FORVM, No. 108
Dezember
1962

Bemerkungen zur Politik

Anläßlich des 100. Geburtstages von Arthur Schnitzler haben wir eine bisher unveröffentlichte „Anatol“-Szene zum Abdruck gebracht (FORVM IX/101). Ehe das Schnitzler-Jahr zu Ende geht, publizieren wir noch eine Reihe von Aphorismen und Gedanken, die der Dichter zum Thema Politik notiert hat. Sie wurden uns freundlicherweise von Heinrich Schnitzler aus dem Nachlaß seines Vaters zur Verfügung gestellt.

Ich liebe mein Vaterland nicht, weil es mein Vaterland ist, sondern weil ich es schön finde. Ich habe Heimatgefühl, aber keinen Patriotismus.

Ich bin nicht stolz auf irgend jemanden, weil er der gleichen Rasse angehört.

Ich habe auch nicht das geringste Standesgefühl und bin gar nicht beschämt, weil es auch unter den Dichtern Lumpen (und Heuchler) gibt.

Ich war niemals der Kamerad von irgendwem, weil er zufällig dieselbe Charge bekleidet hat, nie der Kollege von jemandem, weil er auf derselben Schulbank saß wie ich.

Ich liebe auch nicht die Menschheit als Ganzes; nur einige wenige einzelne Menschen.

Ich fühle mich mit niemandem solidarisch, weil er zufällig derselben Nation, demselben Stand, derselben Rasse, derselben Familie angehört wie ich. Es ist ausschließlich meine Sache, mit wem ich mich verwandt zu fühlen wünsche; ich anerkenne keine angeborene Verpflichtung in dieser Frage. Ich habe Mitbürger in jeder Nation, Kameraden in jedem Stand, und Brüder, die keine Ahnung von meiner Existenz haben.

Ein ewiger und immer ungleicher Kampf zwischen Individuum und Gesetz, zwischen Bürger und Staat.

Das Individuum ist verfolgbar, strafbar und verletzlich. Der Staat ist unverantwortlich, anonym, also unbestraft und unverletzlich, weil ohne Ehrgefühl.

Er waltet unter dem Schutz der Unpersönlichkeit und der Anonymität.

Immer wieder aber erhebt sich im Individuum der Drang, den Staat aus seiner feigen Anonymität herauszutreiben und ihn zu zwingen, daß er sich stelle.

Nirgends ist die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit so ungeheuer wie zwischen der Idee Staat und der Wirklichkeit Staat.

Die tiefe Immoralität des Staates besteht vor allem darin, daß er es seinen Beamten und Besoldeten nicht nur leicht macht, sie nicht nur ermutigt, sondern sie unter Umständen sogar nötigt, ihre angeborenen, allgemein-menschlichen Eigenschaften: Leichtfertigkeit, Mißtrauen, Machtdünkel, Neid, Rachsucht ungestraft, ja oft genug mit Aussicht auf Belohnung walten zu lassen. Und der Staat stellt sich an, ja er erklärt es als Dogma, daß der Beamte in jedem Falle der anständigere, ja daß er dem Bürger gegenüber der gerechtere und höhere Mensch sei; und schon ein Zweifel an dessen Unbestechlichkeit, Rechtsgefühl und Neidlosigkeit bedeutet eine Beleidigung, die der Ahndung unterliegt. Dabei benötigt der Staat gerade diese üblen allgemeinen Eigenschaften, um sich in seiner Macht behaupten zu können.

Nichts ist dem mittelmäßigen Menschen wohltuender, als wenn er es in der Macht hat, ein Wort schon durch den Ton verächtlich zu machen. So gibt es eine ganze Anzahl von Worten, die im Laufe der letzten Jahre aus harmlosen Buchstabenfolgen von einer ganz bestimmten Bedeutung zu Worten niedrigeren Ranges degradiert worden sind. Schuld daran sind die Journalisten, die Feuilletonisten.

Wir wollen die guten alten Worte wieder ehrlich machen. Die drei Worte, die diese sehr charakteristische Laufbahn durchgemacht haben, sind unter andern: Liberalismus, Skepsis, Psychologie. Jeder Zeitungsjunge fühlt sich berechtigt, diese Worte mit einer Art von Hohn anzuwenden, als wenn die Begriffe, die damit ursprünglich bezeichnet worden sind, nicht durchaus achtbare wären. Die Mißbräuche, die innerhalb der Politik mit dem Begriff des Liberalismus, in der Philosophie mit dem Begriff der Skepsis, in der Kunst mit dem Begriff Psychologie getrieben worden sind, bieten dem Oberflächlichen ebenso wie dem Unehrlichen willkommenen Anlaß, den Mißbrauch als die Regel, als den Brauch hinzustellen und die Aufmerksamkeit der Leser, der Zuhörer von der ursprünglichen Bedeutung jener Worte wegzulocken. Daß Liberalismus nichts anderes bedeutet, wenigstens zu Beginn der so bezeichneten politischen Bewegung nichts anderes bedeutet hat, als das Bestreben, die Menschen in jeder Beziehung zu befreien (gegen Übergriffe der Mächtigen zu schützen, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen etc.); daß Skepsis nichts anderes bedeutet als den Vorsatz, nichts auf Treu und Glauben hinzunehmen, sondern zu prüfen, ehe man entscheidet; daß Psychologie einfach die Lehre von der Seele ist; das wird übersehen, vergessen; und gewisse nebensächliche Eigenschaften, die bei untergeordneten Adepten liberaler Politik, skeptischer Philosophie, psychologischer Literatur zu Tage treten, werden als charakteristisch, als wesentlich angenommen.

Es ist uns wohl bekannt, daß der Liberalismus schlechtweg zu einer gewissen billigen, flachen, ja rührsamen Weltanschauung und zur Phrasenhaftigkeit, daß die Skepsis zu einer gewissen wohlfeilen Zweifelsucht, zu einer Art von Gescheiter-Sein um jeden Preis, endlich zu einer gewissen Trägheit in der Menschenbeurteilung und zu Egoismus und Ungütigkeit führt, und es ist uns endlich bekannt, daß ein Überwiegen des psychologischen Elements bei minderbegabten Literaten zu einem selbstgefälligen, tüfteligen Beharren auf Einzelheiten, auf Unwichtigkeiten verführt. Aber es wird nicht schwerfallen, überall, also auch innerhalb der hier gekennzeichneten direkt kontradiktorischen Anschauungsformen, in gleicher Weise das Mißliche und Gefährliche, ja das Lächerliche zu entdecken, wenn man statt des Wesentlichen das Nebensächliche als Charakteristikum hervorzuheben sucht.

Warum aber versucht man heute derartiges nicht oder zumindest nicht in dem Maße gegenüber dem Konservatismus in der Politik, gegenüber dem Optimismus in der Philosophie (es gibt sonderbarerweise kein dem Skeptizismus in entsprechender Art gegensätzliches Wort, da man das Wort Glauben innerhalb des Philosophischen kaum wird gelten lassen können), gegenüber der pragmatischen Darstellung in der Literatur (womit ebensowohl das oberflächlich Erzählende als das Pathetisch-Theatralische bezeichnet werden soll): All dies hängt zusammen mit jenem mächtigsten Element moderner sozialer Entwicklung und Gliederung, die man mit einem weit über dessen ursprünglichen Sinn hinausgehenden Wort Snobismus nennen darf.

Der Snobismus bedarf der politischen Atmosphäre des Konservatismus, der philosophischen des Glaubens und des Optimismus, und gar im Literarischen hat er keinen gefährlicheren Feind als die Seelenkunde.

Es liegt im Wesen der Revolutionen, daß sie sich nur ganz kurze Zeit in ideellem Sinn rein erhalten können. Sie bilden sich gewissermaßen nicht aus, sondern sie verwirren sich immer ärger, je länger sie währen. Die Reaktionen erhalten sich viel länger rein und entwickeln sich in viel gesetzmäßigerer Weise.

Jeder Staatsbürger ist innerlich gleich bereit zum Patriotismus wie zum Hochverrat. Er wird ein Patriot sein, wenn es ihm in seinem Vaterlande wohl ergeht, wenn er für seine Dienste oder für seine Gesinnung ausreichend belohnt wird, wenn sein persönliches Wohlergehen mit dem seines Landes zusammenfällt. Man kennt den sozusagen automatischen Patriotismus der Beamten, des Militärs, der Hofschranzen, die es natürlich auch in der Republik gibt. Er wird aber sofort Hochverräter, zum mindesten im Geiste, wenn er für seine Dienste nicht ausreichend entlohnt wird und es ihm in seinem Lande nicht wohl behagt. Zum aktiven Hochverrat entschließt er sich aber meistens erst in dem Augenblick, da kein Risiko mehr dabei ist, ja, da der Hochverrat Aussicht hat, in Patriotismus umzuschlagen.

In gleicher Weise zwischen Patriotismus und Hochverrat schwankt er auch in seinem Verhältnis zur Familie, zu seinem Beruf und zu Gott. Und kein Frommer, der nicht sofort bereit wäre, an seinem Gott irre zu werden, wenn es ihm in seinem Leben nicht nach Wunsch geht.

Es gibt dreierlei Arten von Politikern: solche, die das Wasser trüben, solche, die im Trüben fischen, und solche — die begabten —, die das Wasser trüben, um im Trüben zu fischen.

Antipathie von einem Volk zum andern besteht gewiß zuweilen. Daß aber immer ein eingeborener Haß von einem zum andern Volk existiert von solcher Urkraft und Unwiderstehlichkeit, daß er einen Krieg unwiderstehlich macht, ist eine absolute Unwahrheit. Es zeigt sich, daß zu jeder Zeit ein Ablenken eines solchen Völkerhasses nach einer anderen Seite, daß auch eine Beschwichtigung, wenn nicht gar eine Umkehrung möglich ist. Es ist die Dummheit, die Leichtfertigkeit, öfter freilich die Tücke oder sagen wir die Kunst der Politiker, diesen Moment zu versäumen oder gar der Entwicklung jenes Hasses auf alle Weise Vorschub zu leisten. Es ist einfach nicht wahr, daß unter irgendwelchen Umständen der Schneider Dubois in Marseille sich gegen die Regierung auflehnte, oder auch nur den Appetit verlöre, wenn man ihm nicht Gelegenheit gäbe, dem Drechsler Müller aus Magdeburg ein Bajonett in den Leib zu rennen; es ist nicht wahr, daß der Doktor juris Mayer aus Elberfeld schlaflose Nächte verbrächte, wenn er nicht die Erlaubnis erhielte, auf 30 Kilometer Entfernung eine Kanone gegen den Apotheker Lafeu aus Besançon abzufeuern. Alle Kriegsbegeisterung, alle Tapferkeit während des Krieges selbst, kann diese Tatsache nicht widerlegen. Denn wäre es sonst möglich, daß — während schon die Kugeln pfeifen und die Soldaten zwischen Drahtverhauen verdursten und Blindgeschossene im Getümmel der Schlacht verzweifelt herumirren —, der Journalist X, der die Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieses Kriegs mit flammenden Worten pries, ruhig in seinem Café Tarock spielt, daß der Ministerialsekretär Y mit Frau Direktor Z für fünf Uhr Nachmittag ein Rendezvous abmacht oder daß gar ein Sektionschef aus Berlin mit einem Attaché aus Paris oder London in einem Berner Hotel beim schwarzen Kaffee zusammensitzt und über den Frieden berät?

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