FORVM, No. 196/II
April
1970

Altern in der Leistungsgesellschaft

Simone de Beauvoir, seit 30 Jahren Gefährtin Jean-Paul Sartres, Autorin philosophisch-anthropologischer Erfolgsbücher („Das zweite Geschlecht“, „Der sanfte Tod“, „Die Mandarine von Paris“), vollendete eben ihr neuestes Werk, „La vieillesse“.

Sie sind 62, was denken Sie über das Alter?

S. de B.: Für die meisten Menschen ist das Alter ein Thema, das tabu oder zumindest unangenehm ist. Das reizt mich, ich bin der Ansicht, daß man darüber reden muß, gerade weil niemand darüber zu reden wagt.

Woran liegt das?

Die Leute denken leichter an ihren Tod als an ihr Alter. In einer Enquete unter sehr jungen Leuten wurde die Frage gestellt, wie man sich im Alter von 50 Jahren einen Tagesablauf vorstelle. Die Jungen antworteten, daß sie Professoren oder Ingenieure sein würden, die meisten Mädchen dagegen sagten: „Ich werde schon vorher sterben“ oder „Ich werde mich bis dahin umgebracht haben“, weil sie sich gegen den Gedanken wehrten, eines Tages alt zu sein. Insgesamt ist diese Weigerung beiden Geschlechtern gemeinsam. Männer und Frauen sehen im Alter ihren Niedergang (was in den meisten Fällen stimmt) und fürchten, daß sie im Alter zu Karikaturen ihrer selbst werden.

Ich kenne von befreundeten Fürsorgerinnen und aus persönlicher Erfahrung die traurige Situation der Alten in unserer Gesellschaft. Der Kontrast zwischen dem Schweigen und dem realen Elend reizt mich, diese Frage zu untersuchen. Man muß die Verschwörung des Schweigens brechen.

Es gibt gegenüber den Alten nur eine bestimmte Zahl möglicher Haltungen, die man im Lauf der Geschichte immer wieder findet, in primitiven wie entwickelten Gesellschaften. Gibt dies nicht denen recht, die sagen, das Alter sei Schicksal?

Es gibt in jeder menschlichen Situation einen Teil Schicksal. Das biologische Schicksal des Alters ist es, daß niemand dem organischen Verfall entgeht — folglich gibt es auch ein soziales Schicksal, denn der alte Mensch muß ab einem bestimmten Alter aus dem Produktionsprozeß ausscheiden. Aber wie in jeder menschlichen Situation wird auch dieses Schicksal vom ökonomischen und sozialen Kontext geprägt; die physische Schwäche des Alten erhält einen ganz verschiedenen Sinn, je nachdem, wie seine Position in der Gesellschaft ist.

Sind da nicht alle Lösungen für die Alten gleich schlecht?

Nein, es gibt Lösungen, die akzeptabel sind, z.B. in bestimmten primitiven Gesellschaften oder in historischen agrarischen Gesellschaften. Worum es vor allem geht, ist, zu vermeiden, daß ein Mensch so sehr verbraucht wird, daß er mit 60 oder 65 Jahren reif für den Abfallhaufen ist. Unabhängig von seinem Alter muß ihm die Möglichkeit geboten werden, sich in seinen Aktivitäten seiner organischen Situation anzupassen. In gewissen agrarischen Gesellschaften arbeiten die Bauern bis 85 Jahre; aber ab 65 reduzieren sie Schritt für Schritt ihre Aktivität. Dadurch gelingt es ihnen, bis in ein sehr hohes Alter aktiv zu bleiben, sich nützlich zu machen. Sie fühlen sich nicht überflüssig. Dies ist die beste Lösung.

Wenn das Alter ein metaphysisches oder jedenfalls biologisches und psychologisches Schicksal ist, dann ist es doch naiv, zu glauben, daß man dieser Tragödie durch die Änderung des sozialen Lebens begegnen kann.

Im großen und ganzen ist man auf der Rechten wie Linken mit mir darin einig, daß die Art, wie die Alten heute behandelt werden, ein Skandal ist. Dennoch gibt es einen Unterschied. Links liegt der Akzent auf ökonomischen und sozialen Beziehungen, rechts hält man das Alter lieber für ein metaphysisches Problem, das soziale für sekundär.

Gemäß Bastide („Soziologie der Geisteskrankheiten“) ist selbst der Altersschwachsinn, dem man bisher organische Ursachen zuschrieb, weil das Gehirn der Altersschwachsinnigen verkalkt ist, zum Großteil auf den Einfluß der Gesellschaft zurückzuführen. Die organischen Störungen werden durch psychosoziologische Bedingungen ausgelöst. Neun Zehntel der Altersschwachsinnigen müßten nicht schwachsinnig sein, wenn sie ein Leben lang anders behandelt worden wären; Bastide geht so weit, zu sagen, daß der Altersschwachsinn eine Folge der Lebensbedingungen ist, die die Gesellschaft den Alten bietet.

Eine Fürsorgerin berichtete mir von einem mittellosen Greis, der beide Beine verlor. Er war geistig noch ganz rege, hätte noch arbeiten können, wenn man ihm Beinprothesen gegeben hätte. Bei uns hat man unsinnigerweise erst nach fünf Jahren Anspruch auf diese Prothese. Bis dahin lag der Mann in einem Spitalsbett im Saal der Schwachsinnigen. Natürlich wurde er dort gleichfalls schwachsinnig.

Man erzeugt solcherart Alter. Das Alter ist im wesentlichen ein psychosomatisches Phänomen. Wenn man den Körper beeinträchtigt, indem man ihm jede Möglichkeit zur Aktivität, zum normalen Leben nimmt, beeinflußt man damit auch den Geist. Auch wenn man keinen Extremfall wie den des Beinamputierten nimmt, gibt es auch heute noch bei uns eine große Zahl von Alten, die sich keine Brillen kaufen können, wenn sie weitsichtig sind, keinen Hörapparat, wenn sie schwerhörig sind: Im ersten Fall können sie nicht lesen, im zweiten sind sie praktisch vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten.

Es stimmt, daß es eine unvermeidliche physiologische Rückentwicklung gibt, aber sie kann in hohem Maß kompensiert werden, allerdings nur in den wohlhabenden Schichten der Bevölkerung. Für die anderen schreitet dieser Verfall viel schneller fort, führt zu Depressionen, Charakterstörungen, Altersschwachsinn. Daher glaube ich, daß das Geld und folglich das soziale Niveau eine äußerst wichtige Rolle spielen.

Man muß also die Gesellschaft ändern, um den Alten zu helfen? Genügen nicht auch Reformen, ohne so weit zu gehen?

„Das Leben ändern“ ist ein Wort von Rimbaud, das im Grund genau dem Wort von Marx entspricht, wonach man „die Welt ändern“ müsse: Es geht nicht darum, das Leben auf spiritualistische Weise zu ändern. Das Leben ändern heißt im Grund die Welt ändern. Und ich glaube wirklich, daß man die Welt, die Gesellschaft, ändern muß. Ich meine dies ganz in marxistischem Sinn: Wenn man einen Menschen 40 Jahre lang wie eine Maschine behandelt hat, wenn man ihn verbraucht hat bis zur Erschöpfung, dann kann man ihn nicht einfach durch irgendeine etwas großzügigere „Alterspolitik“, wie es so schön heißt, wieder in Ordnung bringen: dazu ist es zu spät. Alle Untersuchungen zeigen, daß Menschen, die auf eine bestimmte Weise gearbeitet haben, die ihr Leben lang auf bestimmte Weise ausgebeutet worden sind, schon mit 55 bis 60 Jahren Greise sind, während ein Bourgeois, der ein angenehmes Leben geführt hat, mit 60 noch ein solider „älterer Herr“ ist. Wenn ein Mensch einmal verbraucht ist, ist dies nicht wiedergutzumachen: Jugend und Gesundheit kann man nicht zurückgeben.

Ich halte daher alle Reformen — Dörfer für die Alten, Altershygiene usw. — für völlig unzureichend. Ich will damit nicht sagen, daß man darauf verzichten und die Alten ihrem elenden Los überlassen solle, solange die Gesellschaft einmal so ist, wie sie ist. Es gibt sicher Dinge, die man verbessern könnte, selbst in dieser Gesellschaft. Aber wenn man nur den Profit sucht und der alte Mensch niemandem mehr Profit bringt, verläßt man sich auf die Nächstenliebe. Und die Nächstenliebe hat bekanntlich noch nie ein gesellschaftliches Problem gelöst.

Sie glauben also nicht, daß unsere Profitgesellschaft den Alten einen anständigen Lebensstandard sichern könnte, wenn sie sich dazu entschließt?

Ich bin keine Nationalökonomin, ich kann nicht sagen, ob die Gesellschaft, wie sie heute ist, den Alten das Doppelte oder Dreifache ihrer jetzigen Renten geben, Dörfer für die Alten bauen könnte usw., aber ich glaube, daß sie dies auf keinen Fall machen wird, weil dies niemandem Profit brächte, weil es eine ungeheuer große Belastung wäre, wie man sagt, und weil dies die Gesellschaft sprengen würde. Ich erinnere mich an einen führenden Beamten der Altersversicherung, der mir sagte: „Man muß Realist sein.“ In der kapitalistischen Sicht ist es unmöglich, „alle Forderungen“ zu erfüllen, z.B. das Pensionsalter zu senken und gleichzeitig die Pensionen zu erhöhen.

Glauben Sie nicht, daß die Alten selbst gegen dieses System opponieren könnten?

Die Alten sind immer konservativ, weil sie immer Angst haben. Ängstliche ziehen die bestehende Situation immer einer möglichen künftigen Situation vor. Die Alten werden niemals revolutionär sein. Sie stellen 25 Prozent der Bevölkerung dar, ein sehr großes politisches Potential, aber sie sind isoliert, zerstreut, kennen sich untereinander nicht. Menschen können jedoch nur handeln, wenn sie Gruppen bilden. Sie sind zwar 25 Prozent, aber unter der jüngeren, dynamischeren Bevölkerung verloren, unfähig zu gemeinsamer Aktion.

Kann man sie nicht organisieren?

Eine Organisation fällt nicht vom Himmel. Ich sehe zur Zeit keine Möglichkeit.

Die Technik entwickelt sich so rasch, daß Menschen sehr bald als „unverwendbar“ gelten. Was tun; wenn die Altersgrenze nicht mehr mit dem Beginn des Greisenalters zusammenfällt?

Es stimmt, daß das soziale und das biologische Alter heute nicht mehr zusammenfallen. Menschen von 40, 45 sind von der Organisation, in der sie arbeiten, so ausgelaugt, daß sie „alt“ sind. Auffallend ist, daß sie ab diesem Zeitpunkt eine Greisenmentalität zu entwickeln beginnen, sich in sich seibst zurückziehen, rachsüchtig und reizbar werden — mehr noch als die Alten, weil sie die Tatsache ihrer Ablehnung viel stärker als Ungerechtigkeit empfinden.

Zur selben Zeit, da die Medizin den Menschen längeres Leben ermöglicht, gibt man ihnen immer weniger Möglichkeiten, sich in die Gesellschaft zu integrieren und sich nützlich zu fühlen. Auch für dieses Problem könnte man Abhilfe schaffen, und in manchen Betrieben geschieht dies auch. Wenn man den Menschen mit fortschreitendem Alter und fortschreitender Technik eine Umschulung ermöglichen würde, wobei man früh beginnen müßte, wenn der einzelne wirklich noch lernen, sich informieren, sich anpassen kann, dann sähen die Dinge anders aus. Selbst 60jährige könnten sich noch auf neue Aufgaben umstellen und Gewinn davon haben.

Glückliches Alter wie bei Cicero und Seneca?

Alter kann tatsächlich in einzelnen Sonderfällen Gewinn bringen. Aber keineswegs den Gewinn, von dem Cicero und Seneca sprechen, nämlich Loslösung von den Bedürfnissen des Körpers, Freiheit von der Leidenschaft usw. Ich glaube vielmehr: wenn das Alter dem Menschen etwas bringt, dann bleibt er auch als alter Mensch leidenschaftlich engagiert, setzt sich weiterhin für Ziele ein. In Indifferenz gegenüber dem Tod oder der Meinung der anderen faßt er den Mut, die Kraft und die Fähigkeit, die Gesamtheit der menschlichen Situation zu verstehen, wie nur jemand, der eine große Wegstrecke schon hinter sich gebracht hat. Ich meine also nicht, daß der alte Mensch sich durch Weisheit und Gelassenheit auszeichnet, wie es Cicero behauptet. Im übrigen kann nur eine geringe Zahl von Privilegierten diese Vorteile genießen. Cicero interessierte sich nur für die Privilegierten; in einem Nebensatz bemerkt er einmal, daß alt und arm sein nur schwer zu ertragen sei. Die armen Alten interessieren ihn nicht. Alles, was er beweisen wollte, war, daß man den Senatoren folgen müsse.

Sie gehören doch selbst zu den Privilegiertem und haben genug Geld, um leben zu können, ohne zu arbeiten?

Ja, und ich empfinde meine Lage nicht sehr viel anders als vor 10 Jahren. Im Augenblick habe ich das Gefühl, daß 65 Jahre dasselbe bedeutet wie 55 Jahre. Hinsichtlich des Alters gibt es eine gewisse Stagnation. Da ich einerseits zu arbeiten habe, da mich anderseits die Welt interessiert, da meine Neugier so wach geblieben ist wie früher und da ich umgeben bin von Freunden, fühle ich mich sehr, sehr privilegiert. Ich spüre die Last der Jahre nicht.

Sind Sie glücklich?

Ja, das bin ich. Nicht daß man nicht oft von Schrecken befallen wird, wenn man erfährt, was in der Welt vor sich geht, die Foltern in Brasilien, in Mexiko, der Krieg in Vietnam, die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei, die Ausrottung der Biafraner. Nicht daß die miese Regierung, die wir haben, mich nicht zutiefst abstößt. Aber letztlich ist Frankreich trotz der schändlichen militärischen Intervention in Tschad heute eher ohnmächtig als schuldig. Und da mein Privatleben immer wolkenlos war, da ich mich für die Foltern und Massaker nicht direkt verantwortlich fühle und da es um einen Kampf auf Weltebene geht, in dem die unterdrückten Völker langsam und hart ihre Unabhängigkeit gewinnen, stimmt es, daß ich in gewisser Weise glücklich bin.

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