FORVM, No. 420-422
Dezember
1988

Bucharins Tochter. Interview

1948 gab es einen zweiten Bucharin-Prozeß.

Der älteren Dame sieht man noch die Jahre der Verfolgung an. Svetlana Gurewitsch-Bucharina saß meist ruhig im Saal während des Budapester-Bucharin-Seminars. Es war nicht leicht, sie zu einem Gespräch zu bewegen: Lediglich die Tatsache, daß für die am letzten Abend angesetzte Aussprache außer mir keine Interessenten kamen, ermöglichte dann ein längeres Interview.

Hier kurz zusammengefaßt ihre Lebensgeschichte: Ihre Mutter Esther Gurewitsch, Geburtsjahr 1890, war, als die Revolution ausbrach, schon eine in Europa viel gereiste Absolventin der ökonomischen Wissenschaften. Am 5. Mai 1917 war sie der Partei beigetreten, im November 1917 wurde Bucharin Chefredakteur der Prawda, sie war die Wirtschaftsexpertin in der Redaktion. Bucharin, dessen erste Frau um 1919 an Kinderlähmung erkrankt war, fand in ihr nicht nur eine redaktionelle Stütze: 1923 wurde Tochter Svetlana geboren.

Mutter Gurewitsch, von der Tochter noch heute „Mama“ genannt, pochte auf ihre eigenständige Karriere. Sie weigerte sich, das mächtige Politbüromitglied zu heiraten, zog nicht in den Kreml, sondern führte ein sehr eigenständiges Leben als Vordenkerin vieler Theorien, die heute, im Zeitalter der Perestrojka, wieder akzeptiert werden: Den Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft ohne totale Staatskontrolle, mit Möglichkeiten eines echten Wettbewerbs zwischen mehreren Eigentumsformen. Frau Gurewitsch lebt noch heute, von Tochter Svetlana betreut. Hier der Bericht der Tochter über die Leiden der Familie:

Alle anderen Verwandten Bucharins — sein Bruder, seine erste Frau, seine dritte, junge Frau, sein damals erst vierjähriger Sohn wurden 1938, gemeinsam mit Papa verhaftet. Wir — Mama und ich — warteten damals und die Jahre nachher fast ständig darauf, verhaftet zu werden. Wir blieben aber in Freiheit, wurden während des Kriegs gemeinsam mit dem gesamten Varga-Institut aus Moskau evakuiert. Zu Kriegsende kehrten wir zurück und Mama arbeitete wieder im Institut für Weltwirtschaft von Eugen Varga. Dann 1948 ereilte uns das Schicksal: Varga wurde pensioniert, sein Nachfolger Astrajanow hat meine Mutter herausgeworfen, und dann wurden wir als amerikanische Spione verhaftet, verurteilt und kamen ins Lager nach Sibirien.

Ja, es gab 1948 einen zweiten Bucharin-Prozeß, natürlich im geheimen, und Bucharin wurde zusätzlich als amerikanischer Spion verurteilt. Mama und ich sollen ihm dabei geholfen haben. Wie es zu dieser absurden Anklage kam? 1930, als Bucharin in Ungnade gefallen war, seiner wichtigsten Funktionen enthoben, wurde Mama an die Handelsdelegation nach Washington, in die USA versetzt — eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe. Ich blieb in Rußland. 1931 oder 1932 kam dann Mama wieder zurück. Stalin wollte Bucharin, der sich ja damals mit Selbstmordgedanken trug, isolieren, mürbe machen. Damals lernte er dann die viel jüngere Larina kennen, er überstand die Isolation und hat weitergelebt.

Ob wir die Tatsache, daß wir 1938 nicht verhaftet wurden, einer Intervention von Varga bei Stalin verdanken, weiß ich nicht — man kann hier nur vermuten. Denn kaum war Varga pensioniert, ereilte uns das Schicksal.

(Anmerkung: Stalin hatte den österreichisch-ungarischen Bankfachmann Eugen Varga einiges zu verdanken. Im Jahr 1928, als Stalin mit seiner gegen Bucharin durchgesetzten totalen Kollektivierung begann, war Varga einer der ganz wenigen Ökonomen, welcher die kommende, 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise voraussah. Ohne diese Wirtschaftskrise wäre das durch das große Bauernlegen und die übereilte Industrialisierung zerrüttete Sowjetrußland zusammengebrochen. Dank dieser Krise gab es dann genügend günstige Kredite aus dem Westen, um das Überleben zu sichern. Daher Stalins Hochschätzung für Varga.)

So kamen wir erst 1949 nach Sibirien. Nach Stalins Tod konnten wır 1954 das Lager verlassen, ich konnte in Tschelbiansk sogar das Geschichtstudium wieder aufnehmen. Unsere nächste Station war dann Gorki, offensichtlich schon damals der Ort für prominente Verbannte. Auch dort konnte ich studieren. Ich hatte ursprünglich, vor unserer Verhaftung, Architektur studiert, nachher begann ich Geschichte zu studieren und war dann in Moskau Professor für Geschichte des modernen Frankreich. Seit etwa zwei Jahren bin ich in Pension, betreue meine Mutter, die noch lebt. Nach Moskau sind wir 1956 zurückgekehrt, Chruschtchow sorgte dafür, daß wir voll rehabilitiert wurden. Die Reise nach Budapest ist meine allererste Auslandsreise.

Sie können sich vorstellen, wie aufgeregt ich bin.

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