FORVM, No. 79/80
Juli
1960

Banalität und Genie

Statt viele Worte zu machen, täte ich vielleicht am besten, einfach zu sagen: „Ich glaube fest und unerschütterlich daran, daß Gustav Mahler einer der größten Menschen und Künstler war.“ Denn es gibt ja doch nur zwei Möglichkeiten, jemanden von einem Künstler zu überzeugen; die erste und bessere: das Werk vorzuführen, die zweite, die zu benutzen ich gezwungen bin: seinen Glauben an dieses Werk auf andere zu übertragen.

Man ist kleinlich! Eigentlich sollten wir festes Vertrauen dazu haben, daß unser Glaube sich unmittelbar überträgt. So heiß sollte uns die Inbrunst für den Gegenstand unserer Verehrung machen, daß jeder, der uns nahe kommt, mit uns mitglühen muß, von derselben Glut verzehrt wird und dasselbe Feuer anbetet, das auch uns heilig ist. So hell sollte dieses Feuer in uns brennen, daß wir transparent werden, daß sein Schein nach außen dringt und auch den erleuchtet, der bisher im Dunkeln ging. Ein Apostel, der nicht glüht, predigt eine Irrlehre. Wem sich der Heiligenschein versagt, der trägt nicht das Abbild eines Göttlichen in sich. Zwar nicht durch sich selbst leuchtet der Apostel, sondern durch ein Licht, das den Körper kaum als Hülle anerkennt: das Licht dringt durch die Hülle; aber es ist gnädig und gönnt dem, der glüht, den Anschein eines Selbstleuchtenden. Wir, die wir begeistert sind, sollten Vertrauen haben: man wird mit dieser Glut mitfühlen, man wird unser Licht leuchten sehen. Man wird den verehren, den wir vergöttern. Auch ohne daß wir etwas dazu tun.

Der Verstand ist ungläubig; er traut dem Sinnlichen nicht und noch weniger dem Übersinnlichen. Ist man ergriffen, so behauptet er, es gäbe viele und unkünstlerische Mittel, die solche Ergriffenheit erzwängen; erinnert daran, daß keiner, ohne aufs heftigste bewegt zu werden, einem tragischen Vorgang im Leben zusehen könne; erinnert an die Schauerdramatik, deren Wirkungen sich keiner zu entziehen vermag; daß es höhere und niedrigere Mittel gibt, künstlerische und unkünstlerische. Daß realistische, drastische Vorgänge — wie beispielsweise die Folterszene aus „Tosca“ —, die unfehlbar wirken, solche Mittel sind, die ein Künstler nicht verwenden soll, weil sie zu billig, weil sie jedem zugänglich sind. Und vergißt, daß in der Musik und insbesondere in der Symphonie eben jene realistischen Mittel doch niemals verwendet werden, weil die Musik immer unreal ist. In der Musik wird nie jemand wirklich ungerecht umgebracht oder gefoltert, nie gibt es hier einen Vorgang, der an sich das Mitgefühl erwecken könnte, denn es gehen ja nur musikalische Angelegenheiten vor. Und nur wenn sie die Kraft haben, selbst zu sprechen, nur wenn dieser Wechsel von hohen und tiefen Tönen, schnellen und langsamen Rhythmen, lauten und schwachen Klängen, vom Unrealsten spricht, das es gibt, werden wir zur höchsten Teilnahme bewegt. Allem anderen gegenüber bliebe der stumm, der einmal solche reine Wirkung gespürt hat. Es ist ganz ausgeschlossen, daß eine musikalische Ergriffenheit auf unlautere Mittel zurückzuführen ist, denn die Mittel der Musik sind unreal, und unlauter ist nur die Wirklichkeit!

Das Kunstwerk gibt es, auch ohne daß jeder davon ergriffen wird, und der Versuch, seine Empfindung zu begründen, ist überflüssig, weil dabei immer nur eine Charakteristik des Subjekts zustande kommt und nie eine des Objekts: Der Beschauer ist farbenblind, der Zuhörer taub, der Kunstgenießende war ungestimmt, ungeeignet (vielleicht nur zuzeiten, vielleicht dauernd), einen Kunsteindruck zu empfangen.

Woher kommt es aber, daß jemand, der mit bestem Willen bestrebt ist, zu verstehen, zu so verkehrten Urteilen gelangt, obwohl er einen Eindruck empfangen hat? Man hat da und dort eine Stelle gefunden, die einem nicht gefällt; eine Melodie, die man banal findet, die einem unoriginell vorkommt; eine Fortsetzung, die man nicht begreift, für die man eine bessere zu wissen glaubt; eine Stimmführung, die allem Hohn zu sprechen scheint, was man bisher für das Erfordernis einer guten Stimmführung gehalten hat. Man ist Musiker, ist vom Fach, kann selbst etwas (oder auch nicht!) und weiß stets genau, wenn es überhaupt zu machen ist, wie das gemacht werden müßte. Es ist verzeihlich, daß so einer sich berechtigt fühlt, an Details zu nörgeln. Denn wir nörgeln ja alle am Werke des Allergrößten. Fast jeder, wenn er den Auftrag erhielte, die Welt besser zu schaffen als der liebe Herrgott, machte sich ohne weiteres dazu anheischig. Alles was wir nicht verstehen, halten wir für einen Irrtum, alles was uns unbequem ist, für einen Mißgriff ihres Schöpfers. Und bedenken nicht, daß, da wir den Sinn nicht verstehen, Schweigen, respektvolles Schweigen, das einzig Angemessene wäre. Und Bewunderung, grenzenlose Bewunderung.

Man kann heute modern sein, ohne sich an das Beste halten zu müssen. Man hat unter den Modernen so große Auswahl, daß selbst für den verwöhntesten Geschmack und auch für den Minderbemittelten, in allen Nuancen und Preislagen, der Ausdruck der Zeit zugänglich ist. Wer wird sich da noch besonders anstrengen? Wer sich die Mühe machen, den zu finden, der der Richtige ist? Man ist modern, das genügt. Man ist eventuell sogar hypermodern, das macht interessant. Man hat ein Programm, Prinzipien, Geschmack. Man weiß, um was es sich handelt. Man weiß alle kritischen Klischees. Man kennt genau die Bewegungen, die es eben in der Kunst gibt; ja, man könnte beinahe die Probleme und Methoden im vorhinein bestimmen, mit denen sich die Kunst der nächsten Zukunft wird befassen müssen, und es wundert mich nur, daß noch niemand darauf gekommen ist, alle diese Möglichkeiten auszukombinieren und einen Führer durch die Zukunft zu verfassen.

Das ist die unbeabsichtigte Wirkung, die Wagner erzielte, als er zur Warnung für Voreilige den Beckmesser schuf.

Aus Furcht, für kunstfeindlich, für veraltet, rückständig gehalten zu werden, hat man heute für moderne Kunst eine solche Aufmerksamkeit, übertreibt die Beachtung, die man ihr schenkt, in solchem Maße, daß sich das gerade Gegenteil von dem zeigt, was der großen Kunst not tut. Man weiß so schrecklich viel, man befaßt sich mit solcher Intensität mit den Problemen, daß es wirklich schwer ist, aufrichtige, geständige Idioten zu finden, an denen man noch sein Vergnügen haben kann. Es gibt nur mehr Gelehrte, nur mehr solche, die über alles ihre selbständige Meinung haben. Es gibt fast keine ungelösten Probleme mehr; jeder hat sie gelöst. Jeder kennt die Symptome des Genies, und kann eine Definition geben. Ganz aus eigenem! Nur selten findet sich noch einer, der’s nicht weiß, daß man mit der Moderne mitgehen muß. Alle kennen diese Verpflichtung und fast alle gehorchen ihr, und die Beckmesser von heute haben es leicht, zu behaupten, sie seien „weitherziger“ geworden. Das ist aber selbstverständlich eine arge Täuschung. Man hat nur andere Methoden, sich falsch zur Kunst zu stellen, als früher. Sonst ist alles Wesentliche beim alten geblieben, weil es dabei bleiben muß. Denn: das Gute ist und bleibt gut und muß deshalb verfolgt werden, und das Schlechte ist und bleibt schlecht und muß deshalb gefördert werden. Und die laut angepriesene Weitherzigkeit der heutigen Beckmesser ist vielleicht eher eine Herzerweiterung. Mich aber erinnert sie an Gehirnerweichung. Denn die haben jeden Halt und alle Hemmungen verloren, da sie nicht einmal bemerken, daß sie noch engherziger sind als jene, die wenigstens lobten, was „nach ihrer Regeln Lauf“.

Sonst könnten nicht gerade, sobald es sich um einen wirklich Großen handelt, die alten Schlagworte immer wieder hervorgeholt werden. — Beispielsweise: Mahler hat ungemein umfangreiche Werke geschaffen. Jeder spürt oder glaubt es zu wissen, daß in ihnen etwas besonders Hohes und Großes gesagt werden will. Welcher abgestandene Gemeinplatz läge da einem Weitherzigen näher als der: er strebt das Höchste an, besitzt aber nicht die Kraft zu können, was er will. Und wer spricht ihn aus? Jene Kritiker, die gerade ihre Weitherzigkeit dem allgemeinen Interesse nahegelegt haben. Die weniger Guten ebenso wie die ganz Schlechten. Denn es ist eine Standesfrage, daß sie in den Hauptsachen einig sind! — Dieser Satz aber ist eines von jenen gedankenlosen Klischees, die man vor allem deshalb hassen muß, weil sie fast ausnahmslos auf jene angewendet werden, auf die sie am wenigsten passen. Die Kleinen fahren ganz gut dabei. Aber sowie von einem gesagt wird, er strebe das Höchste an usw., weiß ich sofort, daß er es entweder nicht angestrebt oder daß er es auch erreicht hat! — Das ist immerhin eine Art von Verläßlichkeit.

Daß es keine Nachahmungen dieser Symphonien gibt, die auch nur einigermaßen ihrem Vorbild ähneln, daß diese Musik unnachahmlich scheint, wie alles, was nur einer kann, das ist ein Beweis dafür, daß Mahler das Größte gekonnt hat, was ein Künstler können kann: sich ausdrücken! Daß er nur sich ausgedrückt hat, und nicht den Tod, das Schicksal und den Faust. Denn das könnten andere auch komponieren. Daß er nur das ausgedrückt hat, was, unabhängig von Stil und Schnörkel, ihn, ihn allein darstellt und was darum jedem andern versagt bliebe, der es bloß durch Stilnachahmung versuchte. Aber auch dieser Stil selbst scheint auf eine bisher nicht dagewesene rätselhafte Art die Nachahmung auszuschließen. Vielleicht kommt das daher, daß hier zum erstenmal eine Ausdrucksweise mit der Sache, der sie gilt, so untrennbar verbunden ist, daß, was sonst bloß als Symptom der äußeren Form erscheint, hier gleichzeitig auch Material und Konstruktion ist.

Ich will mich mit einigem befassen, was gegen Mahlers Werk gesagt wurde. Da sind zunächst zwei Vorwürfe: seine Sentimentalität ünd die Banalität seiner Themen. Mahler hat unter diesen Vorwürfen sehr gelitten. Gegen den einen ist man fast, gegen den andern vollständig machtlos. Man bedenke: ein Künstler schreibt in absoluter Ehrlichkeit, ohne eine Note zu verändern, ein Thema so hin, wie sein Ausdrucksbedürfnis und sein Gefühl es ihm diktieren. Wenn er der Banalität ausweichen wollte, wäre es ihm eine Leichtigkeit. Jeder schäbigste Notenschreiber, der mehr auf seine Noten sieht als in sein Inneres, ist imstande, mit ein paar Federstrichen aus einem banalen Thema ein interessantes zu „machen“. Und die meisten interessanten Themen entstehen auf diese Art. (So wie jeder Maler dem kitschigen Feinmalen auszuweichen vermag, indem er ebenso kitschig mit breitem Strich malt.) Und nun bedenke man: gerade dieser feinste, geistig hochstehende Mensch, von dem man die tiefsten Worte gehört hat, gerade der sollte es nicht zusammenbringen, unbanale Themen zu schreiben, oder sie wenigstens solange zu verändern, bis sie nicht mehr banal aussehen!

Ich muß hier bekennen: auch ich hielt Mahlers Themen anfangs für banal. Ich halte es für wichtig, zu bekennen, daß ich Saulus war, ehe ich Paulus wurde, weil daraus hervorgehen kann, daß mir jene „feinen Unterscheidungen“, auf die gewisse Gegner stolz sind, nicht fremd waren, sondern mir erst jetzt fremd sind, seit der sich immer steigernde Eindruck, den ich von der Schönheit und Großartigkeit von Mahlers Werk besitze, mich dahin gebracht hat, zu erkennen, daß es nicht feine Unterscheidungen, sondern im Gegenteil gröbstes Fehlen an Unterscheidungsvermögen ist, das solche Urteile erzeugt. Ich hatte Mahlers Themen banal gefunden, obwohl das ganze Werk mir stets großen Eindruck gemacht hatte. Heute könnte ich das beim bösesten Willen nicht mehr. Man bedenke nun: wenn sie wirklich banal wären, müßte ich sie heute noch viel banaler finden als früher. Denn banal heißt bäuerisch und bezeichnet etwas, was einer tiefstehenden Kultur, einer Unkultur angehört. In den Niederungen der Kultur aber findet sich nicht das Absolut-Schlechte oder Falsche, sondern das vormals Richtige, das Überholte, das Abgelebte, das Nicht-mehr-Wahre.

Wenn ich nun konstatiere, daß ich diese Themen heute nicht mehr banal finden kann, so können sie es nie gewesen sein; denn ein banaler Gedanke, ein Gedanke also, der mir veraltet, abgedroschen vorkommt, kann mir bei näherer Bekanntschaft nur immer banaler, veralteter, abgedroschener vorkommen. Niemals jedoch erhaben. Entdecke ich aber nun gar — wie es sich bei mir zuträgt — an diesem Gedanken, je öfter ich ihn ansehe, Neues, neue Schönheiten, Erhabenes, dann ist kein Zweifel möglich: der Gedanke ist das Gegenteil von banal. Er ist nicht etwas, das man schon längst abgetan hat und gar nicht mißverstehen kann, sondern etwas, dessen tiefster Inhalt sich noch lange nicht ganz erschlossen hat, das zu tief war, als daß man mehr als die bloße äußere Erscheinung wahrgenommen hätte. Und in der Tat, nicht bloß Mahler ist es so ergangen, auch fast alle anderen großen Komponisten mußten sich Banalitäten vorwerfen lassen. Ich erinnere nur an Wagner und Brahms. Ich meine, diese Wandlung meiner Empfindung gibt einen besseren Maßstab ab, als das Urteil beim ersten Hören, das jeder schnell bei der Hand hat, sobald er irgendwo anstößt, wo er in Wirklichkeit nicht versteht.

Noch wehrloser als gegen den Vorwurf der Banalität ist der Künstler gegen den der Sentimentalität. Gegen jenen konnte Mahler, indem er, gezwungen um sein Selbstbewußtsein gebracht, ihn halb und halb zugab, sich darauf berufen, man habe nicht auf das Thema zu sehen, sondern auf das, was daraus wird. Aber gegen den anderen, gegen den Vorwurf der Sentimentalität, gibt es keine Verteidigung. Das trifft so sicher wie das Wort Kitsch. Jeder, dem eigentlich nur der Kitsch gefällt, ist dadurch in der Lage, hinterrücks dem Ernstesten und Bedeutendsten, dem, der sich am heftigsten abwendet vom Gefälligen, das ja das wahre Wesen des Kitschigen ausmacht, einen Stoß zu geben, der ihn herabsetzt, und auch der inneren Sicherheit beraubt. Man schimpft heute auch anders über bedeutende Kunstwerke als früher. Früher hielt man einem Künstler vor, daß er nichts könne; heute ist es ein Grund zum Tadel, etwas zu können. Glätte, die früher erstrebenswert war, ist heute ein Fehler, denn sie ist kitschig. Ja, man malt eben heute breit! Alle malen breit, und wer nicht breit malt, ist ein Kitscher. Und wer nicht Humor oder Oberflächlichkeit, Heldengröße und griechische Heiterkeit hat, ist sentimental.

Schopenhauer erklärt den Unterschied zwischen Sentimentalität und echter Trauer. Er wählt als Beispiel Petrarca, den ja die Breitmalenden sicher sentimental nennen würden, und zeigt an ihm, wie der Unterschied darin besteht, daß die echte Trauer sich zur Resignation erhebt, während die Sentimentalität das nicht vermag, sondern immer trauert und klagt, so daß man „Erde und Himmel zugleich“ verloren hat. Sich zur Resignation erheben: wie kann man von einem sentimentalen Thema sprechen, da dieses klagende, trauernde Thema sich ja vielleicht im weitern Verlauf zur Resignation erhebt? Das ist ebenso faisch, wie wenn man von einem geistreichen Wort spricht. Geistreich ist der ganze Mensch, reich an Geist, aber nicht der einzelne Satz. Sentimental könnte das ganze Werk, aber nicht die einzelne Stelle sein. Denn ihr Verhältnis zum Ganzen entscheidet, was sie wird, welche Bedeutung ihr im Ganzen zukommt. Und wie erhebt sich Mahlers Musik zur Resignation? Wird hier „Himmel und Erde zugleich“ verloren, oder wird hier nicht vielmehr erst eine Erde gezeigt, die lebenswert, und dann der Himmel gepriesen, der mehr als lebenswert ist? Man denke an die Sechste, an das furchtbare Ringen im ersten Satz. Doch dessen schmerzzerwühlte Zerrissenheit erzeugt von selbst ihren Gegensatz, die überirdische Stelle mit den fernen Kuhglocken, deren kühler, eisiger Trost von einer Höhe aus gespendet wird, die nur der zur Resignation sich Aufschwingende erreicht; den nur der hört, der versteht, was ohne animalische Wärme höhere Stimmen flüstern.

Es ist natürlich heute noch nicht möglich, im einzelnen auf die unzähligen Formschönheiten bei Mahler hinzuweisen. Erwähnen möchte ich einiges nur, um den Generalpächtern der Musikästhetik den Mund zu stopfen. Besonders auffallend ist nämlich bei Mahler, der ja durchaus tonal schreibt, und dem daher für seine Zwecke noch nicht so viele harmonische Mittel des Gegensatzes zur Verfügung standen, die Kunst seines Melodiebaues. Es ist unglaublich, wie lange diese Melodien werden können, obwohl sich dabei ja gewisse Akkorde wiederholen müssen. Und trotzdem entsteht keine Monotonie. Im Gegenteil, je länger das Thema dauert, desto größeren Schwung hat es am Ende; die Kraft, die seine Entwicklung treibt, nimmt mit gleichmäßiger Beschleunigung zu. So heiß das Thema im Status nascendi schon war, nach einiger Zeit hat es sich nicht müde, sondern noch heißer gelaufen, und wo es bei einem anderen längst versiegt und versunken wäre, erhebt es sich erst in höchster Glut. Wenn das nicht Können ist, dann ist es doch wenigstens Potenz. Etwas Ähnliches zeigt sich im ersten Satz der Achten. Wie oft kommt dieser Satz nach Es-Dur, zum Beispiel auf einen Quartsextakkord! Jedem Schüler würde ich das wegstreichen und ihm empfehlen, eine andere Tonart aufzusuchen. Und unglaublich: hier ist es richtig! Hier stimmt es! Hier dürfte es gar nicht anders sein. Was sagen die Gesetze dazu? Man muß eben die Gesetze ändern!

Das einzige, was jeder an Mahler gelten ließ, war seine Instrumentation. Das stimmt bedenklich, und man könnte fast annehmen, dieses Lob, da es so einstimmig ist, sei ebenso ungerecht wie die schon vorher erwähnten Einstimmigkeiten. Und in der Tat, Mahler hat in seinen Kompositionen nie etwas an der Form geändert, aber fortwährend an der Instrumentation. Die scheint er als unvollkommen empfunden zu haben. Sie ist es gewiß nicht, sie ist gewiß von der höchsten Vollkommenheit, und nur die Unruhe des Mannes, der als Dirigent eine Deutlichkeit anstreben mußte, die er als Komponist gewiß nicht für ebenso nötig hielt, da ja die Musik die göttliche Eigenschaft der Anonymität der Gefühle, also der Undeutlichkeit für den Uneingeweihten zusichert, nur diese Unruhe zwang ihn, als Ersatz für das Vollkommene immer das noch Vollkommenere zu suchen.

Was an Mahlers Instrumentation in erster Linie auffallen muß, ist die fast beispiellose Sachlichkeit, die nur das hinschreibt, was unbedingt nötig ist. Sein Klang entsteht nie durch ornamentale Zutaten, durch Beiwerk, das nicht oder nur lose mit der Hauptsache verbunden ist, das nur als Schmuck aufgesetzt wird. Sondern: wo es rauscht, da rauschen die Themen; da haben die Themen solche Gestalt und so viele Noten, daß sofort klar wird, wie nicht das Rauschen der Zweck dieser Stelle, sondern ihre Form und ihr Inhalt ist. Wo es ächzt und stöhnt, da ächzen und stöhnen die Themen und die Harmonien; wo es aber kracht, da stoßen Baukolosse hart aneinander; die Architektur kracht; die architektonischen Spannungs- und Druckverhältnisse revoltieren. Aber zum schönsten gehören die zarten, duftigen Klänge.

Es scheint mir fast kleinlich, daß ich neben dem Komponisten Mahler nun auch vom Dirigenten reden soll. Nicht nur ist er in dieser Tätigkeit selbst von den dümmsten Gegnern anerkannt worden, sondern man könnte auch meinen, daß die bloß reproduzierende Tätigkeit neben der produzierenden doch nur in zweiter Linie in Betracht komme. Aber es gibt zwei Gründe, die mich dazu veranlassen, es zu erörtern. Erstens ist bei einem großen Menschen nichts Nebensache. Eigentlich ist jede seiner Tätigkeiten irgendwie produktiv. In diesem Sinne hätte ich sogar Mahler zusehen wollen, wie er eine Krawatte bindet, und hätte das interessanter gefunden und lehrreicher, als wie irgendeiner unserer Musikhofräte einen „heiligen Stoff“ komponiert. Zweitens aber scheint mir, als ob selbst diese Tätigkeit bisher nicht durchaus von ihrer wesentlichsten Seite erfaßt wurde. Gewiß haben viele seine dämonische Persönlichkeit, sein unerhörtes Stilgefühl, die Präzision seiner Aufführungen sowie deren Klangschönheit und Deutlichkeit gerühmt. Aber unter anderem hörte ich beispielsweise einen seiner Herrn „Kollegen“ sagen, es sei keine besondere Kunst, gute Aufführungen zustandezubringen, wenn man so viele Proben macht. Gewiß ist das keine Kunst, denn je öfter man eine Sache durchspielt, desto besser geht sie und davon profitieren auch die schlechtesten Dirigenten. Aber es ist eine Kunst, in der neunten Probe noch das Bedürfnis nach einer zehnten zu haben, weil man noch manches hört, das besser werden kann, weil man in der zehnten Probe noch etwas zu sagen weiß.

Der Produktive erzeugt in seinem Innern ein genaues Bild von dem, was er wiedergeben wird; hinter dem darf die Aufführung ebensowenig zurückbleiben wie alles, was er aus sich hervorbringt. In wenigem nur unterscheidet sich solches Reproduzieren vom Produzieren: fast ist nur der Weg ein anderer. Erst wenn man sich das klargemacht hat, begreift man, wieviel mit den anspruchslosen Worten gesagt ist, mit denen Mahler selbst sein höchstes Ziel als Dirigent bezeichnete: „Ich rechne es mir als mein größtes Verdienst an, daß ich die Musiker dazu zwinge, genau das zu spielen, was in den Noten steht.“

Im Musikalischen zeigt seine Entwicklung ein unentwegtes Aufwärts. Gewiß sind schon die ersten Symphonien von großer Formvollendung. Denkt man aber an die Straffheit und Knappheit der Form der Sechsten, wo keine überflüssige Note steht, wo alles auch noch so Weitausgreifende notwendiger Bestandteil und organisch eingefügt ist, sucht man gar zu erfassen, wie die beiden Sätze der Achten Symphonie nichts anderes sind als ein einziger, unerhört langer und weiter Gedanke, ein einziger auf einmal empfangener, überblickter und bewältigter Gedanke, dann staunt man über die Kıaft eines Hirns, das sich schon in jungen Jahren Unglaubliches zutrauen durfte, hier aber das Unwahrscheinlichste zum Ereignis gemacht hat.

Und im „Lied von der Erde“ kann er dann plötzlich auch die kürzesten und zartesten Formen. Das ist höchst merkwürdig, aber doch einleuchtend: die Unendlichkeit in der Achten und die Endlichkeit des Irdischen in dieser Symphonie.

Seine Neunte ist höchst merkwürdig. In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. Fast sieht es aus, als ob es für dieses Werk noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler bloß als Sprachrohr benützt hat. Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten. Es bringt sozusagen objektive, fast leidenschaftslose Konstatierungen, von einer Schönheit, die nur dem bemerkbar wird, der auf animalische Wärme verzichten kann und sich in geistiger Kühle wohlfühlt. Was seine Zehnte, zu der, wie auch bei Beethoven, Skizzen vorliegen, sagen sollte, das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner. Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht so sein.

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