FORVM, No. 288
Dezember
1977

Big Reinlege

Ich hingegen hebe das Bein, aus dem triftigen Grund, daß ich muß. Ich halt’s nicht aus ...

Günther Nenning

Halten Sie das Gleichgewicht!

Frühsportlerin Ilse Buck in Ö1

Harndrang ist keine Entschuldigung für Verdrehungen der Wahrheit. Günther Nennings deliröse Glosse „Genet ist ein alter Tepp“ (NF November 1977) darf daher nicht unwidersprochen bleiben.

Daß er den Genet und dessen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt nicht richtig interpretiert, kreide ich G. N. nicht an, denn er ist kein Literaturwissenschafter. Die Verquickung von plumper Lobhudelei mit gröbster Beschimpfung und subtiler Anspielung auf Genets Homosexualität buche ich auf das Verlustkonto „Journaille“. Der Medienmachthaber Nenning soll sich, wenn es ihm Spaß macht, in der Maske der Vernunft gegen blöde Dichter aufspielen.

Ernst wird für mich die Sache, wenn jahrelang genährter Haß gegen Literaten und Philosophen in einer urethralen Aktion gegen die eigenen Redaktionskollegen (das Wort „Genossen“ paßt hier nicht mehr recht) losbricht. Und sich der mächtige Nenning dann vor noch mächtigeren Tieren aus seiner Clique auf d’ Erd’ haut und schwanzwedelnd kundtut, was für ein braves Hunderl er doch ist im Vergleich zu den anderen bösen im NF.

Da wird ein NF-Redakteur (Michael Siegert) als Rädelsführer einer hechelnden und feigen Meute von Schreibmaschinenattentätern und geistigen Bombenschmeißern (= die Redaktion) „entlarvt“ und die Polente alarmiert. Der Notruf nach Noske findet sich im letzten Satz der Anmerkung 2 („Sicherheitsapparat mit allen Finessen ausstatten, die nötig sind, aber fest in der Hand von Demokraten, vorzugsweise Sozialdemokraten“).

Im Anschluß an seine Glosse druckt Nenning einen Redaktionsbeschluß gegen „Verbindung mit anarchistisch-terroristischen Gruppen“ ab, der schon viel früher gefaßt worden ist. So aber wird suggeriert, die Redaktion habe sich letztendlich schuldzerknirscht den schlagenden Argumenten in Nennings Text unterworfen. Daß gerade die vernaderte NF-Meute es war, die eine klare Abgrenzung gegen die RAF-Bewunderer gefordert und gegen den Widerstand der „neuen Arbeiterklaßler“ im NF (des medialen Nenning und des manageriellen Oberschlick, his masters underdog) ein Hausverbot verlangt hat, bleibt unerwähnt.

Der Polizeicomputer ist dumm. Er wird unsere Namen speichern. Ich habe daher mein Ränzel für den Ernstfall bereits geschnürt: Zahnbürste, Kamm, Gebetbuch. Letzteres enthält den Ausspruch: „Herr, vergibt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Da ich mich mit Nennings „Big Reinlege“ nicht anfreunden kann, habe ich meine Unterschrift unter den Beschiuß vom 14. September zurückgezogen.

Daß die Theorien der RAF bis auf einige wichtige Ausnahmen (wo z.B. Ulrike Meinhof sehr klar gesehen hat) verfehlt und absurd sind, war meines Wissens in der Redaktion des NF nie umstritten. Ich erwähne nur die falsche Strategiekonzeption, den falschen Klassenbegriff (keine „Klasse an sich“, nur eine „für sich“), die ultralinke Einschätzung der Sozialdemokratie als „weiße“ Organisation, die schiefe Auffassung des sozialliberalen westdeutschen Staates als bereits faschistische Kolonie des US-Imperialismus, die unkritische (= zu positive) Einschätzung nationaler Befreiungsbewegungen und der Sowjetunion, die völlige Vernachlässigung der sozioökonomischen Basis, die Fetischisierung der Militanz und des „Willens“, die Pseudolegitimierung der RAF als vom „Volk“ und der Arbeiterklasse isolierte Elite durch das magische Ritual des Selbstopfers.

Ideologisch handelt es sich dabei um ein Konglomerat aus Babeuf, Blanqui, Lenin, Anarchisten und Anarchosyndikalisten, nicht zu vergessen den Existenzialismus und die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule. Psychoanalytisch gesehen gewiß eine „Rationalisierung“, eine aus allen möglichen Quellen gespeiste verbale Rechtfertigung von Handlungen, die unter dem Druck ganz anderer Bedingungen gesetzt werden.

Dennoch ist auch hier eine Diskussion nicht sinnlos. Worte haben ein Eigenleben, können Verhalten suggerieren. Voraussetzungslos offene und ehrliche theoretische Konfrontation kann die Chance bieten, hinter die Worte zum Sinn vorzustoßen. Eine solche Auseinandersetzung ist nur möglich, wenn dafür Freiräume geschaffen werden. Ein solches Medium könnte z.B. das NEUE FORVM sein.

BGS im Bereitstellungsraum:
Wasser und Drängelgitter, die Waffen einer Demokratie

Wer aber heutzutage die Hintergründe des Terrorismus zur Sprache bringen möchte, von dem wird zuvor ein linientreues Werturteil abverlangt gegen „diese Verbrecher“. Und damit ist eigentlich ohnehin schon alles gesagt. Was dann noch kommen könnte, ist die Erörterung von Kriminalitätsentstehungstheorien, ist die Abwägung mildernder oder erschwerender Umstände. Ist verdatterte Aufpudelung, ritualisiertes Entsetzen, fassungsloses Hirngekrame: „Wie konnte so etwas nur passieren, was haben wir denn falsch gemacht, warum hat Gott uns diese Prüfung geschickt?“ Ernst gemeint ist das nicht. Es lenkt den Blick von hier nach „oben“.

Eine Abwehrmaßnahme der Gesellschaft, die sich durch individuellen Gegen-Terror in Frage gestellt sieht und nicht zugeben will, daß er „notwendig“ (im Hegel-Marxschen Sinn) aus ihr entspringt. Er ist eine Realität, die einen desolaten Zustand der Gesellschaft signalisiert, der eben nicht auf individuelle Pathologie reduziert werden kann. Wer davor die Augen verschließt, macht sich selbst blind, wer dazu einen bloß moralischen Standpunkt bezieht, ist selbst schon in das ausweglose Spiel der Gewalt verstrickt. Jedes Angebot der Kommunikation, der Diskussion, jeder Aufruf zu Kritik und Selbstkritik wird in diesem Moment unglaubwürdig. Die Isolierten bleiben in ihren Käfigen. Ich halte es daher für rationaler, mich nicht zu identifizieren, auch nicht augenzwinkernd, und mich nicht zu distanzieren, auch nicht verschämt.

Abgesehen davon erlaube ich mir selbstverständlich, auch zum Thema „Terror“ meine ketzerischen Ansichten darzulegen. NF-Chef Nenning, der uns als „Sympathisanten“ hinstellt, billigt darin — ganz patentierter österreichischer Sozialdemokrat — die hysterische Revolvertat des verkannten physikalischen Genies Friedrich Adler. Dieses enfant terrible, das man ins Büro der Internationale abgeschoben hat, da es den Kurs auf die Sozialpartnerschaft hin wahrscheinlich nicht mitgemacht hätte, war bei Österreichbesuchen in der Brüskierung von SP-Bonzen nicht knauserig („Das hätte mein Vater nicht geduldet“). So weit, so gut.

Aber die Auslöschung des Grafen Stürgkh (Ziel, laut Nenning: Rückkehr zum Parlamentarismus) war meines Erachtens ein Fehler. Nicht, weil sie dem Sozialpatriotismus des Genossen Austerlitz ins Gesicht schlug, sondern weil sie eine (von der Sozialdemokratie zu organisierende) Massenaktion substituierte, mit der Folge, daß die „Massen“ weiterhin ohne Kampferfahrung blieben und die sozialdemokratische Führung sich die „revolutionäre“ Tat Friedrich Adlers nachträglich auf die gestärkte Hemdbrust schrieb.

Ganzseitige Anzeige des Bundeskriminalamts
in der Zeit vom 4. November 1977: Neues Verhältnis zum Nachbarn

Außerdem, und noch ketzerischer, erachte ich ein jedes Menschenleben für wertvoll, und nicht für „wert“, umgebracht zu werden. Soferne ich Karl Marx richtig verstehe, zeichnet sich die proletarische Revolution vor allen vorangehenden dadurch aus, daß sie letztlich das interessenbedingte Gegeneinander von Menschen, aus denen Feindschaft entsteht, beseitigt. Sie befreit den Menschen, der bisher nur ein Phantom war. Und ich meine, daß die Mittel dazu in einer vertretbaren Korrelation zum Ziel stehen müssen.

Ich habe nie eine andere Meinung vertreten, und ich sehe nicht ein, daß ich mich nun in die allgemeine Distanzierungshysterie eingliedern soll.

Mit deiner Weigerung, sagt mir Nenning, rennst du in das offene Messer der Medienterroristen, die ja nur auf so was warten.

G. N. meint wahrscheinlich den Kollegen M. M. vom Kurier, der vom „Feuer“ schreibt, das man in jedes „Terroristen-Rattenloch“ werfen soll. Oder den Kollegen Payrleitner, der (am 3. November) in derselben Gazette von einem jungen Wiener Universitätsassistenten die grausige Mär zu verzählen weiß, derselbe habe sich nicht gegen die RAF ausgesprochen, weil er mit der RAF-Forderung sympathisiert, alle Spitzenverdiener (die ohne entsprechende Leistung Zaster nehmen) zur Kasse zu bitten. Das erscheint dem Spitzenverdiener P. „saudumm“. No na! Der Assistent wird jetzt wohl Schwierigkeiten mit seinem Job bekommen. Hoffentlich ist er beim CV!

Sebastian Leitner, ein weiterer Journalist, auf den Nennings Charakterisierung zutreffen könnte, ebenfalls im bürgerlichen Kurier zu Hause (im Nebenberuf Verhaltensterrorist = Anhänger Skinners), gibt Ratschläge für den Umgang mit „Sympathisanten“: „Schauen wir sie uns an, diese angeblich nur vom Mitleid bewegten Figuren. Prägen wir uns ihre Züge ein, ihre Haltung, ihre Augenfarbe, ihre Haarfarbe. Denn es kann sein, daß wir einem von ihnen schon in der nächsten Zeit in irgendeinem billigen Charterflugzeug begegnen.“ Das firmiert unter „Menschlich gesehen“ (21. Oktober 1977).

Vor solchen Reaktionen, die ja nur zeigen, was hinter den bürgerlichen Phrasen von „Menschlichkeit“ tatsächlich steckt, warnt also G. N. und verwandelt sich dabei selbst in einen „Medienterroristen“, wenn er lauthals verlangt, „solcher Linksintelligenzija“, wie er sie im NF an seinem Busen nährt, gehöre „eins auf den Deckel“. Auch den „Bürgerbubis und Bürgermädis von der Terrorszene gehört eins auf den Deckel“.

Das ist alter sozialdemokratischer Stil: Gegen diejenigen massiv vorgehen, die den Klassenfrieden stören, sie dafür verantwortlich machen, daß der Klassengegner sein wahres Gesicht zeigt, und dann auch noch den Büttel für den Klassengegner machen. Wer damit nicht einverstanden ist, dem wird der Nervus rerum gezogen: Es geht um die Wurst, es geht ums Geld.

Zwar versteht Günther Nenning „alles“, und man kann ihm gar nichts sagen, was er nicht ohnehin schon weiß, deshalb ist das Reden mit ihm sinnlos. Er hört schon gar nicht mehr hin. Aber dafür verzeiht er auch „nichts“. Dennoch plädiert er für „breiteste, angstfreie Öffnung der Demokratie für die Jugend, Darbietung einer Fülle von demokratischen Aktivitäten, Diskussionen auch mit der ‚radikalen‘ Minderheit“. Das sind Selbstverständlichkeiten, die leider noch nie real waren und die „man“ wohl auch nicht so bald realisieren wird. Mit einem Tauben kann man auch schwer diskutieren, noch dazu, wenn dieser ständig den Knüppel schwingt.

Selbstverständlich unterschreibe ich auch eine weitere Forderung Nennings voll und ganz: „Eisernes Festhalten an den ungeschmälerten Grundrechten, viel mehr deren weiterer Ausbau.“ Aber auch das ist platonisch. Würde das so laufen und nicht umgekehrt, hätte es die „Studentenrevolte“ nicht gegeben, nicht die Isolation und Selbstisolation der Linken, nicht die Berufsverbote, die Gesinnungsschnüffelei, nicht den individuellen Terror, nicht die Isolationsfolter, nicht Buback, Ponto und Schleyer, nicht den Distanzierungszwang.

Die RAF hat einen sogenannten Webfehler, und der macht ihr schwer zu schaffen. Etwa 50 Prozent ihrer Anhänger stammen aus dem bürgerlichen Lager (Ulrike Meinhof wollte den Nachweis liefern, daß 50 Prozent „Proletarier“ sind). Hier hakt der clevere Nenning, auch ein Bourgeois, ein. Für ihn ist die Blutorgie, die sich heute in Deutschland abspielt, ein Schlachtfest, bei dem Bürgermädis und Bürgerbubis auf der einen, deren büro-technokratisch und rechtssozialdemokratisch-kapitalistische Papis auf der anderen Seite des Hackstocks ihre Familienangelegenheiten bereinigen. Ein Thema also für Genet oder einen neuen Antonin Artaud.

Jedoch auch Lenin war eigentlich (von Geburt und Ausbildung her) ein Bürger, Engels zuvor, und Ur-Kirchenvater Marx war einer. Der holte sich ganz bürgerlich Schwielen am Arsch vom vielen Sitzen im British Museum, derweil die anderen Genossen — Proleten nämlich — Praxis machten und nichts erreichten, weil ohne Hirn. Karl Marx aber schrieb das „Kapital“.

So verachtet der G. N. in den Mädis und Bubis in Wahrheit seinen eigenen NF-„Kindergarten“, der sich nicht bereit findet für augenblickliche Taktiken und Rechtskurven und Hakenschläge, über die morgen schon das Gras wächst. Einen bourgeoisen „Kindergarten“, der nicht mit der Tante Nenny, der guten, mitmarschiert singend und klingend („Wir sind jung, die Welt ist offen“) auf die blühende Maienwiese der Sozialdemokratie, sondern sich „klammheimlich“ seine unorthodoxen Gedanken macht. Und deshalb als Klub der „Todestriebler“ seine Watschen kriegt.

„Rigorose Parteinahme für die wirkliche Bewegung zum Sozialismus“ verlangt Nenning. Das erinnert ein wenig an den „realen Sozialismus“ anderswo. Dort ist, wie manche behaupten, schon längst eine „neue“ Klasse“ am Ruder. Nenning spielt Jubelagent für die „neue Arbeiterklasse“, bestehend aus prominenten Angestelltengewerkschaftspräsidenten, Nationalbankpräsidenten, Polizeipräsidenten und allerlei anderen Präsidenten — mit einem Wort, er ist Opportunist.

Für diese „neue Klasse“ postuliert G. N. eine Vorhut, die Studenten. Die dann, so sie nicht spuren, von der „vorzugsweise“ sozialdemokratischen, „d.h. kapitalistisch gebliebenen“ Polizei in die Mangel genommen werden. Nenning, der Bürgerpapi.

Nach Nennings Rezept auf den Deckel bekommen inzwischen unsere westdeutschen Genossen, die von unzähligen „Hausdurchsuchungen“ und anderen „Maßnahmen“, die im Schutz der Nachrichtensperre verbrochen worden sind, ein trauriges und zorniges Lied singen können. Und auch in Österreich beginnt bereits die Hatz (siehe den Hubschrauber-Gendarmerie-Überfall auf der Westautobahn am 2. November, bei dem zwei unschuldigen Ausländern „nicht gerade sanft“, wie die Zeitungen schrieben, „auf den Zahn gefühlt“ wurde).

Ulrike Meinhof hat, neben vielen Irrtümern, in die sie sich stürzte, doch eines erkannt (vgl. „Letzte Texte“ im NF Juli/ August 1976): daß die deutsche Sozialdemokratie im Laufe von drei historischen Phasen (Erster Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit und nach 1945) mit Erfolg bemüht war, ja keine sozialistische Alternative (das Fichtesche Erbe bei Marx!) in Westeuropa zuzulassen, sondern sich im kapitalistischen System und im Vertrauen auf dessen „objektive“ Weiterentwicklung zum Sozialismus (der Anteil Hegels an Marx!) möglichst häuslich einzurichten. Niemand anderer als der Kapitalismus selbst „ist die Weltrevolution“, wie Reinhold Oberlercher, ein Marxist Nenningschen Formats, es ausdrückt.

Die Ereignisse rund um das Jahr 1969 haben dieses Programm gestört. Aber nun sollen diese Erfahrungen rückgängig gemacht werden. Schmidt und Strauß träumen von einer neuen Großen Koalition. Die linke Szene muß verschwinden. Deutschland gelingt der Durchbruch zur imperialistischen Großmacht. Mogadischu war ein Signal. Was fürderhin radikal ist, wird in faschistisches Fahrwasser umgelenkt. Wer ist schuld daran? Die „Terroristenszene“? Sie ist, wie bisher in der Geschichte, nur die Leinwand, auf die sich die Schatten der eigentlichen Protagonisten projizieren. Sie ist das Alibi für die Fehler und Versäumnisse der (nicht-voluntaristischen) „authentischen“ Arbeiterbewegung. Terroristen sind jene, die kapitalistische „Entfremdung“ in einem sehr fortgeschrittenen, beinahe ausweglos erscheinenden Endstadium dieser Gesellschaftsordnung darstellen.

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