FORVM, No. 195/II
März
1970

Brief an Husak

O. S., Professor für Nationalökonomie in Prag, nun in Basel, stellv. Ministerpräsident neben Dubček, Reformerhaupt, Lieblingsziel Moskaus, im Oktober 1969 aus der Partei gesäubert.

An das Präsidium der KPC:

Sie sind nun die politischen Repräsentanten der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, gestützt von einer ausländischen Macht, bei der die Entscheidungen liegen. Sie haben es Ihren politischen Gegnern unmöglich gemacht, sich gegen Angriffe und falsche Beschuldigungen zu verteidigen.

Ich war 35 Jahre lang Mitglied der kommunistischen Bewegung. Jetzt bin ich eines der vielen Opfer der gegenwärtigen reaktionären politischen Entwicklung unseres Landes. Ich betrachte es als meine Pflicht, noch einmal vor der ganzen Welt zu protestieren — im Namen all derer, die heute in der Tschechoslowakei ihrer progressiven und reformistischen Anstrengungen wegen verfolgt werden, im Namen eines ganzen Volkes, das unter hartem wirtschaftlichem und moralischem Druck steht und sich nicht mehr frei äußern kann.

Sie charakterisieren die Reformbewegung, die von den progressivsten und aufrichtigsten Mitgliedern der KPC angeführt wurde, als eine opportunistische und konterrevolutionäre Kraft.

Sie beschuldigen die Vertreter dieser Bewegung, die dem Denken und Fühlen des Volkes so nahe waren, antisozialistischer Ansichten.

Der Gipfel der Diffamierung ist jedoch Ihr Versuch, die Reformer für den verheerenden Zustand der tschechoslowakischen Wirtschaft von heute verantwortlich zu machen.

Das grundlegende Ziel des Sozialismus war die allgemeine Befreiung des Arbeiters, nicht nur von wirtschaftlicher Not und Ausbeutung, sondern auch von politischer Unterdrückung und Entfremdung. Soziale Verhältnisse sollten geschaffen werden, die eine rasche Entfaltung der Produktivkräfte garantieren und die Grundlage für kulturelle und menschliche Entfaltung des ganzen Volkes bilden sollten.

Früher gaben die meisten von Ihnen zu, daß eine solche Entfaltung unter den alten „sozialistischen“ Verhältnissen nicht erzielt werden konnte — unter einem Regime, wie es auch heute wieder praktiziert wird. Dies ist unmöglich innerhalb des bestehenden wirtschaftlichen Managements, des bestehenden Mechanismus für die Auswahl und Ausbildung der wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte, des Fehlens von Effizienzkriterien für die wirtschaftliche Aktivität, der Ausschaltung aller auf wirtschaftliche Unabhängigkeit gerichteten technischen und qualitativen Initiativen, der Ausschaltung der Unternehmerfunktion für die einzelnen Unternehmungen.

Heute verhalten Sie sich, als ob Sie das Grundkonzept der Wirtschaftsreform nie gebilligt hätten, als ob nie noch weiterreichende Reformen vorbereitet worden wären. Heute wollen Sie die jahrelange Diskussion in der Partei und in der Bevölkerung rückgängig machen, eine Diskussion, an der Hunderte unserer führenden Theoretiker und Praktiker teilgenommen haben.

Sie sind zurückgekehrt zu einer primitiven Argumentation, auf die, unter dem Eindruck wissenschaftlicher Analysen und Beweise, nicht einmal Novotny mehr zurückgriff. Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, daß es genügen würde, das Management und die Arbeitsdisziplin zu verbessern, um die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden. Aber Sie verschweigen, daß weder das Management noch die Arbeitsdisziplin verbessert werden kann, wenn man in den Fabriken und sonstigen Betrieben nicht echtes Interesse schafft.

Sie glauben, daß ein solcher Wandel durch bloße Appelle erzielt werden kann, durch Mobilisierung „politischer“ Kräfte und durch harte Worte, Ein solcher Glaube ist unbegründet. Und sie können nicht die ungeheure Verantwortung für die wirtschaftlichen Verluste abwälzen, zu denen ein solcher Glaube führt.

Sie betonen immer wieder, daß für die Durchführung der Wirtschaftsreformen nichts Konkretes vorbereitet worden war. Sie verlangen eine „seriöse“ marxistische Analyse des gegenwärtigen Zustands der Wirtschaft und der wahren Ursachen der wirtschaftlichen Mißerfolge. Aber Sie haben der Bevölkerung noch immer nicht gesagt, was Sie an der mehr als 100 Seiten langen Analyse falsch finden, die im Sommer 1968 im Auftrag der Regierung von einer Gruppe führender Wirtschaftsexperten ausgearbeitet wurde. Sie haben immer noch nicht erklärt, warum dieses Dokument der Öffentlichkeit nicht vorgelegt wird.

Ebensowenig haben Sie erklärt, was an der ausführlichen Dokumentation zur Vorbereitung der Wirtschaftsreform nicht stimmte, Ihnen sind offenbar die gigantischen wirtschaftlichen Verluste egal, die dadurch entstanden, daß die Produktion jahrelang nicht an der Nachfrage orientiert war, daß jeder Anreiz für qualitative Verbesserungen fehlte, für Erfindergeist, für Fortschritt, für strukturelle Veränderungen, für optimalen Einsatz der Produktionsfaktoren usw.

Um den Übergang unserer Gesellschaft auf ein höheres Niveau zu gewährleisten, müssen die folgenden Genossen ausgeschlossen werden ...

Es ist erschütternd zu sehen, wie die intensiven Anstrengungen eines Jahres, die grundlegenden Ursachen der ständig wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufzudecken, durch brutale politische Intervention liquidiert wurden.

Männer, die sehr genau wissen, wie das Novotny-Regime jedes ökonomische Wissen und jede Verwirklichung neuer Ideen und Reformvorschläge unterdrückte, versuchen nun, die Reformer für die katastrophale wirtschaftliche Situation des Landes verantwortlich zu machen, um die ihnen aufgezwungenen politischen Maßnahmen gegen diese Reformer zu rechtfertigen.

Die Geschichte kennt zahllose Fälle, wo Politiker alles verleugnen, wofür sie früher eingetreten sind, frühere Kampfgefährten opfern und ihr Handeln verurteilen, nur um ihre eigenen Machtpositionen zu retten. In der ČSSR aber machen dieselben Leute, die selbst politisch verfolgt und diskriminiert wurden, sich zu den Hauptstützen des Systems, das sie früher verfolgte.

Die Wiedereroberung aller wichtigen politischen und ideologischen Positionen durch Reaktionäre und Konservative, die Ausschaltung aller Progressiven aus den wichtigen Funktionen der ČSSR wird zu einem grundlegenden Hindernis für jeden Wandel der überholten Formen „sozialistischer“ Gesellschaft.

Die tschechoslowakische Presse wird heute von seichten Propagandisten kontrolliert, die im Frühjahr 1968 keinen einzigen polemischen Artikel zu schreiben wagten, obwohl es genügend Gelegenheit zur Kritik an der Reformbewegung gab. Eine Ideologie, die die öffentliche Diskussion und die Konfrontation mit der Realität fürchtet, hat mit wissenschaftlichem Sozialismus nichts zu tun. Eine solche Ideologie wird denkende Menschen nie für sich gewinnen.

Ihre ständige Behauptung, daß niemand verhaftet und wegen seiner politischen Anschauungen verurteilt wurde, ist glatter Hohn. Genügt es nicht, daß die meisten ehrlichen und aufrechten Kommunisten, die sich weniger um ihre Karriere als um den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sorgten, aus ihren Posten und politischen Positionen vertrieben wurden? Ihre Verurteilung in manipulierten Prozessen würde den Gipfel der gegenwärtigen antihumanen politischen Entwicklung darstellen, den letzten Beweis für den reaktionären Charakter dieser Entwicklung.

Sie können noch so laut verkünden, daß es ihr einziges Ziel war, sich von antisozialistischen und opportunistischen Elementen zu befreien, „um den Sozialismus zu retten“. Sie werden das tschechische und das slowakische Volk nie überzeugen. Noch weniger werden Sie die Meinung der übrigen Welt von der Wahrheit einer solchen Behauptung überzeugen können. Die Taktik ist zu alt.

Die wahren Opportunisten waren immer die, die die Lebensinteressen der Arbeiter ihrer eigenen politischen Karriere und den Wünschen der Machthaber opferten. In der früheren politischen Konstellation hätten alle tschechischen und slowakischen Intellektuellen, die jetzt verfolgt werden, Karriere machen können, wenn dies ihr Interesse gewesen wäre.

Sie können Hunderte, Tausende dieser Progressiven eliminieren. Sie können sie zum Schweigen bringen. Sie können sie quälen. Es wird Ihnen nie gelingen, sie zu Feinden des Volkes zu machen. Unser Volk wird ihre Namen nie vergessen.

Das passive Hinnehmen der Machtkonstellation wäre hinzunehmen. Etwas anderes ist die aktive Diskreditierung der großen, humanen sozialistischen Idee durch eine Propaganda, die alle menschlichen Werte zerstört, weder vor Lüge noch vor Demagogie zurückschreckt.

Die Politiker, die nun versuchen, die progressive Haltung und ethische Kraft unseres Volkes zu unterdrücken, erleichtern zwar den Invasoren ihre Aufgabe, aber sie können das Denken und Fühlen unseres Volkes nicht verändern. Auf lange Sicht kann die Menge der Propaganda die Wahrheit nicht aufwiegen.

Auch wenn die gegenwärtige politische Situation die Welt dazu veranlassen mag, zu ihren täglichen Geschäften zurückzukehren und die früher so verheißungsvolle Entwicklung in der Tschechoslowakei vorübergehend zu vergessen: nie wird unser Volk die großen Ideen aus den Augen verlieren, von denen es sich im Frühjahr 1968 leiten ließ.

Selbst die mächtigsten Diktaturen sind — unabhängig von den Ideologien und Machtmechanismen, auf denen sie beruhten — gestürzt, wenn sie die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung behinderten. Früher oder später wird sich die Kraft der Notwendigkeit bemerkbar machen. Der Prager Frühling wird in allen sozialistischen Ländern auftreten.

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