FORVM, No. 428/429
August
1989

Bis zur letzten Lampe

In Wackersdorf sind die Bauarbeiten eingestellt, in Nagymaros auch, in Engelhartstetten sind sie vertagt, am Strom und in seinen Chefetagen herrscht Verwirrung. Das Werkel ist ins Stocken geraten, bietet damit jedoch wenig Anlaß für das Öffnen von Champagnerflaschen. Die Ruhe vor dem nächsten Sturm, heiße er Donaukraftwerk Wien oder WAA La Hague, läßt sich sinnvoller nutzen, zur Bestimmung der Richtung, aus der der Wind seit hundert Jahren weht. Orientierungshilfe bietet, gerade zur rechten Zeit

Wolfgang Zängl: Deutschlands Strom
Die Politik der Elektrifizierung von 1866 bis heute
CAMPUS 1989, 460 Seiten, DM 48,—

Zwar kann auch Zängl nicht mehr zählen, zur wievielten Runde der Gong („Lichter gehen aus!“) diesmal ruft, aber die akrıbische und (als Dissertation) bisweilen breite Geschichte der Elektrifizierung — immer im Sinne der Durchsetzung der Elektrizität verstanden, nicht im Sinne ihrer Technik — legt doch die Hauptetappen und die große Linie frei.

Von den Anfängen, als die Elektrizität sich noch ganz klein machte und beispielsweise die Drehschalter der Gaslampen imitierte, um sich in die Haushalte einzuschleichen, von diesen bescheidenen Anfängen bis hin zur Herrschaft in Atom- und auch Nichtatomstaaten findet Zängl eine „unglaubliche Kontinuität“: Die „alltäglichen Eroberungszüge der Elektrizität“ sollten jeden Generalstab vor Neid erblassen lassen.

Die Kriegsmetaphern sind wörtlich zu nehmen, vom offiziell so genannten „Dortmunder Elektrofrieden von 1908“ führen die „Heerstraßen der Elektrizität“ (Oscar von Miller, deutscher E-Pionier über die Hochspannungsleitungen) bis zum „Wirklichen deutschen Elektrofrieden von 1929“ und münden so folgerichtig wie vorausschauend 1932 in die Großoffensive: „Die Elektrowärme marschiert!“ schlägt ein Fachblatt den Takt. Nachdem das Großdeutsche Reich dem Beispiel gefolgt war und sich unter anderem die Wasserkräfte der Ostmark einverleibt hatte, wurden hier wie dort Strukturen betoniert, die den Zusammenbruch der politischen Diktatur unbeschadet überstanden. „Das RWE (der größte deutsche Stromerzeuger J. L.) war und ist ein Staat im Staat“ und unterscheidet sich von seinen österreichischen Pendants, die Zängl nur am Rande streift, allenfalls insofern, als deren Verbrauchszuwachsprognosen vom zuständigen Ministerium der Einfachheit halber übernommen werden.

Die Schlacht ist geschlagen, aber der Endsieg steht noch aus, mißliebige Konkurrenten und uneinsichtige Bürger verweigern immer noch jenem Tagebefehl den Gehorsam, den die bayrischen Isar-Amper-Werke schon 1958 ausgegeben haben und demzufolge nichts so „dringlich“ ist wie die „unablässige Stromwerbung ‚bis zur letzten Lampe‘ (worunter bekanntlich auch das letzte Nachtspeichergerät, der letzte gewerbliche Wärmestromverbraucher zu verstehen ist)“.

Im Rückblick verwundert zweierlei, der Siegeszug selbst und sein doch erst später Triumph. Technisch stand um die Jahrhundertwende schon alles bereit, was das deutsche Heim elektrisch rein und warm hält, aber die Elektrifizierung auch der Haushalte muß bis in die fünfziger Jahre warten.

Zuvor waren die Stromtruppen an anderen Fronten beschäftigt, übermächtig beleuchtete der Hauptkonkurrent, das Gas, die Städte und Bürgerstuben. Vorkämpfer wie von Miller erkannten bald, daß zunächst gut sichtbare und reich frequentierte Brückenköpfe zu besetzen waren, öffentliche Plätze, Wirtshäuser und andere Stätten der Einkehr. „Die Anordnung eines zweiten Strahlofens seitens des Manuals verhütet das Steifwerden der Hände beim Berühren der kalten Tasten“, lockte „Der Elektromarkt“ die Organisten.

Bei der Beleuchtung war der Sieg nicht lange aufzuhalten, Strom und Gas einigten sich stillschweigend darauf, dem einen das Licht, dem anderen die Wärme zu überlassen. Nun waren Energien frei für die zweite, die innere Front. Die diversen „Elektrizitätsfrieden“ sind Kapitulationsurkunden konkurrierender Kleinerzeuger, E-Genossenschaften auf dem Land, E-Werke in der Stadt. Mit ihnen springen die sich bildenden Kartelle bald nach Belieben um.

Die Kunden hingegen wollen umworben sein. Auf daß die Industrie sich ihren Strom nicht einfach selbst erzeuge, wird sie mit Sondertarifen ebenso gehätschelt wie der Kleinabnehmer mit Gratisanschluß, bisweilen auch Gratisstrom und -elektrogeräten. Wer den Danaern mißtraut, der findet sich vielleicht alsbald in einer Mustersiedlung, die nach dem Rezept Georg von Siemens gestaltet ist. „Man legte einfach in die neuen Straßen keine Gasrohre mehr“ und baute noch einfacher in die neuen Häuser keine Kamine mehr ein.

Trotzdem bleibt, neben den konkurrierenden Energien und den konkurrierenden Stromerzeugern, ein dritter Gegner: Der säumige Konsument, der den Strom nur zu gewissen Zeiten abruft und keine Rücksicht darauf nimmt, daß die Kraftwerke rund um die Uhr laufen. Verbrauchstäler tun sich auf und müssen gefüllt werden, am Sonntag kann die Kirchenbeleuchtung die Not lindern, zu Mittag, wenn in der Industrie gleichfalls die Arbeit ruht, springt der E-Herd in die Lücke. Anfangs zu erfolgreich, die Strombedarfsspitze verschob sich auf die Mittagsstunde und regte die Elektrogeräteindustrie, den engsten Verbündeten der Erzeuger, zur Erfindung eines sog. „Elektroökonom“ an, der die Speisen den ganzen Tag bis zur Ungenießbarkeit zusammenköchelte und vom Markt genommen werden mußte.

Ein seltener Erfolg der Verbrauchermacht. Das Internationale Glühlampenkartell begrenzte 1924 die Glühdauer einer Birne auf 1000 Stunden. So lange glühen sie heute noch, das Kartell hat nur in den Anfangsjahren nicht so recht funktioniert und mußte sich 1928 von Werner von Siemens zur Ordnung rufen lassen: „Es ist doch unzulässig, wenn Lampen, die eigentlich nach einer Brenndauer von 1000 Stunden durchbrennen sollten, 3000 bis 5000 Stunden brennen.“ Den Glühlampenherstellern ist seitdem geholfen, den Elektrizitätserzeugern nicht, ständig steigt ihre Produktion, ständig müssen neue Anwendungsbereiche gefunden werden.

F. W. Bernstein, wird auch fortgesetzt

Die heizbare Dachrinne gibt es schon, den beschlagfest elektrobeheizten Rasierspiegel auch, stand-by-Fernsehgeräte stehen ebenso dauernd unter Strom wie manche Photokopiergeräte. Es dient schließlich alles dem vornehmsten Ziel: der Sparsamkeit:

Mit dem elektrischen Händetrockner lassen sich die Kosten beträchtlich senken, denn für 1 kWh kann man sich etwa 40 mal die Hände trocknen.

Solches Kleinvieh machte zwar noch 1967 Mist, aber das große — und konjunkturunabhängige — Potential wurde doch, allen Elektrofrieden mit dem Gas zum Trotz, nie aus dem Auge verloren. Seit der Weltwirtschaftskrise drängt die E-Wirtschaft zunehmend auf den Wärmemarkt im Haushalt. Wohl wurde auch die energieintensive Industrie (Aluminium, Stickstoff) nie vernachlässigt, aber der private Kunde heizt auch zur Nacht und in Zeiten wirtschaftlicher Depression. Obendrein hilft er bei der Einebnung des berühmten Nachtverbrauchstals. Und dies so eifrig, daß inzwischen in der BRD wie in Österreich an kalten Wintertagen das Nachttal die Tagesspitze überragt.

Mit ökonomischen Argumenten ist allerdings der E-Wirtschaft nicht beizukommen, schon 1936 rechnete ein Dissident vergeblich vor, daß der „Großverbraucher, der ⅚ der Gesamterzeugung nimmt, den Strom ebensogut selbst erzeugen könnte“. 1951 plädierte ein anderer Dissident, der Direktor der Großkraftwerke Mannheim, ebenso vergeblich für eine dezentrale und „verbrauchsorientierte Stromerzeugung“. Das Kartell hingegen hatte sich längst „für die Großraum-Verbundwirtschaft entschieden“.

Mit ökologischen oder ästhetischen Argumenten ist der E-Wirtschaft auch nur beschränkt beizukommen. Zwar ist der Widerstand so alt wie die Wasserkraft, 1894 bewahrte eine erste Bürgerinitiative die „Schönheit“ des Rheinfalls bei Schaffhausen vor einer Staumauer. Aber eine Änderung der Energiepolitik ist bislang nicht einmal der kräftigen deutschen Anti-AKW-Bewegung gelungen. Und der AEG-Direktor Klingenberg wußte bereits nach dem Ersten Weltkrieg, was heute jeder „Verbund-Gesellschaft“-Lehrling weiß: „Die Erfahrung hat gezeigt, daß sich für die ausgebauten Wasserkräfte bisher immer noch die erforderliche Belastung gefunden hat.“

Offenbar hat die E-Wirtschaft nur einen Gegner, vor dem sie selbst die Flucht ergreift. Zur Abwendung der Folgen von Tschernobyl von den Grundlagenforschern der Atomenergie ist an der Münchner Maximilians-Universität an alle „Anwender radioaktiver Isotope“ folgendes Rundschreiben ergangen:

... werden alle Mitarbeiter gebeten, darauf zu achten, daß möglichst wenıg Kontamination hineingetragen (in die Labors — J. L.) wird. Besonders sollten also Schuhe beim Betreten kontrolliert und gegebenenfalls gewechselt werden.

Im Aufspüren solcher Schlaglichter liegt Zängls eine Stärke, in ihrer Beiziehung zur Illustration der ganzen Geschichte seine zweite. Heikler werden die Ausflüge, die der gelernte Ingenieur und Sozialwissenschafter bisweilen in die Philosophie und die Erinnerung an frühere bessere Zeiten unternimmt. Der heikelste Punkt allerdings ist nicht der Zängl’schen Bestandsaufnahme vorzurechnen.

Die derzeitige Ruhe an der Stromfront wird nicht lange halten, weder bei der österreichischen Wasserkraft noch bei der deutschen Kernkraft, und schon gar nicht beim Nachbarn CSSR, der gleich in beiden Bereichen Kraftwerke mit einer Naturwüchsigkeit aus dem Boden stampft, mit der seit hundert Jahren alle Widerstände und Widersprüche planiert werden. Wohl macht Zängl Mut, die „Diktatur des Anschlusses“ — für österreichische Leser: des Stromanschlusses — ließe sich brechen, aber in der Geschichte findet er wenig Fingerzeige zum Ausgang.

Er müßte sich vor dem nächsten Tschernobyl finden. Vielleicht hülfe, im Anschluß an die Dissertationsschrift, eine Habilitationsschrift?

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