FORVM, No. 439-441
Juli
1990

„Arbeit sühnt alles!“

Der nachstehende Brief an Hans Thirring datiert vom 19. März 1949. E. F., unermüdlich, seine Zeitgenossen aufzuklären, wie alles wirklich ist, war höchst beeindruckend und hat seine stalinistischen Irrtümer später, in autobiographischen Geständnissen, selbst gegeisselt wie sonst kaum einer. Den höchst beeindruckenden Gestus überlegenen Wissens hat er sein Leben lang unverändert bewahrt.

Lieber Herr Professor!

Weil ich Sie als einen Mann kenne, der sich durch seinen Willen zur intellektuellen und moralischen Gerechtigkeit wohltuend von vielen Zeitgenossen unterscheidet und weil ich Ihnen eine aussergewöhnliche Achtung entgegenbringe, haben mich einige Absätze Ihrer Arbeit geradezu erschüttert. Wie darf sich ein Mensch Ihres Formats durch die landläufige antisowjetische Propaganda so weit beeinflussen lassen, daß er grobe Fälschungen und Entstellungen auf Treu und Glauben hinnimmt?! Wie darf man ein grandioses geschichtliches Phänomen wie die Sowjetunion — mag man sie anerkennen oder ablehnen — mit ein paar hingeworfenen Bemerkungen, die zum grössten Teil aus trüber Quelle geschöpft sind, abzutun versuchen? Sie wissen, daß auch ich mich nach besten Kräften bemühe, objektiv zu sein, und dass meine tiefe Bewunderung für die Sowjetunion mich durchaus nicht dazu führt, sie zu idealisieren, Härten abzustreiten, Unschönes zu beschönigen — und ich bin stets bereit, auch die schärfste sachliche Kritik ernstzunehmen und gewissenhaft zu überprüfen. Aber es ist unstatthaft, sich auf Zeugen wie Köstler oder gar wie Krawtschenko zu berufen, wenn man in seiner Kritik sachlich bleiben will. Es unterläuft Ihnen dabei die Unrichtigkeit, Köstler als ehemaligen Bolschewiken zu charakterisieren, Köstler war niemals Bolschewik, niemals Kommunist, er war vorübergehend ein „Sympathisierender“ wie Malraux und wie manche andere. Er hat in Spanien eine ungemein zweideutige Rolle gespielt, was Ihnen auch jeder Nichtkommunist bestätigen wird, der die Dinge aus der Nähe kennt. Wenn Sie die literarische Entwicklung dieses schriftstellerisch unzweifelhaft begabten Hysterikers verfolgen, sein haltloses Hineintaumeln in den vollkommenen Nihilismus, werden Sie selber feststellen, daß es kaum möglich ist, ihn ernstzunehmen. Viel viel schlimmer noch ist der Fall Krawtschenko. Dass er niemals Kommunist war, hat er jetzt vor Gericht selber zugegeben und erklärt, sein ganzes Leben in der Sowjetunion sei eine einzige Lüge gewesen — und dieser Lügner soll jetzt plötzlich die Wahrheit sagen, dieser Lügner, der nicht einmal imstande war, sein Buch selber zu fabrizieren, sondern dazu eines amerikanischen Journalisten bedurfte? Ist Ihnen nicht das peinliche Schweigen der antisowjetischen Presse über den Pariser Prozess aufgefallen, in dem Krawtschenko sich keine Lorbeern zu holen vermochte? Es gibt doch schliesslich andre Zeugen als diese unappetitlichen Eintagsfliegen der antisowjetischen Propaganda; es gibt das Buch der Webbs, dieser grossen englischen Gelehrten, die weit davon entfernt waren, Kommunisten zu sein, es gibt das Buch des Dekans von Canterbury, dessen Makellosigkeit auch der erbittertste Gegner nicht anzweifelt, es gibt das Buch des ehemaligen amerikanischen Gesandten in Moskau „Mission at Moskau“ und man kann doch nicht einfach über alle diese ernsten und gründlichen Werke hinwegsehn, wenn man zu einem gerechten Urteil gelangen will.

Und nun zu ein paar sachlichen Unrichtigkeiten: Da ist vor allem die Frage der Arbeitslager. Der Strafvollzug der westlichen Welt ist das Gefängnis mit seinem grauenhaften Zellensystem, mit seiner Einzelhaft, mit seiner erzwungenen Untätigkeit der Inhaftierten, die dadurch jeden Rest von Menschlichkeit einbüssen (lesen Sie doch irgend einen bürgerlichen Bericht über den Strafvollzug in Sing-Sing!). In der Sowjetunion gibt es keine Gefängnisse (ausser für Untersuchungshaft); der Strafvollzug ist das Arbeitslager. Ich selber kenne einige dieser Arbeitslager, über deren Toren die Aufschrift steht: „Arbeit sühnt alles!“ Das Leben in diesen Lagern ist hart, aber es ist ein Leben, und es ist sinnvoll, denn der Inhaftierte arbeitet produktiv, er hat seinen Klub, sein Kino, seine Bibliothek, er ist ein Gefangener, aber er ist ein Mensch! Wer das sowjetische Arbeitslager und das „demokratische“ Gefängnis kennt — lieber Herr Professor, jeder Strafgefangene hier wäre glücklich, würden ihm die Bedingungen eines solchen Arbeitslagers geboten.

Weiter: Sie sprechen von der „Machtergreifung durch eine kleinere Menschengruppe, die die Führung über einen genügend grossen bewaffneten Haufen erlangt haben!“ Aber lesen Sie doch die Geschichte der russischen Revolution, meinetwegen nicht in einer kommunistischen, sondern in einer kenntnisreichen bürgerlichen Darstellung (etwa in jener des englischen Korrespondenten Price) und Sie werden sehn, dass das alles nicht stimmt, dass Lenin ein Gegner jedes Putsches war, dass er zur Revolution erst schritt, als seine Partei die Mehrheit in den Sowjets hinter sich hatte, dass nicht die Bolschewiki, sondern ihre Gegner den Bürgerkrieg entfesselten (übrigens hat Kornilow schon gegen die bürgerlich-demokratische Revolution, gegen Kerenski, losgeschlagen, und gar nicht erst auf die sozialistische Revolution gewartet!). Man mag die Revolution grundsätzlich ablehnen, aber man darf sie doch nicht so vereinfachen wie in einem amerikanischen Film!

Und was würden Sie sagen, wenn ich Amerika in Bausch und Bogen als einen „Polizeistaat“, als eine „Diktatur der Polizei“ charakterisierte, als Beweis das abscheuliche Komitee gegen unamerikanische Tätigkeit, die Hexenprozesse gegen Kommunisten, denen man nichts andres vorzuwerfen hat als dass sie Kommunisten sind, die Aktionen des Ku-Klux-Klan und ähnliche anmutige Elemente der Demokratie anführend. Ich werde nicht ein solches Urteil in Bausch und Bogen fällen aber es ist noch wesentlich ungerechter, die Sowjetunion als „Polizeistaat“ zu brandmarken und sich dabei auf Köstler und Krawtschenko zu berufen, ohne wirkliche Kenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Formen der Betriebsdemokratie usw.

Und nun, lieber Professor, was soll ein Russe sagen, der solches liest? Was würde ein Engländer sagen, wenn man das Urteil über England auf den Bericht eines desertierten Offiziers (etwa wie des famosen Lord How-How im Hitlerrundfunk) und auf das Urteil eines ungarischen Journalisten (das ist Köstler), der mit einer antienglischen Macht zusammenarbeitet, aufbauen würde? Ich kenne Sie gut genug, um Ihren makellosen Charakter richtig einzuschätzen — aber wie wollen Sie Widerhall auch nur bei einem einzigen anständigen Sowjetmenschen finden, wenn Sie als Kronzeugen einen Menschen anführen, den jeder Russe als Landesverräter zutiefst verachtet? Und gerade Männer wie Sie sollten darauf Wert legen, im Westen und im Osten geachtet zu sein, als ein Mann zu gelten, dessen Wort Gewicht hat. Durch solche unrichtige und zum Teil wohl unüberlegte Darstellungen durchkreuzen Sie sich viele Möglichkeiten Ihrer eigenen Friedensarbeit, nähren wider Willen Konflikte, wo Sie Verständigung anstreben.

Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, daß ich so offen spreche, aber meine Kritik ist nur der Ausdruck der tiefen menschlichen Achtung, die ich Ihnen entgegenbringe, und des Wunsches, wenigstens die besten Männer meines Volkes frei zu wissen von jener Einseitigkeit, die jede gemeinsame Arbeit im Dienste einer grossen Sache so sehr erschwert.

Mit den herzlichsten Grüssen bin ich Ihr

Ernst Fischer
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