Grundrisse, Nummer 9
März
2004
Gerald Faschingeder, Karin Fischer, Johannes Jäger, Alexandra Strickner (Hrsg.):

Bewegung macht Geschichte

Globale Perspektiven für Gesellschaftsveränderung

Wien: Mandelbaum – Edition Südwind, 2003, 180 Seiten

Der Sammelband, herausgegeben von Wiener WissenschaftlerInnen mit entwicklungspolitischem Background erhebt den Anspruch, „dem gesellschaftlichen Veränderungspotenzial dieser neuen sozialen Bewegung nachzugehen“. Gemeint ist die, 1999 in Seattle ihren (medialen) Ausgangspunkt nehmende, gegen die neoliberale Globalisierung und ihre Institutionen gerichtete und sich nicht zuletzt in den Sozialforen manifestierende „globalisierungskritische Bewegung“.

Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert:

1. Struktur und Handlung: Der politökonomische Kontext für Gesellschaftsveränderung

Ausgehend von politisch-ökonomischen Analysen soll der Rahmen des Projekts „Globalisierung“, d.h. der Transformation ökonomischer sowie politischer Herrschaft in der Gegenwart abgesteckt werden. Die behandelten Bereiche sind jene der National(wohlfahrts)staatlichkeit (Andreas Novy), der Europäischen Union (Hans-Jürgen Bieling) sowie der ökonomischen Transformation als Krisenbewältigungsstrategie (Christof Parnreiter).

2. Soziale Bewegung: Historische Dimensionen, regionale Unterschiede

Die drei Beiträge dieses Teils behandeln drei Phänomene sozialer Bewegung: die Transformation kämpfender Subjektivität von der ArbeiterInnenklasse zu den Neuen Sozialen Bewegungen bzw. „Von der ‚Revolution’ zur ‚sozialen Bewegung’?“ (so der Titel des Beitrags von Gerhard Melinz), die Transnationalität sozialer Bewegungen (Frieder Otto Wolf) sowie „Das Beispiel Lateinamerika“ (Dieter Boris) als „regional“-politisch orientiertem Zugang.

3. Von der Analyse zur Praxis: Ausgewählte Handlungsfelder der Globalisierungskritik

Die drei Beiträge zu diesem Kapitel sind von kollektiven AutorInnen verfasst. Joachim Becker, Karin Fischer und Johannes Jäger versuchen die gesellschaftsverändernden Potenziale von Wissen und deren ProduzentInnen, den Intellektuellen, aufzuzeigen, Gerald Faschingeder und Alexandra Strickner widmen sich einem verwandten Themenkomplex, nämlich „Wissenskritik, Gegenöffentlichkeit und alternative[n] Vermittlungsformen“. Der das Buch beschließende Beitrag stellt ein „work in progress“ (S. 180) dar, in dem Karin Fischer und Johannes Jäger (an Entstehung und Weiterentwicklung des Textes arbeite(te)n mehrere AutorInnen mit) versuchen, „mögliche Ursachen für verschiedene (in der globalisierungskritischen Bewegung existierende, Anm.d.A.) Positionen auszuloten, aber auch tiefer liegenden Gemeinsamkeiten nachzugehen“(S. 172).

Im Folgenden soll versucht werden, in einem „großen Bogen“ Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Texten herauszuarbeiten und kritisch zu reflektieren. Dabei soll auf drei Beiträge genauer eingegangen werden, in denen die Stärken aber auch die Schwächen des vorliegenden Bandes besonders deutlich sichtbar werden.

Der Beitrag von Andreas Novy, „Der umkämpfte Wohlfahrtsstaat“, verfehlt - es mag an der gebotenen Kürze seines Textes liegen – sein mögliches Ziel, eine Darstellung des widersprüchlichen Terrains „Staat“ einerseits als Raum der Möglichkeit von Teilhabe, andererseits als „Staat des Kapitals“ (Johannes Agnoli), dessen spezifisch kapitalistische – und damit ausbeuterische – Formbestimmungen sich letztlich durchsetzen müssen. Einerseits gelingt es Novy nicht, die oft unkritische Übernahme durchaus problematisierungswürdiger Begrifflichkeiten des politikwissenschaftlichen Mainstreams (Souveränität, Demokratie, Wohlfahrtsstaat, Aufklärung, etc.) mit seiner kritischen Absicht zur Deckung zu bringen, andererseits nimmt die explizite und ebenso falsche Vorstellung Michel Foucaults als „typischen Vertreter der 1968er-Bewegung“ (S. 47) und den für ihn damit in Verbindung stehenden „naiven Vorstellungen der Blumenkinder“ (S. 48) seiner Argumentation viel von ihrer Plausibilität. Die Annäherung an die Widersprüchlichkeit des staatlichen Transformationsprozesses im Neoliberalismus gelingt Novy nicht und eine grundsätzliche Kritik von (kapitalistischer) Staatlichkeit rückt somit aus dem Blickfeld.

Im „historisch-regionalen“ Teil des Buches arbeitet Gerhard Melinz die historischen Zyklen von antisystemischen Bewegungen heraus. Seine Darstellung der aktuelle Transformation widerständiger Subjektivitäten im Postfordismus (Von der „Revolution“ zur „sozialen Bewegung“) leistet dabei zweierlei: Der Autor arbeitet sowohl die historischen Widersprüchlichkeiten zwischen „reformistischen“ und „revolutionären“ Bewegungen und ihr heutiges Fortwirken heraus, als auch das zunehmende Verschwinden dieser Dichotomie. Mit starkem Bezug auf die Weltsystemperspektive (Wallerstein, Arrighi, ...) beschreibt Melinz auf erfrischend lesbare Art und Weise einen historischen Bogen, der nicht in einem Ende der Geschichte gipfelt, sondern diese als einen umkämpften und offenen Prozess darstellt.

Den theoretischen Kern oder auch die Achse, um die sich die Themen des Bandes gruppieren, stellt der Gemeinschaftstext von Joachim Becker, Karin Fischer und Johannes Jäger dar. In ihm verdichten sich methodische, politstrategische und „kritische“ Aspekte zu einer vorläufigen (mehr ist auf knapp 20 Seiten wohl auch nicht zu leisten) Standortbestimmung gesellschaftskritischer Wissenschaft. Die an Gramsci angelehnte Analyse der Hegemoniekämpfe um die Durchsetzung ideologischer Formationen über das kulturelle/intellektuelle Feld stecken dabei konzise das Terrain kritisch-wissenschaftlicher Produktion ab. Methodisch orientiert an Regulationstheorie und Weltsystemanalyse geht es um die Erarbeitung „theoretische[r] Ordnungsrahmen [..], die sowohl die Struktur- als auch die Handlungsdimension von Gesellschaft integrativ behandeln können.“ (S. 150) Nicht ganz nachvollziehbar bleibt jedoch die Kritik an Negri/Hardt: In seltsam altbacken-marxistisch anmutender Manier werden Negri (Co-Autor Michael Hardt wird kaum erwähnt) „Ökonomismus“ (S. 147) und revolutionärer „Attentismus“ (S., 148) vorgeworfen: „Ist die Revolution unvermeidlich, so braucht man nur zu warten.“ (ebd.) Derartige Untergriffe (wie auch der Hinweis auf die „wohlwollende“ Aufnahme von Empire in der „konservativ-liberalen Presse“) verstellen sowohl die Sicht auf die – selbstverständlich kritisierbaren – Formen politischer Aktivität, welche sich auf die Theorien Negris beziehen, als auch auf die zentrale ideologie- und staatstheoretische Dimension der postoperaistischen Theoriebildung. Den italienischen Disobbedienti „hoffnungsfrohes Warten“ (ebd.) zu unterstellen wäre wohl ebenso frivol wie die Etikettierung „ökonomistisch“ in Bezug auf Hardt/Negri´s Buch „Die Arbeit des Dionysos“.

Grundsätzlich bedenkenswert erscheint uns der „Gendergap“: Die „sexistische Seite“ der neoliberalen Globalisierung und die Vielzahl existierender feministischer Erklärungs- und Politisierungsansätze als Antwort darauf bleiben nämlich leider ebenso ausgeblendet wie die Transformation rassistischer Segregationsmechanismen und die Chancen ihrer Bekämpfung. Dennoch bietet „Bewegung macht Geschichte“ einen gut lesbaren und breiten Überblick über Theorie, Geschichte und mögliche Perspektiven der globalisierungskritischen Bewegung und dankenswerter Weise bleiben auch radikalere Ansätze nicht ausgeblendet.

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