FORVM, No. 178
Oktober
1968

Briefe zur Politik

Die hier erstmals veröffentlichten Briefe Arthur Schnitzlers stammen aus dem Teil des Nachlasses, der sich im Besitz Heinrich Schnitzlers befindet. Druckvorlagen waren die Durchschläge maschinegeschriebener Briefe. Die Orthographie wurde unwesentlich normalisiert. Im übrigen sei daran erinnert, daß sich Arthur Schnitzler während des Ersten Weltkrieges niemals in einer Weise äußerte oder betätigte, die man als chauvinistisch bezeichnen könnte. Zusammengestellt wurden die Briefe von Reinhard Urbach.

Arthur Schnitzler an Elisabeth Steinrück [1]

Wien, 22.12.1914

Meine liebe und gescheidte Liesl, Du hast mir dementsprechend einen lieben und gescheidten Brief geschrieben, aber allerlei stimmt doch nicht ganz und so setze ich mich in aller Bescheidenheit zur Wehre. Ich bin weder verbittert noch vergrollt, wie Du mit Beziehung auf das Schicksal des Medardus [2] in Berlin zu glauben scheinst; auch war ich keineswegs (— schon lang vor dem Krieg — und hab es dem Barnowsky [3] oft vorhergesagt!) unvorbereitet, anläßlich der Berliner Aufführung alles Dumme, was die zünftige Kritik seit je über mich, über Österreich, über Heldentum und über Skepsis zu melden weiß, in gesteigertem Maße wieder zu hören. Dabei will ich zur Vermeidung von Mißverständnissen bemerken, daß ich den Medardus keineswegs für ein Meisterwerk halte (sondern nur für ein prächtiges Theaterstück mit zahlreichen dichterischen Einfällen hohen Rangs) — nicht etwa für ein Drama, das man mit dem Hamlet oder dem Homburg in einem Atem nennen dürfte. Aber in der Kunst darf man ja sagen: Die Gestorbenen haben Recht! Und käme heut der Hamlet neu heraus oder gar der Homburg — verlaß Dich drauf, wir bekämen all den Blödsinn, den das Recensentenvolk anläßlich des Medardus über den Heldenbegriff zu entwickeln für nötig findet, in gleicher Weise aufgetischt; — als wär es wirklich und wahrhaftig das Wesen des Helden (— des für das Drama brauchbaren Helden wohlgemerkt) schon im ersten Akt zu wissen, was er im letzten Akt für einen Heldentod sterben wird und sich in der Zwischenzeit wie ein eigensinniger scheuklappiger Narr zu gebärden, der nichts vor sich sieht als sein Ziel, während er doch erst dadurch interessant wird, daß er dieses Ziel immer wieder aus den Augen verliert, daß er zaudert, daß er schwankt, daß er irrt — daß er das Leben mehr liebt als den Tod — daß er also im Sinne germanistisch-reporterhafter Weltanschauung überhaupt kein „Held“ ist. Unter dieser — angeblichen Weltanschauung hätte der Medardus auch im tiefsten Frieden zu leiden gehabt; — was mich diesmal so besonders angewidert hat, war nur, daß die Leute nun überdies noch den Weltkrieg benützen, um sich groß und den Medardus klein zu machen. Daß sie sich anstellen, als wäre nun mancherlei, was bisher als Kunst gegolten (— und auch weiterhin gelten wird —) ein für alle Mal erledigt; — als wäre die einfache Linie an sich schon etwas Edleres, als die vielfach gewundene; — als wäre die Kraft an sich etwas Gottgefälligeres als die Zartheit; — als wäre das Pathos der Unbeirrbarkeit von besserem Klang als der Ton zweifelnder Frage — ja, als wäre es nicht eben der Zweifel, der den Losgänger zum Helden, den Frommen zum Gottsucher — die Figur (im Leben wie in der Kunst) zur Gestalt bildete! — Aber ich gerate ins Allgemeine und will nur noch sagen, daß der Medardus mir weniger Fragezeichen zu enthalten scheint, als die meisten andern meiner Stücke, daß ich aber nach wie vor lieber Fragezeichen dichten werde, als Ausrufungszeichen. Zum speziellen Fall der Berliner Aufführung will ich noch hinzufügen, daß ich eben daran war, Barnowsky telegraphisch abzuraten — als die Einladung zu den Proben erfolgte. Die Kritik wäre ja in keinem Fall vernünftiger gewesen — aber dem Publikum hätte man das Stück immerhin mund- und ohrgerechter machen können. Nun, hier würden Details ins Unendliche führen. Aber, so sehr ich auf alles gefaßt war — eine materielle Enttäuschung hat die Ablehnung meines Histörchens doch zur Folge gehabt; — und was nun diesen Punkt anbelangt, meine kluge und liebe Liesl — so fern ich auch von Mutlosigkeit und dergleichen mich fühle: das plötzliche Herabsinken, ja mit einiger Übertreibung könnte man sagen, Versagen meiner Einnahmen, — so wie die — durch das oben gekennzeichnete Zeitungsgeschwätz unterstützte — Publikumstimmung gegenüber Produktionen, wie ich sie zu bieten vermag, und meine dadurch auf längere Zeit herabgeminderten Aussichten vermöchten auch bohemigere Naturen als mich etwas bedenklich zu stimmen. Vor „Einschränkungen“ scheu ich gewiß nicht zurück; — aber überlege nur einmal die Gestaltung unserer äußeren Verhältnisse, so wirst du bald finden, daß es um eine so durchgreifende Änderung unseres Haushalts — wie sie vorläufig noch nicht gebieterisch gefordert wird, wie sie aber im Laufe der Jahre — wenn es nicht bald besser, viel besser wird — notwendig werden müßte — eine weitaus kompliziertere Sache wäre, als in irgend einem für Dich vorstellbaren Fall Deiner näheren oder entfernteren Umgebung. Dies sind aber für mich keine andern als flüchtige Gedanken — keineswegs ernstliche Erwägungen — und ebensowenig wie ich verbittert bin, denke ich daran, mich „einzupuppen oder abzuwenden ...“ Laß diese Legende von mir in Dir nicht aufkommen. Wenn ich auch in keinem Schützengraben liege — ja es sogar vermeide, mich da und dort „zum Weltkrieg zu äußern“ — ich sehe mich mit beiden Beinen in unserer Zeit stehen wie irgend einer, — und hab ich auch nicht eben leitartikel- oder feuilletongerechte Gedanken über Vaterland, Heldentum und Politik, — es ist mir wahrscheinlich schon Vernünftigeres durch den Kopf gegangen, als vielen, die sich lyrisch und essayistisch betätigen. Auch hat man wenig Lust, sich der Öffentlichkeit mitzuteilen, wenn die Zensur es (was ich ihr in solchen Zeiten angesichts der Unreife unseres Lesepublikums nicht verwehren will) in der Macht hat — aus den dunkelsten Ideen ein weißes Blatt zu machen. Du schreibst, „daß die ungeheuren Umwälzungen irgendwie auch auf mich werden wirken müssen“, als wollt ich mich dagegen auflehnen, als würd ich von der Weltgeschichte, die wir miterleben, gewissermaßen nichts wissen wollen, als bedeute mir persönlich all das Große und Grauenhafte, was sich begibt, eine Störung in egoistisch-literarischem Sinn —, als hätt ich die Absicht, diese Zeit nicht auf mich wirken zu lassen. Ganz abgesehen davon, daß es ein kindisches Unterfangen wäre von einem, der seinem Beruf nach — nicht ein Spiel, aber doch ein Fühler von jedem Druck der Luft ist, [4] — den Orkan überhören zu wollen —; ich wage zu behaupten, daß in manchen der Sachen, die ich schon vor dem Krieg geschrieben und in fast allen, die ich entworfen (Olga kennt diese Pläne) — eine Ahnung, oder besser ein Vorverstehen dieser Epoche herauszuspüren ist; — und in dem, was noch kommen wird — oder soll — kann ganz natürlicher Weise der Nachklang der Dinge, die wir miterleben, mitleiden — nicht fehlen; wenn er auch nicht jedem gleich deutlich werden dürfte. Wenn einer nicht mitschießt, ja nicht einmal mittrommelt, ist er noch kein „Abseitssteher“; das Kriegsgeschwätz soll der Teufel holen. Und mit Grillparzer (der ja viel schönere Sachen gedichtet hat als ich) hab ich im Wesen (so sehr ich ihn liebe) wenig gemein. Er hat wirklich mehr geraunzt als nötig war. Was ist ihm denn so Schlimmes passiert —? Ein Stück, den Ottokar, hat ihm die Zensur verboten — worauf der Kaiser selbst ihn fragen ließ, was er für eine Entschädigung haben wolle. Dann ist (nach 6 Erfolgen etwa) ein Stück „Weh dem, der lügt“ zu Unrecht durchgefallen — worauf er durch 30 Jahre seine übrigen Werke „im Pult verschlossen hielt“. Wenn ich das getan hätte? Die deutsche Bühne wäre mich längst los. Soll ich dem entgegen hier meine offiziellen Erlebnisse aufzeichnen? Du kennst sie — und wirst nicht leugnen, daß ich ein wenig mehr Anlaß hätte, (den Unterschied der Begabung immer außer acht gelassen) — mich über Mitwelt — Mitland — Mitstadt — aufzuhalten, als mein großer und geliebter verstorbener Landsmann.

26.12.

Der Brief ist ein paar Tage liegen geblieben — ich will ihn nun abschließen, damit er Dir noch unsere Neujahrsgrüße und -wünsche rechtzeitig bringe. Zu sagen wäre ja noch so viel — so unendlich viel — nicht auf unser individuelles Los bezüglich — sondern ganz im allgemeinen; aber man wird ja doch ein persönliches Zusammensein abwarten müssen, um sich ganz von Herzen und von Kopf miteinander aussprechen zu können. Abgesehen von der serbischen Angelegenheit (deren Bedeutung für das große Ganze wirklich nicht überschätzt werden sollte) scheint es ja günstig zu stehen, — in Hinsicht auf die voraussichtliche Dauer der — wie sagt der Feuilletonist? — großen Zeit — bin ich (obwohl man es in der großen Zeit nicht sein darf, wie ich höre) etwas skeptisch.

Den Roman von P. [5] kenn ich noch nicht. Aber wie charakteristisch Deine gewiß vollkommen richtige Bemerkung, daß die Sympathie für Österreich durch derartige Werke (ich nehme der Einfachheit wegen an, daß Dein Urteil zutrifft) — nicht gefördert wird. Österreich wird für ein mißlungenes oder irgendwie widerwärtiges Produkt verantwortlich gemacht! „Echt österreichisch“, sagen sie draußen (trotz aller Bundestreue), wenn sie etwas mißbilligen (bei uns übrigens auch) — sagt aber einer hier „echt deutsch“, wenn von draußen irgend was Trampeliges oder Plattes oder Schnoddriges hereingeliefert wird? In Österreich haben wir uns die Bezeichnung „Echt deutsch“ für alles Edle, Starke, Schöne aufgespart — (wie die Deutschen selbst) — wir verbinden die Worte „echt“ und „deutsch“ nur um Zwecke des Preisens miteinander; — und drüben gerade das Gegenteil. Es geht uns Österreichern fast schon wie uns Juden —; übrigens, mit Beziehung aufs Ausland, könnte man fortsetzen: uns Deutschen — wie uns Österreichern — und uns Juden. Wir werden verkannt. Sonderbar, daß wir uns in dieser Zeit als alles zugleich fühlen müssen. Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher. Es muß wohl so sein — denn beleidigt fühle ich mich im Namen des Judentums, des Österreichertums und Deutschlands, wenn man einem von den Dreien was Schlimmes nachsagt.

Die Kinder interessieren sich natürlich sehr für den Krieg. Lili [6] besonders, die zu Weihnachten eine Uniform bekommen hat, feldgrau, mit Säbel und Patrontasche; was sie nicht hindert, sich plötzlich den Namen Abraham beizulegen (obwohl das vielleicht ihrer Carriere schaden könnte). Auch führt sie bei Tisch politische Gespräche und behauptete neulich: „Es leben wohl noch einige Serben — aber sie existieren nicht mehr.“ Leider ist sie erst fünfeinhalb Jahre alt, sonst wäre ihr ein Kommando gewiß. — Heini [7] ist Spezialist in Flottenkunde, hat eine ganze Bibliothek dieser Art und zeichnet Schiffe zu Dutzenden (als Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke). Gestern hab ich ihn zum ersten Mal zu den „Meistersingern‘“ geführt, in die Volksoper. Überfülltes Haus, Entzücken überall, und draußen war der Weltkrieg. Dann versuchte ich verschiedene Fahrzeuge, die uns begegneten (vor dem Theater standen keine) zu einer Reise in die Sternwartestraße [8] zu bewegen. Da es neblig und spät war, gelang es mir nicht. „Echt —“ Ah so —.

Nun aber ist’s wirklich genug. Du hast gewiß Sonne und Schnee, Glückliche! — Laß es Dir wohl ergehen, grüße Albert, wenn er bei Dir ist, und sei selbst herzlichst von uns allen gegrüßt!

Dein
Arthur

Arthur Schnitzler an Dr. Gelber

22.12.1915

Sehr verehrter Herr Doktor.

Es empfiehlt sich vielleicht, wenn ich den Standpunkt, den ich in der gestrigen Unterredung mit Ihnen und Ihrer verehrten Gattin vertreten habe, schriftlich mit kurzen Worten nochmals präzisiere.

So wie das „Exposé“ über das in Gründung begriffene Comité zur Rettung verlassener Kinder in Galizien eingeleuchtet hatte, ebenso war ich auch mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Aufruf durchaus einverstanden, bis mir auffiel, daß in diesem nur von galizischen Kindern im Allgemeinen, nicht aber speziell von jüdischen Kindern die Rede war. Dies wurde mir dahin aufgeklärt, daß es sich wohl tatsächlich um eine Hilfsorganisation zu Gunsten der (wie leicht verständlich ist) ganz besonders hilfsbedürftigen jüdischen Kinder handle, daß dies aber in dem Aufruf nicht ausdrücklich erwähnt werden dürfe, weil hiedurch mit Rücksicht auf die Stimmung und Haltung gewisser maßgebender und offizieller Kreise der praktische Erfolg der ganzen Aktion in Frage gestellt würde. Auf meine Anregung an einem eventuellen Ergebnis Ihrer Aktion die andersgläubigen galizischen Kinder in dem entsprechenden prozentuellen Anteil partizipieren zu lassen, vermochten Sie mir unschwer zu beweisen, daß eine solche Methode praktisch kaum durchführbar wäre, daß sie unter den obwaltenden Umständen mit Sicherheit nur zu einer Benachteiligung der jüdischen Kinder führen würde, so wie endlich, daß Aktionen für die christlichen Kinder in Galizien schon von anderer Seite erfolgreich in die Wege geleitet seien.

So ist denn unter Berücksichtigung der gesamten politischen Konstellation gegen die Stilisierung des Aufrufs nichts einzuwenden, umso weniger, als ja die Öffentlichkeit, an die sich der Aufruf richtet, wie Sie mit Recht hervorheben, kaum darüber im Zweifel sein kann, daß es sich hier um eine Wohltätigkeitsaktion von spezifisch jüdischem Charakter handle. Trotzdem widerstrebt es mir, meinen Namen unter ein Schriftstück zu setzen, in dem wissentlich, wenn auch aus durchaus gut zu heißenden Motiven, ja vielleicht könnte man sogar sagen gezwungenermaßen, ein sehr wesentliches Moment mit Stillschweigen übergangen ist. Hieraus könnte den Unterzeichnern des Aufrufs immerhin ein Vorwurf gemacht werden, wenn auch nur von Übelwollenden, die dies aber ihrerseits wieder mit politischen Gründen zu motivieren versuchen könnten; und an diesem Vorwurf wünsche ich nicht Teil zu haben, so sehr ich mit denjenigen, die ihn auf sich zu nehmen bereit sind, und ganz gewiß mit ihrer Sache sympathisiere. Dahingestellt bleibe es, ob die Gefährdung dieser Sache durch eine Ergänzung Ihres Aufrufs, durch die jedes Mißverständnis ausgeschlossen würde, von Ihnen nicht ein wenig überschätzt wird, und ob es nicht am Ende die beste Politik wäre, gerade jenen offiziellen Kreisen gegenüber von Kompromissen auch in verhältnismäßig nebensächlichen Dingen lieber abzusehen. Wir haben hoffentlich bald wieder Gelegenheit, über dies und anderes im Besonderen und im Allgemeinen zu sprechen.

Mir verbindlichen Grüßen an Sie und Ihre verehrte Gattin

Ihr sehr ergebener

Arthur Schnitzler

Arthur Schnitzler an A. H. Fried [9]

19.3.1919

Sehr verehrter Herr Doktor.

Auch mir hat es natürlich sehr leid getan, daß ich durch mein Unwohlsein gezwungen war auf eine Begegnung mit Ihnen anläßlich Ihres Wiener Aufenthaltes zu verzichten. Ihr Kriegstagebuch habe ich, soweit mir die Hefte der einstigen Friedenswarte eben zugekommen sind, (einige aus dem Jahr 15 langten vor einigen Wochen ein) mit begreiflichem Interesse gelesen und Ihre Befürchtung, daß Ihr Werk, wenn es in Buchform erscheint, totgeschwiegen werden könnte, teile ich keineswegs. Sie werden natürlich nicht in jeder Einzelheit Zustimmung finden, darauf kommt es Ihnen wohl auch nicht an, aber die Lebendigkeit Ihrer Darstellung, die Reinheit Ihrer Gesinnung und die Entschiedenheit, mit der Sie Ihre Ansichten vertreten, wird zweifellos auch von Ihren Gegnern gewürdigt werden.

Barbusse ausführlicher zu antworten, als es in jenem flüchtigen, auch von mir unterzeichneten Telegramm geschehen ist, fühle ich kein Bedürfnis, wie ich es ja in dieser ganzen Zeit und übrigens auch schon vor dem Krieg vermieden habe, politisch-publizistisch hervorzutreten. Nicht etwa, weil ich glaube, daß ich überhaupt in diesen Dingen nichts zu sagen hätte oder nicht mitreden dürfte, der Grund ist vielmehr der, daß ich genötigt wäre, wenn ich nur einmal anfınge „mich zu äußern“ mich auch weiterhin im Streit der Meinungen zu beteiligen; — und da nicht nur meine eigentlichen Interessen, sondern vor allem die Art meiner Begabung und daher die Möglichkeit meines Wirkens doch auf einem anderen Gebiete liegen, so finde ich es ebenso überflüssig für mich als für andere, mich auf journalistische Eskapaden einzulassen.

Sie kommen doch bald wieder nach Wien, dann hoffe ich zuversichtlich, Sie zu sehen und mit Ihnen zu sprechen. An eine Reise in die Schweiz denke ich für die nächste Zeit nicht.

Mit verbindlichen Grüßen, auch von meiner Frau,

Ihr sehr ergebener
Arthur Schnitzler

Arthur Schnitzler an Isaac Levine, Berlin

14.4.1926

Sehr verehrter Herr Levine,

Die Dokumente aus den russischen Gefängnissen haben mich mit Ekel und Erbitterung erfüllt — leider kann ich nicht hinzusetzen mit Staunen. Im Augenblick, wo der Terrorismus als ein Element der Politik nicht nur von den Handlangern einer Regierung, sondern auch von ihren Führern anerkannt wird, gibt es kein Unrecht, keine Büberei, keine Grausamkeit, die nicht mit dem bequemen und feigen Vorwand politischer Notwendigkeit gerechtfertigt werden könnte.

Sie wollen, lieber Herr Levine, einen Appell an die bolschewistischen Machthaber erlassen, um sie zu einer Aufgabe oder mindestens einer Abschwächung ihrer Methoden gegenüber ihren politischen Gegnern zu veranlassen und fordern u.a. auch mich auf, mich diesem Appell anzuschließen. Schon daß ein solcher Appell überhaupt notwendig wurde, läßt wenig Hoffnung aufkommen, daß es sonderlich viel nützen wird und wenn es doch in einem gewissen, bescheidenen Maße der Fall sein sollte, so wollen wir uns nicht am Ende einbilden, daß es geschah, weil unser Appell etwa das Herz von Kerkermeistern gerührt hätte: für Individuen von vorwiegend politischer Einstellung wird auch die Menschlichkeit nur eine Karte in ihrem Spiel sein und niemals eine ethische Forderung.

Dieser Brief ist für Ihre Zwecke natürlich zur Verfügung.

Ihr aufrichtig ergebener
Arthur Schnitzler

Arthur Schnitzler an Graf R. N. Coudenhove-Kalergi, Wien [10]

7.11.1929.

Lieber und verehrter Graf Coudenhove.

Ihr schmeichelhafter Wunsch, mich im Ehrenkomitee der paneuropäischen Union zu schen, kommt mir umso unerwarteter, als ich mir bewußt bin, im Dienste der paneuropäischen Idee bisher so gut wie nichts geleistet zu haben. So muß ich mich gewissenhafter Weise selbst fragen, ob ich für mich die Auszeichnung beanspruchen kann, als ein Paneuropäer im wahren Sinne des Wortes zu gelten.

Darf man sich schon als einen Paneuropäer bezeichnen, wenn man die Idee Paneuropa sympathisch, einleuchtend, erhaben findet? Oder erst, wenn man eine Wirklichkeit Paneuropa in absehbarer Zeit für erreichbar hält? Oder erst dann, wenn man ein erreichtes Paneuropa als ein durchaus erstrebenswertes Ziel betrachtet.

Ich kann darauf nur antworten, daß meine Bewunderung, vielleicht sage ich besser Andacht, gegenüber der Idee Paneuropa stärker ist als mein Glaube an eine bald kommende Realität Paneuropa; — und daß wieder dieser Glaube stärker ist als meine Überzeugung von der Vortrefflichkeit des zu erwartenden Staatsgebildes.

Vielleicht haben diese Zweifel ihren Grund nur in der Erwägung, daß in Paneuropa jedesfalls die gleichen Menschen leben werden, die in den bisherigen Einzelstaaten existiert haben, und daß wir nach den bisherigen Erfahrungen der Weltgeschichte auch an ein Paneuropa, ja selbst an eine vollkommene überstaatliche Menschenvereinigung, keine allzu kühnen Hoffnungen knüpfen dürfen.

Eines aber scheint mir gewiß, daß unter allen Wegen zu einer wirtschaftlichen, politischen und ethischen Besserung der heute bestehende Zustände der Weg als der gangbarste, anständigste und aussichtsvollste gelten muß, den die Vorkämpfer und Vordenker der paneuropäischen Idee beschritten haben.

Wenn Sie mich auf Grund dieses nicht gerade enthusiastischen, aber ehrlichen Bekenntnisses für würdig halten, Ihrem Ehrenkomitee anzugehören, so nehme ich Ihre freundliche Einladung dankbar an — freilich nicht ohne eine gewisse Beschämung, wie nicht anders möglich, wenn man sich ohne besonderes Verdienst in einen edlen und tätigen Kreis ausgezeichneter Männer aufgenommen sieht.

Mit herzlichsten Grüßen und freundschaftlicher Verehrung

Ihr sehr ergebener
Arthur Schnitzler

[1Elisabeth Steinrück (1885-1920), Arthur Schnitzlers Schwägerin als Schwester seiner Frau Olga, geb. Gussmann; verheiratet mit dem Schauspieler Albert Steinrück (1872 bis 1929); lebte damals in Garmisch-Partenkirchen.

[2„Der junge Medardus“ (1910); deutsche Erstaufführung am 24.10.1914 im Lessingtheater in Berlin.

[3Viktor Barnowsky (1876-1952, damals Direktor des Kleinen Theaters und des Lessingtheaters in Berlin.

[4„nicht ein Spiel, aber doch ein Fühler von jedem Druck der Luft“: vgl. „Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?“ (Goethe, Faust I, Vers 2724).

[5„Roman von P.“: nicht feststellbar.

[6Lili, Tochter Arthur Schnitzlers (13.9.1909-26.7.1928).

[7Heinrich, Sohn Arthur Schnitzlers (geboren am 9.8.1902).

[8Sternwartestraße: Arthur Schnitzler bewohnte seit 16. Juli 1910 das Haus Nr. 71 in der Sternwartestraße (18. Wiener Gemeindebezirk).

[9Alfred Hermann Fried (11.11.1864-5.5.1921), Vorkämpfer der Friedensidee, gründete 1891 die Zeitschrift „Die Waffen nieder“, seit 1899 „Die Friedenswarte“ (Zeitschrift für internationale Verständigung. Enthält die „Mitteilungen der österreichischen Friedensgesellschaft“. Erscheinungsort Berlin). Fried erhielt 1911 den Friedensnobelpreis. „Mein Kriegstagebuch“. Vier Bände. Zürich 1918/20.

[10Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (geboren am 16.11.1894); Begründer der Paneuropabewegung: „Paneuropa“, 1923.

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