Frau Schlitz, der viel daran gelegen war, den Bau der Wiederaufbereitungsanlage zu verzögern, wenn nicht gar zu verhindern, verständigte ebenfalls ihre Gmundner Gesinnungsgenossen, die einen Schutztrupp für die Karausche zusammenstellten.

Auf der Esplanade traf die Karpfenheimwehr auf den Atomschutzbund und es kam zum Handgemenge. Die Toten wurden gleich in den See geworfen, wo sie nicht weiter auffielen. Keine der beiden streitenden Parteien konnte jedoch den Sieg davontragen. Beim Waffenstillstand teilten sie sich Gmunden in zwei Einflußsphären und überließen es dem Schicksal und der Karausche selbst, wem sie zufallen sollte. Der Fisch aber hatte weder an diesem Tag noch an den folgenden einen rechten Appetit und blieb verschollen.

Keiner soll glauben, daß der Verlust so mancher Tiergattungen die Regierung gänzlich ungerührt oder unvorbereitet getroffen hätte. Man war übereingekommen, jede untergegangene Spezies durch eine neue, den modernen Anforderungen entsprechende, zu ersetzen. So war es dem Forscherteam Zwiřinek/Heuberger endlich gelungen, einem Hasenkörper einen Katzenkopf zu transplantieren. Das einzige Tier, von seinen Erzeugern „Fellepomat“ genannt, zeigte jedoch bald nach der Entwöhnung von der Mutterbrust der wissenschaftlich-technischen Assistentin schwere Identitätskrisen. Es litt unter nervösen Spannungen, denn der Hinterteil wollte beständig die Flucht ergreifen, während der Kopf auf eine passende Gelegenheit lauerte.

Es blieb der Hasenkatze nichts übrig, als sich ihren Herstellern anzupassen und so begann sie zu sprechen; sie beschwerte sich, daß das Team sie zum falschen Hasen und zur falschen Katze zugleich degradiert hätte. Sie war voller Ressentiments gegen ihre Erzeuger, berichtete von schweren Sozialisationsschäden und daraus resultierenden Komplexen, die einen negativen Einfluß aufihr Sexualverhalten hatten. Das Team entschloß sich, die Hasenkatze in ein gruppendynamisches Wochenendseminar einzuschreiben und Zwiřinek begleitete sie zu diesem Zweck nach Gmunden.

Im Zug hatte der Wissenschaftler Gelegenheit, sein Werk in allen seinen Konsequenzen zu betrachten und zu überdenken. Die Transplantation war makellos, man sah nicht einmal die Naht am Hals, obwohl das beständige Räuspern des Tieres, das manchmal in ein feines Hüsteln überging, ein Hinweis darauf war, daß der Zusammenschluß der beiden Luftröhren nicht gänzlich geglückt war. Insgesamt war die Hasenkatze eine kultivierte Erscheinung, sie konnte sich auch recht gewählt ausdrücken, was einen unbestreitbaren Fortschritt im Tierreich darstellte.

So richtig warm konnte Zwiřinek mit dem Tier nicht werden. Lag es an der Undankbarkeit der Hasenkatze? Oder an der unmännlichen Art, in der sie beim Sitzen die Beine überkreuzte? Einmal ertappte sich der Wissenschafter bei dem Wunsch, daß sich der Unterteil seiner Erfindung durchsetzen und aufs weite Feld enteilen möge: am besten gleich auf Nimmerwiedersehen.

Es ist schwer zu sagen, ob die Hasenkatze oder das Wochenendseminar den Ausschlag gab: jedenfalls begann Zwiřinek am Sinn seiner Tätigkeit und also seines Lebens zu zweifeln. Nach Atemübungen im Seminar, die dazu angetan waren, noch den dicksten Körperpanzer anzuknacksen — und Zwiřineks Panzer war nicht dick, sodaß von einem richtigen Durchbruch die Rede sein konnte — sprang der solchermaßen aufgelöste Forscher in suizidärer Absicht in den Traunsee.

Die Karausche bemerkte den Schatten im Wasser und schwamm neugierig darauf zu. Zwiřinek hielt erstaunt inne: „Ein Carassius carassius in dieser Brühe“, fuhr es ihm durch den Kopf. Da er gerade im Seminar gelernt hatte, auf die nonverbalen Äußerungen seines Gegenübers achtzugeben, entnahm er der Körperhaltung der Karausche sofort, daß auch sie raus wollte. Die Karausche nickte zustimmend. Sie beschlossen gemeinsam auszusteigen.

Zwiřinek barg den Carassius carassius in seiner Unterhose, der Karpfen war ohnehin sehr widerstandsfähig und überlebte spielend den Transport. Unentdeckt gelangten beide in Zwiřineks Pension, wo er dem Fisch in der Badewanne eine neue Heimat bereitete.

Dann schritt der Forscher rasch zur Tat: er benachrichtigte seinen Kollegen Heuberger von seinem Entschluß, der Wissenschaft bis auf weiteres den Rücken zuzukehren, da er erholungsbedürftig sei. Heuberger setzte diesem Bescheid Zwiřineks recht wenig entgegen, er sorgte sich mehr um das Wohl der Hasenkatze, die ein großer internationaler Erfolg zu werden versprach.

Zwirineks zweiter Anruf galt seiner Frau Helga. Er wollte auch hier reinen Tisch machen. Sie sagte, als er ihr die Scheidung vorschlug, bei der sie den größeren Teil des gemeinsam Ersparten behalten sollte, sie wolle nichts übereilen, dem Vorhaben ihres Gatten jedoch nicht im Wege stehen.

Dieser Befreiung seines Geistes und seines Gemüts wollte Zwiřinek noch ein äußerliches Zeichen beigesellen. Er entledigte sich der mitgenommenen Anzüge und Krawatten, indem er sie dem Stubenmädchen zur Weitergabe an ihren Bräutigam schenkte. Damit glaubte er sich ihr Stillschweigen über den Fisch in der Badewanne zu erkaufen.

Die Karausche erfreute sich an der relativ besseren Wasserqualität. Sie drehte einige vergnügte Runden in der Wanne und stieg von Zeit zu Zeit an die Oberfläche, um ihren Erretter dankbar anzulächeln; diese Beherrschung der Gesichtsmuskulatur war Teil des bereits erwähnten evolutionären Sprungs. Ihr Lächeln war hinreißend. Angesichts dieser unverwüstlichen Lebenslust begann Zwiřinek sich seine Zukunft in den rosigsten Farben auszumalen.

Nach dem Anruf stand Helga Zwiřinek so lange am Fenster und blickte ratlos in den lauen Frühlingsnachmittag, bis ihr dieses abgestandene literarische Bild zum Hals heraushing. Es war an der Zeit, fand sie, daß Bewegung in die Sache kam. Sie überprüfte sorgfältig, ob die Straße unter ihrem Fenster auch leer sei, damit kein Passant unschuldig zu Schaden käme. Dann schlug sie mit einem Hammer den rechten äußeren Fensterflügel ein.

Ein Teil der Scherben fiel auf die Straße, ein Teil blieb am Fensterbrett liegen: dort hinein legte sie das Hochzeitsbild und die Bilder ihrer beiden erwachsenen Kinder. Verkehrt; sie wollte ihnen nicht direkt ins Gesicht schlagen.

Die alte Frau von gegenüber streckte neugierig ihren Kopf beim Fenster heraus und rief: „Werden wir überfallen, Frau Doktor?“ Helga Zwiřinek rief zurück: „Der Wind hat das Fenster zugeschlagen und dabei ist eine Scheibe zerbrochen.“ „Aber Frau Doktor, es geht doch seit Tagen kein Lüftchen!“ — „Auf meiner Seite schon, seit heute nachmittag“, antwortete Helga, schloß das verbliebene Fenster und drehte das Radio ganz laut auf. Im dramatisierten Sonntagsroman kämpfte sich eine gequälte englische Gouvernante fast ins Ehebett ihres adeligen Dienstgebers, kam aber gerade noch rechtzeitig darauf, daß er ein rücksichtsloser Flachkopf war und — ihn in seiner gekränkten Eitelkeit stehenlassend — enteilte sie ins Ungewisse.

Helga Zwiřinek holte ihr gesamtes Porzellan und stellte es auf den Tisch. Sie überlegte, ob sie es mit einem Knall zu Fall bringen sollte, indem sie den Tisch einfach kippte oder ob es besser sei, jedes Stück einzeln zu zerschmettern. Sie entschied sich für das Letztere. Bei jeder Tasse, bei jedem Glas dachte sie an eine besondere Gelegenheit: „Dieser Teller ist für die falschen Versprechungen, diese Schüssel für die ewige Warterei. Ein Glas für meine verlorenen Freunde, eins für die undankbaren Kinder. Dieser Teller für die schlechten Fernsehprogramme“. Beim Suppentopf stand sie eine Weile unschlüssig. Dann sagte sie mit große Würde: „Für meine geschundene Haut“. Sie ließ ihn fallen und er zerbrach in zwei Hälften.

Nach einigen Augenblicken des ungetrübtesten Selbstmitleids begann Helga Zwiřinek ihre Lage zu analysieren: „Gesetzt den Fall ich könnte dieses Porzellan wieder ganz machen. Müßten sich dann nicht alle Mißerfolge, die ich den einzelnen Stücken zugeordnet habe, in ihr Gegenteil verwandeln?“ Sie überlegte, was Zwiřinek dazu gesagt hätte: „Mit der gleichen Wahrscheinlichkeit, mit der du dieses Geschirr wieder ganz machst, wird alles wieder gut“. Er hätte es gar nicht sarkastisch, sondern nachdenklich gesagt.

Sie wußte, er hätte es ihr nicht zugetraut, die Scherben wieder aneinander zu fügen. Sie hätte es nicht versucht, aber jetzt kam es ihr so vor, als hinge nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das Schicksal der ganzen Welt davon ab, ob ihr die Sache gelänge. Sie nahm also eine Tasse, die in drei Stücke zersprungen war und setzte sie vor sich hin auf den Tisch. Die Stücke paßten ineinander und hielten. Helga ließ das Bild der Tasse vor ihren Augen verschwimmen. Sie kroch in ihren hintersten Winkel zurück, im Rücken spürte sie sich sehr heiß. Ihr Energiefluß kam in Form eines gelben Dunstes aus dem Schlüsselbein. Diese Wolke richtete sie auf die Schale aus. Der Dunst verdichtete sich dermaßen, daß die Tasse nicht mehr zu sehen war. Dann knallte es und Helga stand auf um die Kaffeekanne herbeizuholen. Sie goß den kalten Kaffee in die Tasse; er sickerte sogleich durch und der braune Kaffeefleck breitete sich langsam auf der Tischdecke aus.

„Was soll mir das alte Heferl“, sagte sich Helga Zwiřinek, „ich werde in den Prater Riesenradfahren gehen. Im Riesenrad schließt man leicht eine Bekanntschaft und schon fängt ein neues, schöneres Leben an.“ Und sie machte sich augenblicklich auf den Weg.

Da sich die Karausche seit Tagen nicht mehr gezeigt hatte, beschlossen die beiden feindlichen Truppen, ihre Wacht am Traunsee einzustellen. Der Atomschutzbund benachrichtigte Zienkl davon und fügte hinzu, daß es sich bei dem Fisch vermutlich nur um ein von der Schlitz in die Welt gesetztes Phantom handle, um eine Lüge, die den raschen Bau der Wiederaufbereitungsanlage verzögern sollte. Zienkl bedankte sich zerstreut bei seinen Mitstreitern für die geleisteten Dienste; er hatte die Karausche über wichtigeren Vorhaben schon vergessen.

Zienkl war als Direktor eines einflußreichen Geldinstituts auch Verwalter eines Fonds, der jungen Sozialwissenschaftern Forschungsgelder zur Verfügung stellte. Vor nicht allzu langer Zeit war nun ein Projektantrag eingegangen, der den Titel führte: „Österreich macht ein Jahr Pause“. Darin behauptete der Antragsteller, ein ausgebildeter Politologe, daß er einen ebenso lustvollen wie originellen Weg aus der Krise wisse: Österreich solle ein Jahr lang nicht arbeiten und alles Vorrätige herunterwirtschaften. Nach diesem Jahr wäre es dann in der glücklichen Lage, wie nach einem Krieg den Wiederaufbau vorzunehmen, nur daß eben kein Krieg stattgefunden hätte; beim Wiederaufbau wäre es dann ein Leichtes, alle noch Arbeitswilligen zu beschäftigen.

Im Wortlaut heißt es: Österreich wird freiwillig das verächtlichste Land auf der ganzen Welt; aller verquerer deutschnationaler Stolz verliert sich von selber; Österreich bezieht sein künftiges Selbstwertgefühl direkt aus der Gosse. Denn in dem Jahr Pause wird nur gesoffen und gehurt; gefressen und gehurt; gerülpst, gespien und noch einmal gehurt.

Der Ansucher wollte öS 500.000,— zum Zwecke der Voruntersuchung, in der er sich persönlich dem Experiment des Müßiggangs aussetzen wollte; er räumte einem renommierten Meinungsforschungsinstitut die Möglichkeit ein, ihn alle zwei Monate über den Fortgang seiner Untätigkeit zu befragen; nicht öfter und nur unter der Bedingung, daß diese Befragungen den Endbericht ersetzten. In einem Schlußkapitel erklärte der Politologe, daß er bereit sei, für sein ganzes restliches Leben auf einen industriellen Arbeitsplatz zu verzichten, sodaß der österreichische Staat sich durch diese einmalige Zuwendung die Hälfte der Gesamtsumme erspare, die ihm als arbeitslosem Staatsbürger ohnehin zustände.

Es waren nicht diese Ideen selbst, die Zienkl so beschäftigten, sondern die namenlose Kühnheit des Ansuchens gab ein Vorbild für seine eigenen recht entgegengesetzten Pläne ab. Zienkl hielt nichts von Pausen, sondern versprach sich von einer gesteigerten wirtschaftlichen Tätigkeit den Ausweg aus der Krise. Aber ein radikaler Plan war schon vonnöten, wollte man dem Untergang der Nation nicht tatenlos zusehen. Zienkl hatte also die Idee, Österreich in die Sahara zu übersiedeln.

Das Saharaprojekt würde Österreich aus seiner prekären geographischen Lage befreien: es würde nicht länger Gefahr laufen, in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West zerrieben zu werden. Der österreichische Fremdenverkehr müßte durch diese Übersiedlung nicht zu Schaden gelangen, denn eine neue Form des Dünenschilaufs könnte Sommer wie Winter das herkömmliche Schilaufen und die Kärntner Seen ersetzen. Die Lifte finden dabei Verwendung und die Schilehrer würden sich rasch umstellen. Bei der Post würden sich mittelfristig unzählige neue Arbeitsplätze als notwendig erweisen; die überzähligen Lastwagen und Traktoren einer verstaatlichten Firma fänden beim Umzug reißenden Absatz. Man könnte überdies bei dieser Aktion Ungeliebtes einfach zurücklassen, die Spreu vom Weizen trennen: zum Beispiel das giftige Wiener Hochquellwasser und das dazugehörige Brot; gewisse unpopuläre Minister und Bankdirektoren; alle Ausländer und die Hausbesetzer.

Der Umzug scheiterte letztendlich am Widerstand der verwurzelten Tiroler und Vorarlberger. Während die Bundesregierung bereit war, auf die letzteren zu verzichten — man wollte sie mitsamt ihrer defizitären Textilindustrie billig an die Schweizer abtreten — stellte sich die Kooperation der Tiroler als unerläßlich heraus. Insbesondere die strategische Bedeutsamkeit seiner Schützen für die Landesverteidigung machte Tirol unentbehrlich. Österreich entschloß sich also gegen den Willen seiner Sozialingenieure zu bleiben, wo es war. Man hatte eine Überlebenschance vergeben.

Die Karausche schwamm noch immer in Zwiřineks Badewanne, weniger fröhlich als vor ein paar Wochen, jedoch quicklebendg. Im Unterschied zu Zwiřinek selber, bei dem die allzu schnelle Freiheit zur Ermattung geführt hatte. Alle Wege standen ihm offen, aber wer war er schon? wo war er denn? und wohin sollte das alles führen? Er fühlte sich wie durch ein Haarsieb passiert und damit gequält, daß er auf der anderen Seite zu keiner neuen Form gelangen konnte.

Das Stubenmädchen konnte ihr Geheimnis auf die Dauer nicht für sich behalten und sie erzählte ihrem Bräutigam von der Karausche. Der Bräutigam hatte ohnehin einen Zorn auf Zwiřinek, dessen Anzüge ihm um das bißchen zu klein waren, daß er nicht gut ablehnen konnte, sie ihn aber beständig zwickten. Er verriet also einem vom Atomschutzbund den Aufenthalt der Karausche. Ein kleines Überfallskommando war rasch zusammengestellt und die Karausche war im Nu entführt. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde sie nicht in den Attersee gebracht, wie ursprünglich geplant, sondern nach Wien zu Zienkl höchstpersönlich, um davor sicher zu sein, daß sich die Schlitzschen ihrer bemächtigten und sie wieder nach Gmunden zurückbrächten.

Zienkl gewöhnte sich rasch an den Karpfen und betrachtete ihn insgesamt mit Rührung, wenn er an den beinahe abgeschlossenen Bau der Wiederaufbereitungsanlage am Traunsee dachte. Die Karausche lächelte und sprang nicht mehr. Verstockt stand sie in Zienkls Aquarium und dachte an Zwiřinek, den einzigen Menschen, der sie je verstanden hatte. Sie vergoß aber keine Träne, weil sie ja doch unbemerkt dahingeflossen wäre.

Eines Tages klingelte es heftig an Zienkls Tür. Er war allein zu Hause und ungehalten über solchen Ungestüm. Er warf einen Blick auf den Monitor, aber entweder funktionierte der schon wieder nicht, oder es war plötzlich draußen stockfinster geworden. Am Schirm bewegten sich nur dunkle Schatten. „Ja bitte“, sagte Zienkl mit nervös gepreßter Stimme. Ein Summen, Ächzen und Poltern war die Antwort über die Gegensprechanlage. „Wer sind Sie?“ fragte Zienkl nach. Er hörte etwas, was wie „Schweinzahn“ klang. Nach einigem Summen sagte eine weibliche Stimme im Befehlston: „Öffnen Sie, Zienkl!“ Er gehorchte sofort. Ach, hätte er es unterlassen!

Die Eingangstür sprang auf und herein purzelten Steine, Erde, Baumstümpfe, geknickte Sträucher und Wurzelwerk. Es war, als ginge eine Erdlawine in Zienkls Wohnzimmer nieder. Der Strom fiel aus, es wurde immer finsterer. Waren es Gewitterwolken, Fliegen- oder Heuschreckenschwärme auf der Sitzgarnitur? Endlich teilte sich die Finsternis, aus der wabbernden Urmasse trat ein uraltes, fettes, runzeliges, nacktes Weib heraus und sagte: „Ich bin die Steinzeit und bleibe in alle Zukunft hier.“ Sie breitete dabei die Arme aus, als wollte sie Zienkl an ihre Brust ziehen. „Irgendwie sieht sie der Schlitz ähnlich“, stellte Zienkl fest und floh vor ihren Miasmen. Sie roch nach den Verwesten aller Zeiten.

Die ungebetenen Gäste tanzten und sprangen herum. Zienkls Einrichtung ging dabei drauf. Die Heuschrecken entblätterten flugs die Grünpflanzen. Die Steine zerschlugen alle Lampen und Gläser. Die Steinzeit selber zerbrach das Mobilar mit einer Steinaxt, daß die Späne nur so flogen. Als alles krumm und klein gehauen war, wandte sie sich wieder Zienkl zu.

Zienkl dachte an Flucht. Nach vorne war ihm der Weg versperrt durch das ganze Geröll. Leider konnte er nicht durch das Picturewindow aussteigen, das konnte man seit der Installation der Klimaanlage nicht mehr öffnen. Er war gefangen. Er sammelte sich und stand wie ein Mann: „Sie verlassen augenblicklich mein Haus, oder ich rufe die Polizei.“ Die Steinzeit lachte hintergründig, sumpfig gurgelnd: „Es ist kein Mensch mehr in der Stadt, sie wohnen alle wieder draußen in Höhlen, seit Wochen.“

Zienkl dachte scharf nach. Ja, irgendetwas war ihm merkwürdig erschienen in der letzten Zeit, jetzt wußte er, was es gewesen war: daß er nämlich keiner Menschenseele begegnet war. Da aber faßte ihn die Steinzeit am Kragen und mit der ungeheuren Kraft ihrer bemoosten Brüste zerquetschte sie ihn.

Frau Schlitz war ein wenig außer Atem, als sie nach Hause kam. Sie stellte das Goldfischglas mit der Karausche in die Küche und ging wieder ins Vorzimmer, um ihren Mantel auszubürsten. „Daß diese Schmutzwäsche immer in aller Öffentlichkeit gewaschen werden muß“, klagte sie, und dachte dabei an ihre nationale Vergangenheit. Dann wandte sie sich ihren vereinsinternen Schwierigkeiten zu. Es stellte sich heraus, daß sie schleunigst zu einer Sitzung mußte, bevor ihre Organisation noch ihren Ausschluß beschließen konnte.

Herr Schlitz war zerstreut. Er war ein sehr vernachlässigter Ehemann. An diesem Abend öffnete er zum wiederholte Male den Kühlschrank und fand nichts als ein Packerl saurer Milch und ein paar verschrumpelte Karotten vor. Zum Ausgehen war es zu spät. Dann aber fiel sein Blick auf den Fisch, der am Küchentisch lag. Es war die besinnungslose Karausche, der das Glas zu eng geworden und die herausgesprungen war. Herr Schlitz verspeiste sie kunstlos gebraten, halbroh und ohne daß er wußte, daß es sich hierbei um das jüngste Fischgericht handelte.

Am nächsten Tag platzte die ganze Welt aus ihren Nöten. Die Bomben fielen überall hin und ließen nichts zurück. Der Vorgang löste so manches Problem. Die Hasenkatze hatte keine sexuellen Schwierigkeiten mehr. Zwiřinek brauchte keinen neuen Lebensstil. Seine Frau Helga starb einsam, aber nicht allein. Den Bräutigam des Stubenmädchens zwickten Zwiřineks Anzüge nicht länger. Zienkl kam um den Gang zum Analytiker herum und Frau Schlitz mußte nicht die Scheidung einreichen. Die Karausche wäre sowieso verstorben. Es war aber schade, daß Österreich nicht vorher das Jahr Pause gemacht hatte.

In der Untergrundstation der Linie U-3 am Ballhausplatz befanden sich die Mitglieder der österreichischen Bundesregierung als die einzigen Überlebenden der ganzen Welt. Wieder erwies sich der Weitblick des Kanzlers, der durch die Bestellung der Staatssekretärinnen den Fortbestand der Menschheit in Aussicht gestellt hatte. Es erhob sich die Frage, ob die Fortpflanzung Aufgabe der jeweils zuständigen Minister sei, oder ob in einem solchen Fall ressortübergreifende Kompetenzüberschreitungen angezeigt wären. Der Kanzler erklärte sich in der Frage als befangen. Es wurde eine Untersuchungskommission ins Leben gerufen. Sie konnte sich solange nicht einig werden, bis alle Damen in die Jahre gekommen waren. Dies war der letzte große Regierungswechsel oder der wirkliche Weltuntergang.

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