FORVM, No. 356/357
August
1983

Alles gefälscht!

Eine Medien-Groteske, das Groteske der Medien und die Artung des journalistischen Wesens

Wer den Schaden hat, trage auch den Spott! Nur ein Verblendeter konnte an die Echtheit glauben. Dennoch verstand ich sie zuerst nicht ganz, die Erschütterung, den Arbeitskonflikt, den Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit. Ich reagierte mit Ironie, und versuchte, das Chaos medialer Turbulenzen, deren Ausläufer mich erreichten, assoziativ zu ordnen.

Fälschungen

So sagte ich mir, es sei doch ein gutes Zeichen, wenn diejenigen, unter deren Herrschaft seinerzeit Bücher verbrannt wurden, nun solche schreiben lassen — seien sie auch noch so primitiv. Da ich schon seit Jahren nicht mehr zum Friseur gehe (wo die Periodika aufliegen), hatte mir mein Freund aus der Stadt das renommierte Magazin geschickt. Ich war animiert, und begann sogleich mit der Fälschung meiner eigenen Tagebücher. Schließlich sind einige Millionen Honorar kein Pappenstiel. Aber dann, nach dem Skandal, schwanden meine Hoffnungen dahin.

(Meine Fälschungen wären wirklich echt gewesen: Papier und Tintenblei stammen noch aus meiner Schulzeit im Dritten Reich, kein Stückchen Nylon ist dabei. Ökologisches Bewußtsein kann man von einem guten Fälscher schon erwarten.)

Prüfungen

Warum haben die Herausgeber die Notizen ausgerechnet einem Historiker zur Prüfung vorgelegt. Wäre als Fachmann nicht eher der Kunstkritiker zuständig gewesen? Handelt es sich bei den fraglichen Objekten doch um Graphiken mit literarischem Gehalt (der Name für derartiges lautet seit altersher: „Pseudepigraphik“). Die Texte sind wohl etwas tendenziös, denn der vorgebliche Autor stellt sich darin in günstigem Licht dar, oder was er dafür hält. Aber welcher Schriftsteller tut dies nicht?

Der Kotau vor dem noch lebenden Sportflieger, den sich die Herausgeber leisteten (zum Ausgleich teilten sie des Autors Aversion gegen Kleintierzüchter), war zwar ebenso degoutant wie die Erwähnung einer gewissen Scheinschwangerschaft, schien mir jedoch die FDGO nicht zu gefährden.

Keinesfalls rechtfertigte dies alles die maßlose Empörung der Linken. Wir Linke sollten — neben der wünschenswerten Kritik — Disziplin üben, vor allem dort, wo es um Solidarität mit Leuten aus der Branche geht! Besonders unsere jungen Kollegen, diese Tschapperln, mögen das beherzigen! Wovon rede ich eigentlich? Erfreulicherweise war die Herkunft der Tagebücher derart gut arrangiert, daß sie unseren geliebten Pluralismus widerspiegelt. So stammen die Texte möglicherweise aus Kreisen, mit denen man sich nach so vielen gemeinsamen Jahren schlußstrichendlich versöhnen sollte. Kein Grund also für Menschenjagd und eine Medienjustiz, die nur der Selbstprofilierung der Verfolger dienen soll! (Paradoxerweise verdächtigt man die Empfänger der Fälschungen, Staatsgeheimnisverräter zu sein.)

Ein Teil der Graphiken wurde (wahrhaft wiedervereinigungs- und europabewußt, wenn auch unter Wahrung hygienischer Distanz) in der DDR übergeben, einem konservativen östlichen Staat. Was sichtlich mit dem einkaufenden konservativen westlichen Verlag harmoniert. Vielleicht kam ein anderer Teil aus dem neutralen Geburtsland Österreich, das damals schon auf leisen Sohlen den Weg zu einer inzwischen voll ausgebrochenen nationalliberalsozialistischen Koalition eingeschlagen hatte.

Änderungen

An die Öffentlichkeit gelangt ist das umstrittene Produkt mithilfe einer aus Rechten, Linken und Neutralen zusammengesetzten Chefredaktion eines prononçiert fortschrittlich-liberalen Blattes. Inwiefern durch den Zuzug von zwei profiliert konservativen Blattmachern eine Änderung dieser Linie zu befürchten war, ist schwer zu verstehen. Ich will mich darüber auch gar nicht mokieren. Vielleicht wäre die Konzentration des bürgerlichen Elements zu stark gewesen. Glücklicherweise konnte dann durch den Verzicht des Vertreters eines kapitalen Christentums das labile Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Groß war die Erleichterung!

In der Publizistik wie in der Politik muß auch die Kasse stimmen. Zwar nahmen die Herausgeber den Mund voll mit ihrem Wunsch, eine ganz neue Phase deutscher Geschichtsschreibung einzuläuten (wo es doch bloß schlechte rechte Literatur war), tatsächlich aber drehte sich alles ums Geschäft. Deshalb auch die Geheimniskrämerei den eigenen Mitarbeitern gegenüber.

Was wäre denn passiert, wenn das Vorhaben zu schnell an die Öffentlichkeit gedrungen wäre? Die Antwort darauf ist der reinste Hohn: Dann hätte die Konkurrenz das Rennen gemacht ...

Wer freilich bei diesem Aufsitzer der eigentliche Gewinner ist, wissen wir noch nicht. Ist’s der zeitgeschichtliche Reporter oder der Kuriositätenhändler, oder sind es gar die Nibelungen? Sind Vermutungen, die ganze Affäre verfolge auch den Zweck, ein Presseorgan im Hinblick auf den erwarteten „heißen Herbst“ auszutricksen, von der Hand zu weisen? Aber ein solches Sprachrohr solcher Kräfte war das Blatt doch nicht?

Wir Schreiber vom Tag

Genug! Allen Entschuldigungen und Erklärungen zum Trotz bleibt ein massives Mißtrauen zurück, das sich direkt gegen uns Journalisten richtet. Warum eigentlich nicht? Auch wir sind, wie man sagt, nur Menschen, und diese soll man mit Vorsicht genießen. Denn jeder Mensch trägt (nach dem Tiefenpsychologen Lipot Szondi) einen bösen Doppelgänger mit sich, der im Hintergrund der Triebdrehbühne nur darauf lauert, sich auch einmal im Rampenlicht auszutoben. Im gesellschaftlichen Leben macht er sich bei der Berufswahl geltend („Operotropismus“).

So sind Fleischhauer und Chirurgen die geborenen Sadisten, Feuerwehrleute verhinderte Brandstifter, Polizisten und Juristen sozial angepaßte Ganoven, Politiker verkappte Paranoiker, die Philosophen der Popper-Richtung Querulanten, Psychiater schizophren.

Alle Kreter lügen sagte der Kreter

Und wir Journalisten? Liegt uns das Flunkern und Fälschen in den Genen? Wäre dem so, sollten wir dann nicht das Publikum in ähnlicher Weise vor uns warnen, wie dies der Kreter des Epimenides mit so zweifelhaftem Erfolg getan hat?

Phänomenologisch gesehen gleicht der Journalist einem Äffchen, das überwach alles registriert, was um ihn herum vorgeht, und das einmal hierhin, einmal dorthin klettert, um sich einer kleinen Nuß oder eines leckeren Insekts zu bemächtigen. Man müßte also annehmen, daß den Journalisten besondere Realitätsnähe und Wahrhaftigkeit im Dienste der Lebenserhaltung auszeichnet (freilich ist spätestens seit Nietzsche philosophisch bewiesen, daß Lebensförderlichkeit und Wahrheit zwei völlig verschiedene Dinge sind). Vielleicht wird diese Unruhe aber vom Hintergänger erzeugt, der sich in Szene setzen will?

Alle Gänse haben kurze Beine sagte die Ente

DerJournalist ähnelt auch jenen vielgerühmten Gänsen, die lauthals schnattern und schreien, wenn sich in ihrem Gemüt auch nur die leiseste Ahnung einer Gefahr regt. Er ist, wie Soziologen sich auszudrücken pflegen, ein Indikator und Multiplikator. Anders gesagt: Zwischen Wahrnehmung und Motorik liegt beim Journalisten nur ein kurzer Weg. Langes Überlegen ist seine Sache nicht, seine ausgeprägtesten Organe sind das Ohr, das Mundwerk und die Schreibhand. Dies erklärt manches, doch dürfte ein noch tieferes Verhängnis obwalten.

Der Stachel im Auge des Nu

Der Journalist (speziell der Reporter) hält sich hautnah am „Pulsschlag der Zeit“. Ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Zeit ist immer schneller als er, sie läuft ihm davon, ist schon an jenen Zielen präsent, die er keuchend mit heraushängender Zunge und letzter Kraft erreicht. Der Leser erinnere sich an die Fabel vom Hasen und vom Igel! (Nach uraltem Glauben schläft der eilige Hase sogar mit offenen Augen. Gemeint ist damit der Himmels- und Zeitgott der Nomaden, der sich in Gestalt seiner Augen, der Zwillinge Sonne und Mond, wie zwei Uhrzeiger vor dem Zifferblatt der Sternbilder bewegt.)

Ich beneide sie nicht, meine hektischen Kollegen, die galoppierenden (um nicht zu sagen hoppelnden), rasant auflistenden, sich verhaspelnden und dabei noch den Anschein geschäftsmäBiger Objektivität wahrenden Berichterstatter. Zeitungen, sagte Schopenhauer, sind die „Sekundenzeiger der Weltgeschichte“ ...

Wie die Fabel lehrt, ist das Unglück des Hasen jedoch Ergebnis einer fundamentalen Täuschung: Die Igel, gewitzte Anhänger von William James und dessen „Blockuniversum“, rühren sich real gar nicht vom Fleck, sondern tun dies nur in Lampes Vorstellung. Dieser, ein läppischer Begriffsrealist, erschafft sich aus der verteilten Vielheit eigenschaftsgleicher Individuen das Phantom eines einzigen konkreten Tieres, das sich wie im Film durch Raum und Zeit bewegt. Was das Löffelohr für Zeit hält, erzeugt es, indem es ihr nachläuft, selbst. (Im Alten Orient bestimmten die Vorläufer unserer Poker- und „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spieler durch das „Augenwürfeln“ und die „Hasenjagd“ auf den heiligen Orakelspielbrettern ihren persönlichen Glücksgott, ihren Lebenslauf, ihre eigene Weltlinie voraus.)

Erotischer Zyklus
Nr. 20 42 x 60 Bleistift 1979

Der Balken im Nullpunkt

Wir Menschen leiden unter dem Zeit-Handikap. Simulation mithilfe von Symbolen soll den Ausgleich schaffen. Unser Denken ist eine vereinfachende symbolische Vorwegnahme, welche die Not zur Tugend macht: Je weniger Einzelheiten er beachtet, umso schneller kommt der Langsame voran. Aber umso unsicherer wird die Prognose. Um zu besseren Ergebnissen zu gelangen, verwendet man bei (vorausberechnenden) Maschinen- und Raketensteuerungen sowie bei der EDV Real-Time-Verarbeitung im Computer Mikroelemente, die eine Billiarde Umschaltungen pro Sekunde ermöglichen, dies aber nur bei Temperaturen wenig über dem absoluten Nullpunkt. Lebenden Systemen wie den Journalisten ist eine solche Vorgangsweise naturgemäß nicht gegeben. (Ein schlauer Astro-Hase wird sich daher in ein Raumschiff verfügen, und dieses auf Lichtgeschwindigeit bringen. Dann bleiben Einsteins Uhren stehen, und aus dem Hasen ist ein Igel geworden.) Auf dem Gebiet der — naturgemäß unsicheren — Prognose betätigt sich die journalistische Elite. Sie besteht aus den (im Vergleich zum Arbeitsaufwand) gut bezahlten Kommentatoren und Kolumnisten. Die Voraussagen dieser Gruppe beruhen auf den hastigen Recherchen der Berichterstatter und einer Methode, die Ausfluß sogenannter „langjähriger Erfahrung?“ ist. Dabei handelt es sich um eine Mischung von spontanen Intuitionen mit Analogieschlüssen und induktiven Verfahrensweisen, die einer kritischen Rationalität durchwegs suspekt erscheinen müssen. Ein Vergleich mit der Wettervorhersage drängt sich auf.

Dahinter steckt immer ein Kopf & ein Adler

Ergänzend sei noch erwähnt, daß schon auf dieser Ebene der journalistischen Betätigung die Neigung zur Selbstgenerierung der Information, also zum Verzicht auf empirische Daten konstatiert werden kann. Wenn sich z.B. ein Kommentar auf „informierte Beobachter“ beruft, so steckt dahinter meistens die Person des Kommentators selbst. Auch die Übung vieler Journalisten, sich gegenseitig zu interviewen, gehört hierher.

Die ständig wachsende Geschwindigkeit der Medienapparate ist eine Funktion der Anzahl miteinander konkurrierender Medienfirmen und der immer größer werdenden Masse ihrer hungrigen Mitarbeiter, des Medienproletariats. Zeit ist Geld!

Da diese Geschwindigkeit zwar groß genug ist, um „Zeit“ zu erzeugen, aber viel zu klein, um endlich an die Realität heranzukommen, verschwindet der laufend produzierte Unsinn genau so schnell wieder, wie er publiziert wurde (was Altpapierverwertung und Printmedien an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit bringt). Dennoch bleibt davon ein hochwirksamer unbewußter Rest, eine Art Extrakt, zurück.

Die Entstehung der Zeitgeschichte

Kommentatoren und Kolumnisten haben nämlich die Angewohnheit, ihre abgedruckten Elaborate auszuschneiden und in große Alben zu kleben. Wenn sie sich um einen besser bezahlten Posten bewerben, legen sie diese Sammlungen zum Nachweis ihrer Befähigung vor. Obwohl ihre Prognosen nicht eingetroffen sind (die Texte also für falsifiziert gelten müssen), stimmt doch ihre Gedankenführung mit dem Weltbild des Medienbetriebs überein, denn dieses baut sich aus dem Zeitungsarchiv auf, in das die vorgelegten Texte schon längst integriert sind. Die Bewerber werden daher mit offenen Armen aufgenommen.

So entsteht mit der Zeit eine Wirklichkeit eigener Art aus professionell formulierten perspektivischen Verzerrungen, die sich infolge ständiger Benützung durch Berichterstatter und Kommentatoren weitertradieren, variieren und zu nicht mehr widerlegbaren Phantasmen auswachsen. Zuletzt wird die Welt tatsächlich so gewesen sein müssen, wie sie sich in den Medien darstellt. Der Schritt von der Interpretation der Welt zu ihrer verbalen Veränderung liegt nahe ...

Auf seinem Lauf durch die Welt gerät der Journalist auch in Zeitlöcher, in denen absolut nichts los ist, er also nicht jene Ordnung der Dinge findet oder herstellen kann, über die informiert werden zu wollen die Öffentlichkeit präpariert ist. In solchen Situationen bedauern es manche Berichterstatter, daß sie ihre Leser auf Neuigkeiten konditioniert haben, wo doch die Wiederholung des Alten auch (ästhetisch) reizvoll sein kann. Aus dieser Schwierigkeit gibt es zwei Auswege. Erstens muß das Publikum sein Denken, Glauben und Fühlen dem Weltbild und der Zeitauffassung der Medien angleichen. So erwähnten bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage die Konsumenten der ORF-Nachrichtensendungen zwar (noch) das Übergewicht provinzieller parteipolitischer Diskurse, bewerteten aber diese Ausstrahlungen im ganzen (schon) sehr positiv.

Zweitens muß der Gegenstandsbereich der Berichterstattung so erweitert werden, daß er mit der Allklasse zusammenfällt. Da werden dann keine Tabus mehr akzeptiert, das Trivialste, Banalste, ja Fadeste ist berichtenswert, sofern es nur passiert ist. Qualitative Kriterien sind unerheblich. Was der beliebte Fußballstar über ökonomische Krisen zu sagen weiß, wird ebenso gewissenhaft registriert und weiterverbreitet wie die Meinung des beliebten Bankers über Sportereignisse.

Nr. 21 42 x 60 Bleistift 1979

Wir nagen am Faden und hängen am Garn

Unter Information verstehe ich eine Anordnung von Bekanntem (Redundanz), durch die Neues („Information“ im engeren Sinn) mitgeteilt wird. Je länger ich Radio höre (das Televidieren habe ich schon aufgegeben), umso öfter ertappe ich mich dabei, wie ich in einen Trancezustand abgleite, aus dem heraus ich den Sprechern ihren Text vorsage. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß die Nachrichten sich schon wochenlang kaum mehr ändern (und ich auf Kurzwelle oft auch ausländische Stationen abhöre, von denen in verschiedenen Sprachen immer dieselben Phrasen dargeboten werden). Aber erstaunlicherweise tritt dieses Phänomen jetzt schon bei Meldungen auf, die eigentlich neu sein sollten.

Mein Mißtrauen wird gedämpft, wenn ich auf die fröhliche Beschwingtheit in der Stimme des Ansagers achte, also auf das Signalisieren von Aktualität. Es verstärkt sich, wenn ich merke, wie die Nachrichtensprecher, ja sogar die Kommentatoren in ihren als „Analysen“ deklarierten Couplets ins Leiern kommen und — wie die amerikanischen Disc-Jockeys — von Mal zu Mal schneller werden.

Sind wir etwa schon so weit, daß uns die Medien statt mit Informationen mit Ritualen versorgen, in denen die realitätsbedingten „Störungen“ immer mehr von Sprachkombinatorik überwuchert werden, bis der dünne Faden zur Wirklichkeit schließlich — für Hörer und Leser unmerkbar — gänzlich abreißt? Die Täuschung wäre dann vollkommen.

Jubilate — Gedenken statt Denken

Für ein bedenkliches Symptom halte ich auch die Anhäufung von Gedenksendungen. Je länger die Welt läuft, umso größer wird notwendigerweise der Fundus an Vergangenem, an das man sich (wirksame Mnemotechnik vorausgesetzt) erinnern kann. Auf das bereits Geschehene muß nicht mehr gewartet, es kann jederzeit (re-)aktualisiert werden. Der Besitzer eines umfangreichen und gut sortierten Archivs bringt es zustande, die Jubiläen seiner „Weltchronik“ mindestens ein Jahr voraus zu fabrizieren.

Als kürzlich der ORF sich am „128. Gedenktag von Hans Christian Andersen“ begeisterte, schaltete ich schockiert mein Radiophon ab. Scheinbar gibt diese Reaktion den dafür Verantwortlichen recht, denn das Unerwartete ist wahrhaftig „Information“. Aber wir waren es bisher gewohnt (Redundanz!), nur bestimmte Ordinalzahlen (jedes 5. bis zum hundertsten, dann jedes zehnte oder 25. Jahr) für Rückblicke zu nutzen. Das gab dem zu Erinnernden eine gewisse Festigkeit, eine Eigenmacht über den Zahn der Zeit. Die Aufhebung dieser Ordnung liefert die Memoria der Willkür ihres Benützers aus. Das war eigentlich die Information, die mir an jenem Tag mitgeteilt wurde. Eine Welt nach medialem Belieben ist ein Ziel, das journalistischer Hybris schon vorschweben mag. Dazu gehört auch eine selbst fabrizierte Vergangenheit. Archivar, Geschichtsreporter und Pseudepigraphiker werden zu Herrgöttern, Schöpfern Himmels und der Erde ...

Die wahre Ware Lüge ist ihr Gegenteil sie selbst

Diesmal war der Schwindel noch zu dilettantisch aufgezogen. Aller Anfang ist schwer. Man hatte es verabsäumt, die Historikerzunft auf Linie zu bringen. Der berühmte Sachverständige lieferte zwar das begehrte Gutachten, aber seine Kollegen rebellierten. Erhellend ist die Ausrede des Blamierten, er habe nicht angenommen, daß sich ein seriöses Blatt mit Fälschungen abgibt. Circulus vitiosus! (Das Honorar hat er aber genommen.) Diesmal ging es auch um ein politisch sehr kontroverses Thema. Würden in Fragen mehrheitlich „gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit“ kritische Köpfe der aus den Kübeln der Medienmacht über sie gegossenen Schmutzflut ebenso heil entrinnen? Bald kommt das Jahr 1984 mit der Parole „Wahrheit ist Lüge“. Wird dann alles weniger gefälscht sein?

Dies ist eine Groteske — die meisten Kollegen sind ehrlich. Schuld war der wahrhaft gelogene Doppelgänger — der Mann im Vordergrund schämt sich seiner Ware, der Tat. Vielleicht war’s bloß ein einfältiger, allzu unvorsichtiger Versuch von „Vergangenheitsbewältigung“. Oder die erste Vermutung stimmt: ein künstlerisches Experiment. Denn eine so wahrhaft dumme Geschichte ist, wenn überhaupt, nur mehr (flüstert mir Nietzsche zu) „ästhetisch zu rechtfertigen“.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)