FORVM, No. 192
Dezember
1969

Auschwitz auf lateinisch

Am 20. Oktober 1969 wurde Pendereckis Auschwitz-Oratorium „Dies Irae“ bei den „Musikprotokollen“, dem Musikfest des sogenannten Steirischen Herbstes, in Graz aufgeführt. Die Aufführung war eine doppelte Niederlage. Ich spreche nicht nur von der widerwärtigen Pseudohieratik und der Pseudosakralisierung, die die Übersetzung moderner Texte ins Lateinische darstellt, eine Masche, die skandalös ist, denn warum sollten denn Millionen vergaste und verbrannte Juden, Polen und Zigeuner auf lateinisch klagen? Diese Unehrlichkeit entspricht derjenigen des Gettodenkmals in Warschau, auf dem die sich zu Tod verteidigenden Juden, um antisemitischen Reaktionen zuvorzukommen und die Schablone des Heroismus zu verwirklichen, durchwegs als michelangeleske Davide, also als klassizistische und restlos dejudaisierte Figuren, dargestellt sind. Dazu kommt im Falle Penderecki die geschichtsphilosophische Komik, daß er heutige Lyrik in demjenigen Moment latinisiert hat oder hat latinisieren lassen, in dem die Kirche selbst sich bereits dazu entschlossen hat, bisher lateinisch zelebrierte Texte in den jeweiligen Volkssprachen zelebrieren zu lassen. Daß Vokalmusiken ohnehin schwer verständlich sind, das weiß jeder produzierende und nachschaffende Musiker. Die Steigerung dieser Schwerverständlichkeit durch Latinisierung der Texte läuft, wie feierlich sich das Latein auch geben mag, einfach auf eine beabsichtigte Neutralisierung des Auschwitzinhaltes heraus, den das Oratorium angeblich meint und verewigt. Dies die Niederlage Pendereckis.

Die zweite Niederlage ist die des Publikums, das, wie es in den (daran nicht im mindesten Anstoß nehmenden Presseberichten heißt) die „fulminante Aufführung“ in „einhelliger Begeisterung“ als einen „triumphalen Erfolg“ bejubelte. Keine Frage: Die Vergangenheit ist nun also bewältigt. Da Auschwitz als fulminantes Kunstwerk bejaht worden ist, ist es als fulminantes Ende der Menschlichkeit aus der Welt geschafft. Nicht nur die sechs Millionen sind nun vergast und verbrannt, diese Tatsache selbst ist nun vergast und verbrannt. Und die Geschichte kann weitergehen.

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