MOZ, Nummer 48
Januar
1990
Die Reichen und die Armen

Buntes Ungarn, graues Ungarn

Von Gleichmacherei keine Spur mehr. Auf Schritt und Tritt lacht und weint einem Glück und Elend einer Gesellschaft entgegen, die sich im Umbruch befindet. Ungarn hat innerhalb von zwei Jahren sein Gesicht total verändert. Eine Sozialreportage.

„Am Existenzminimum“:
Ausstellung des Ujpester Familienhiffszentrums zu den Lebensverhältnissen in einem Budapester Stadtteil

Auf der Überholspur des Autobahn teilstückes Györ-Tatabanya brausen von Woche zu Woche mehr BMW und Audi 80 mit ungarischen Kennzeichen an den Trabants und Wartburgs ihrer Landsleute vorüber. Und in der Budapester U-Bahn-Station „Blaha Lujza Ter“ hausen Tag und Nacht mehr jugendliche Obdachlose, deren Auftreten an die Westberliner Kids aus Kreuzberg erinnert — bestaunt und begafft von einer vielköpfigen Menge, die derlei „Exotisches“ bisher nur aus westlichen Illustrierten kannte.

Frappierend für jeden Besucher, wie rasant die Lebensläufe in unserem östlichen Nachbarland sozial auseinanderdriften. Viel bunter ist das Leben in den Straßen geworden und gleichzeitig viel, viel grauer. Bunter für die Gewinner der ungarischen Perestroika und grauer für die Opfer.

„Von der Arbeit kann man heute nicht reich werden“, stellt József Matlák, sozialpolitischer Referent des einst mächtigen Staatsgewerkschaftsrates SZOT, nüchtern fest. Die Neureichen kaufen Eigentumswohnungen am Budaer Stadtrand mit den Gewinnen aus Schmuggel und Schieberei, manche legal und manche illegal.

Oder wir erzählen die Geschichte jenes Videoverkäufers, der in einem Pester Souterrainlokal westliche Pornos — ungarisch untertitelt — von einer blonden, aufreizend gekleideten Landsmännin verkaufen läßt. Das Stück um 1.000 Forint, einem Viertel des staatlich festgelegten Mindestlohnes. Mit dem Ersparten ist schon nach einem Monat ein besseres Mittelklasseauto aus Stuttgart oder Wolfsburg drinnen. Seine Kinder schickt besagter Videohändler auf die katholische Privatschule, an der das Schulgeld für normalsterbliche Ungarn unerschwinglich ist, doch die Ausbildung besser als in den unterfinanzierten staatlichen Bildungsstätten.

Ganz anders stellt sich die Zukunftsaussicht für Istvan K. Er ist seit mehr als 10 Jahren Schlosser in der staatlichen Großdruckerei Sikra. Sein Gehalt: 18.000 Forint zu jedem Monatsersten, Überstunden und Nachtarbeit inklusive. Istvan K. gehört zur oberen Einkommensschicht der alten Arbeiterklasse. Zwar ist seine Firma nicht vom Zusperren bedroht — „Wir bekommen jetzt immer mehr Aufträge von der Opposition, ihre Zeitungen zu drucken“ —, dennoch denkt er an einen Jobwechsel. Als privater Taxifahrer z.B. würde er mit ein bißchen Geschick das Doppelte verdienen. Vor allem die Strecke Flughafen-Innenstadt ist unter den Taxlern beliebt, da bekommt man seine Fahrt in DM, Schilling oder Dollar bezahlt, schwarz gewechselt bringt das nochmals einen Zuschlag von 50%. So mancher Werkmeister der großen Sikra-Druckerei hat sein technisches Know-how an den Nagel gehängt und per Kredit einen Lada oder VW-Passat gekauft, mit dem er jetzt auf Dollarjagd geht. „Es ist verrückt“, meint der stellvertretende Direktor des Werkes, „die lassen ihre ganze Ausbildung brach liegen und werden als Taxifahrer oder Kleinhändler reiche Leute.“

Im Budapester Arbeiterbezirk Ujpest gehen die Uhren anders. Die 110.000 Einwohner/innen gehören zu den Verlierern der ökonomischen Wende. Laut offizieller Statistik der Elektrizitäts-Werke können hier 6% der ansässigen Familien ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen. Der soziale Strudel, in den die Unterprivilegierten geraten sind, ist teuflisch und tief. Viele haben schon vor Jahren Kredite aufgenommen, in der Hoffnung, ihr Leben ähnlich gestalten zu können, wie es die Budapester Geschäftsstraßen vorgegaukelt haben. Mit der steigenden Inflation haben ihre Löhne an Kaufkraft verloren, die Rückzahlung der Kredite geriet mehr und mehr in Verzug. „60% der Ujpester Familien sind absolut verschuldet“, zeichnen die nackten Zahlen aus der soziologischen Studie von Gabor Havas ein brutales Bild der Vorortewirklichkeit. Demnach emährt sich die Hälfte der Ujpester/innen ohne Früchte und Gemüse. Ihr Speisezettel besteht aus Brot, Kartoffeln und fetter Wurst.

Im Unterschied der innerstädtischen Einkaufsstraße Vaci utca und dem Stadtrand-Supermarkt liegt die ganze Erklärung für die Probleme der neuen ungarischen Gesellschaft. Wer beides gesehen hat, dem müssen Zweifel an der friedlichen Zukunft des Landes kommen.

Die ungarische Armut trifft man nicht nur in den Vorstädten. Auch und besonders am Land herrschen teilweise menschenunwürdige soziale Zustände. Betroffen sind vor allem die Komitate Borsod, Nográd, Szabolcs-Zsatmar, Baranya und Zala, die sich wie ein Elendsgürtel von Nordosten nach Südwesten ziehen. Die ungarischen Soziologen sprechen von den „1.000 armen Dörfern“, in denen — nicht zuletzt auf Grund jahrzehntelanger staatlicher Fehlplanungen — heute ausschließlich alte Menschen und Zigeunerfamilien ohne Chance auf Arbeit leben.

Inflation + Subventionsstreichung = 0

„Ungarns Schuldendienst ist zu einer beträchtlichen Belastung der Wirtschaft geworden ... einen Teil der Lasten mußten wir der ungarischen Bevölkerung aufbürden ... Der Lebenstandard hat große Einbußen erlitten.“ So äußerte sich niemand geringerer als der Vorsitzende der reformierten USP (sozialistische, ehemals kommunistische Partei), Reszö Nyers, gegenüber einer bundesdeutschen Zeitschrift. Es ist nicht zu übersehen. Die Reform hat ihren Preis. Und dieser Preis wird vor allem von der immer größer werdenden Schar der Armen bezahlt werden müssen. Laut offizieller Statistik sind es immerhin 30%, die an bzw. unter der absoluten Armutsgrenze leben. Pensionist/innen, kinderreiche Familien, Arbeiter/innen in Staatsbetrieben, die keiner sogenannten „2. Arbeit“ im Privatsektor nachgehen, und die 5% Zigeuner ... „Die Armut wächst rasant“, stellt auch Szusza Ferge, Professorin für Sozialpolitik an der Budapester ELTE-Universität, ohne Umschweife fest. Manchen ist ob der sozialen Entwicklung unwohl, József Sandor, stellvertretender Direktor und Personalchef der größten ungarischen Druckerei Sikra: „Ich habe Angst. Wenn in Ungarn der Kapitalismus eingeführt wird, dann leben oben ca. 30.000 Superreiche in Saus und Braus, der Hälfte der Bevölkerung wird es besser gehen als heute, aber — was machen wir mit dem Rest von 4,5 Millionen Menschen? Für die wird nichts übrigbleiben.“ Die Angst vor großen sozialen Unterschieden und möglichen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen nimmt zu. Die Streichung von staatlichen Subventionen für lebenswichtige Güter hat schon heute zu einem Überlebenskampf der Armen geführt; die fortschreitende Inflation könnte Millionen von Ungar/inne/n in Hunger und Elend stürzen.

Preisstützungen werden gestrichen

Ein Sammelsurium von Preisstützungen und betrieblichen Sozialleistungen machte es bis dato möglich, die Löhne künstlich niedrigzuhalten. „Seit 1987/ 88 wird dieses Subventionssystem wegen der Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds rasant abgebaut.“ Der Wirtschaftsreferent des Gewerkschaftsbundes, József Rehak, ist kein Freund der Subventionsstreichungen: „Die Lebensmittelpreise sind bis auf Milch und Kilobrot schon heute völlig freigegeben.“ Anfang 1990 werden die Mieten um voraussichtlich 150% angehoben, die Preisstützungen für Energie und öffentlichen Transport fallen. Voraussichtliche Preissteigerungen: 50% laut Regierungserklärung, 80% laut inoffiziellen Berechnungen der SZOT.

Gleichzeitig steht die schrittweise Einstellung der betrieblichen Sozialleistungen, wie sie bisher in jedem staatlichen Unternehmen existierten, vor der Tür. In der Sikra-Druckerei wehrt man sich noch dagegen: „Unsere betriebsinternen Sozialleistungen“, meint Direktor József Sandor stolz, „sind vielfältig.“ Kantinenessen um 25 Forint (4 bis 5 Schilling), ein Erholungsheim am Balaton mit 30 Zimmern, Schulbuchzuschüsse für Kinder von Betriebsangehörigen, eigene Pensionen, zinsenfreie Wohnungskredite für junge Arbeiter. „Wir werden unser Sozialnetz aufschneiden müssen, um der kapitalistischen Logik gerecht zu werden“, gibt sich Sikra-Direktor Sandor resigniert. „Aber ein Stück von einem sozialen Netz kann niemanden mehr halten, daran kann man sich bestenfalls aufhängen.“

Wenn auch vom Aufhängen bei den Sikra-Arbeitern noch nicht die Rede ist, so werden sie künftig doch mit weniger auskommen müssen als bisher. Die Lohnerhöhungen halten mit der Inflationsrate nicht Schritt. „Die Reallöhne gehen von Jahr zu Jahr zurück. Für 1990 erwarten wir einen Rückgang um 4-5%“, macht sich der Sozialreferent der SZOT keine Illusionen. Obwohl offiziell noch keine gänzliche Liberalisierung der Löhne existiert, zeigen die entsprechenden Eckdaten, wie schwach der Arbeiter/innen/schutz im ehemaligen Arbeiterstaat geworden ist: 3.700 Forint im Monat (ca. 900 öS) beträgt der staatlich festgesetzte Mindestlohn, nach oben gibt es keine Begrenzung. Eine Indexierung der Löhne gibt es nicht, höchstens festgeschriebene Sätze, die sich an einem fiktiven Warenkorb orientieren, der von niemandem als realistisch betrachtet wird. Und weil die Inflation mit derzeit ca. 30% — offiziell werden 18% eingestanden — immer schneller ist als die politisch ausgehandelten Lohnerhöhungen, gleicht die 18%ige Lohnerhöhung den realen Inflationsverlust nicht aus. „Wir fürchten uns vor einer zukünftigen Einkommensverteilung, die von unten nach oben geht und mittels unindexierter Löhne den ärmeren Teil der Gesellschaft marginalisiert und zu reinen Almosenempfängern macht“, meint Szusza Ferge und kommt damit zur selben Gesellschaftsdiagnose wie die neoliberalen Reformökonomen. Diese allerdings sind von einer stark segmentierten ungarischen Gesellschaft nicht irritiert.

Gesucht: Sozialstaat

Lohnverfall, Lohndifferenzierung, Subventionsabbau, Preissteigerung — ein dichtgewebtes, ordentliches sozialstaatliches Netz, denkt sich der westliche Beobachter, wird doch in einem auch nur halbwegs sozialistisch-sozialen Lande die drohenden Folgen mildern, wird trotz dieser Umstrukturierungen in Richtung Markt wenigstens soziale Sicherheit garantieren. Oder? Wird etwa der Sozialstaat, fragt der kritische Westler, auch gleich mit abgebaut, ganz wie man es hierzulande zur Genüge kennt?

Vewirrend sind zunächst die Erscheinungen: So berichten ungarische Quellen einerseits vom Aufbau und Ausbau wichtiger sozialpolitischer Einrichtungen, daß bei der neuen Arbeitslosenunterstützung ab Jänner 1990 sogar ein Mindestsatz eingeführt werden soll zwar mit 80 Prozent des offiziellen Mindestlohnes von 3.700 Forint nichts besonderes, aber immerhin; außerdem ist die Einführung einer generellen Familienunterstützung beschlossene Sache, und auch der Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt ist im Steigen begriffen. Andererseits aber wächst in Ungarn das Gefühl existenzieller Verunsicherung immer stärker an.

Sozialpolitik ohne Sozialpolitik

Ein Blick hinter die Kulissen der alten „sozialistischen“ sozialen Sicherung und des marktkonformen westlichen Sozialstaats hilft, die Hintergründe dieser widersprüchlichen Erscheinungen in Ungarn aufzuhellen. Trotz aller Reformen und aller Abkehr vom Stalinismus nach 1956 hatten Staat und Partei in Ungarn die Fäden in der Hand. Nicht der Markt oder, unfein gesagt, das Kapital bestimmte die Zahl der Arbeitsplätze, die Löhne und die Preise, sondern die Volksrepublik entschied sich für Vollbeschäftigung, subventionierte die wichtigsten Verbraucherpreise und sorgte für eine relativ egalitäre Einkommensverteilung.

Eine eigenständige Sozialpolitik wie im Westen, die sich je nach weltwirtschaftlicher, konjunktureller und nationaler Schön- oder Schlechtwetterlage sorgsam oder weniger sorgsam um einen vom Staat nicht berührbaren Kern der ökonomischen Aktivitäten herumgruppiert, war unter solchen Bedingungen nicht notwendig. So konnte die Partei, nachdem das Volk sich mit seinen Bedürfnissen unüberhörbar zu Wort gemeldet hatte, noch Ende 1956 ganz einfach beschließen, daß von nun an „die Erhöhung des Lebensstandards der Arbeitenden“ primärer Gesichtspunkt in der Wirtschafts(!)politik sein solle. Und dem folgten, durch weltwirtschaftliche Entwicklungen gewiß begünstigt, in den 60er Jahren und in den „goldenen Siebzigern“ tatsächlich zentral gesetzte Entscheidungen auf dem Fuße, die zumindest den jungen und den im arbeitsfähigen Alter stehenden Menschen soziale Sicherheit vor allem durch Interventionen im wirtschaftlichen Bereich garantierten. Arm blieben, trotz gewisser Verbesserungen gegenüber der Stalin-Ära, insesondere Pensionist/innen und nicht erwerbsfähige Erwachsene.

Wo keine kapitalistische Arbeits- und Wirtschaftsorganisation wie in Ungarn vor Beginn der ernsthaften marktwirtschaftlichen Umgestaltung und der Zuspitzung der ökonomischen Krise, da also auch kein Sozialstaat zum Abbauen wie bei uns, kein Sozialstaat, der alles mögliche leisten kann, nur niemals einen direkten Eingriff in Produktion, Preise und Löhne.

Kapitalismus ohne Sozialstaat

Umgekehrt werden auch Maßnahmen wie die Neu-Einführung einer Arbeitslosenunterstützung im Zuge der heutigen marktwirtschaftlichen Umgestaltung verständlich — als Kehrseite und Folge des sich beschleunigenden Rückzugs des ungarischen Staats aus der unabhängigen Gestaltung der Produktion und der ersten Runde der Einkommensverteilung. Denn wo der Markt die Arbeitskraft bewegt, bleibt dem Staat im besten Falle eine gewisse Sorge um die Kraftlosen.

Dennoch: „Wo Kapitalismus, da Entstehung des Sozialstaates“ — dieser Umkehrschluß aus den zerfallenden sozialistischen Zusammenhängen gilt in Ungarn freilich nicht. Vielmehr wird einstweilen bloß hektisch reagiert auf die augenscheinlichsten Formen der Durchlöcherung der alten materiellen Sicherheit der Bevölkerung, und dies auf Minimalstniveau. József Matlák vom gewerkschaftlichen Zentralrat SZOT bringt es auf den Punkt: „Die Gewerkschaften befürchten, daß angesichts von zunehmender Armut die neue Sozialpolitik immer mehr zur Armenpolitik im traditionellsten Sinne verkümmert.“

Werden Mietsubventionen gestrichen, so wird ein Teil der Mehreinnahmen für die Schwächsten unter den Betroffenen verwendet, der Rest kommt der Budgetsanierung zugute. Das Wachstum des Bruttonationalproduktes in Ungarn wird derzeit für die Leistung des horrenden Schuldendienstes aufgebraucht, der innere Konsum ist in jüngster Zeit sogar zurückgegangen. Die Gewerkschaften stehen derweil vor verschlossenen Türen, hinter denen Regierung und internationale Finanzorganisationen Vereinbarungen über Budgetkürzungen und sozialpolitisch relevante Umstrukturierungen aushandeln. „Aussuchen“ können sie sich gerade noch, ob ihnen 12 Prozent Reallohnverlust und gleichbleibende Mieten oder 4 Prozent Reallohnverlust und verdoppelte Mieten lieber sind.

Streß, Angst, Frost

Die Masse der Bevölkerung steht all diesen sozial-ökonomischen Veränderungen bislang mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und aufkeimender Unsicherheit gegenüber. Wer kann, versucht angepaßt an die neuen Gegebenheiten sein individuelles Schäfchen ins Trockene zu bringen, streßt sich durch die Kombination verschiedenster Verdienstaktivitäten oder durch den gänzlichen Absprung in den Privatsektor, wo es sich heute in kleineren und inländisch geführten Betrieben noch am besten leben läßt. Gleichzeitig mehrt sich sichtlich die Zahl jener, die den Zug heute schon verpaßt haben. Sinkende Reallöhne (seit 1978), Preissteigerungen und Subventionsabbau und damit die Preisgabe der traditionellen „Sicherung gegen den Hunger“ (Szusza Ferge) treiben ein Fünftel aller Haushalte von Miskolc — zweitgrößte Stadt und industrielles Zentrum von Ungarn — dazu, ihre Stromrechnungen unbezahlt zu lassen, lassen Fehlernährung immer mehr um sich greifen, haben seit Anfang der 80er Jahre und beschleunigt in den beiden letzten Jahren zu einer allgemeinen Verschlechterung des Lebensniveaus der Bevölkerung geführt.

„Fallschirmspringen“ und „Hochzeiten“

Was dem hiesigen geübten Kapitalismus-Teilnehmer nur allzu bekannt sein dürfte: Die glitzernde Scheinwelt des Marktes verdeckt diese Verarmungstendenzen wunderbar. Denn mit der — durch Tourismus und ungarische Schwarzarbeit noch gebremsten — Verarmung einher gehen auch Spaltung, Umschichtung und Differenzierung, wachsende Forintgewinne aus legalen und illegalen Devisengeschäften — und die Konsumkraft der Devisen-Gewinner bringt Waren, Wohlstand, dicke ungarische Westautos, kurz: kapitalistische Lebens-Abart in die Straßen Budapests.

Hatte die Selbstauflösung der Partei und die Ebnung des Weges zur Neubesetzung der bürokratischen Pfründe im Westfernsehen noch als eine Art feiger Selbstmord erscheinen können, so findet der einheimische Beobachter viele der Ratten, die ihn früher politisch dauernd so gegängelt und nun das sinkende Staatsschiff so rührselig verlassen haben, in gerade diesen glitzernden Kanälen wieder: Gut ausgerüstet landen Funktionäre alter Parteischulungs-Institutionen sanft in neuen Forschungsinstituten und jene Manager, die ihren alten Staatsbetrieb besonders billig verhökern haben lassen, nun privat auf ihren alten Chefsesseln. Die Tochter von Alt-Parteichef Károly Grosz hat einstweilen einem betuchten Industriellen das Jawort gegeben.

Widerstand? Gibt’s den?

Ökonomischer Liberalismus und soziales Netz, das wollen heute alle grösseren politischen Parteien in Ungarn. Und nur in der Wissenschaft finden sich Leute, die darauf aufmerksam machen, daß man sich wohl entscheiden wird müssen. „Das ganze Desaster besteht darin, daß sich liberale Rhetorik mit voluntaristischer Praxis verbindet“, ortet Szusza Ferge von der Budapester ELTE-Universität Hilflosigkeit nicht nur bei der Regierung, sondern auch bei den diversen Oppositionsgruppen. Tatsächlich überwiegen Lippenbekenntnisse, wenn es um die soziale Frage geht.

Die Regierung laviert zwischen Budgetsanierung und löchrigen sozialen Sofortmaßnahmen. Aktuell steht gerade die Erhöhung der Familienbeihilfe auf dem Programm. Stringenz ist nicht die Stärke der Sozialdemokraten in der Regierung. Ihr Slogan auf den neuesten Wahlplakaten: „Friedlicher Übergang, funktionierende Wirtschaft, soziale Sicherheit.“

Die größte Oppositionspartei wiederum, das Ungarische Demokratische Forum (UDF), kämpft mit aller Kraft gegen die Einführung von Unternehmer- und Einkommenssteuern. „Das UDF repräsentiert die Mittelklasse“ — so der Soziologe Havas — „sein Hauptziel ist, den gesellschaftlichen Abstieg dieser Klasse zu verhindern. Um die wirklich Unterprivilegierten kümmert sich keiner.“

Auch nicht die Freien Demokraten. Auf deren Fahne steht: „Selbsthilfe statt Staatshilfe.“ Einen Wohlfahrtsstaat mittels privater Initiative zu errichten, stößt allerdings im heutigen Ungarn auf strukturelle Probleme. Denn kaum jemand — außer einer Handvoll Intellektueller — will etwas von sozialem Engagement wissen. Dafür sind die meisten viel zu sehr mit dem Erlernen der Ellbogentaktik beschäftigt, die mehr gefragt ist als je zuvor.

Bleiben die Intellektuellen, die sich — auch dies nach westlichem Vorbild — in Nachbarschafts- und Familienhilfsgruppen engagieren. Das „Komitee für Wohnungslose“ z.B. hat Ende November 1989 erwirkt, daß die geplante Schließung der Budapester Bahnhöfe während der Nachtstunden nicht in Kraft gesetzt wurde. Als Soforthilfe für die anwachsende Schar von Obdachlosen mag dies ausreichen, Perspektive bietet ihnen eine solche „Sozialpolitik“ allerdings keine.

Und Widerstand von unten? Ist vorläufig kaum sichtbar. Zwar gibt es lokale Streiks gegen Reallohnkürzungen in strukturschwachen alten Industriegebieten wie in den Kohlebergwerken von Tatabanya oder im Uranbergbau nahe Pecs, zu einer gesellschaftlichen Macht sind solche Unmutsäußerungen noch nicht geworden. Zu diskreditiert ist der staatliche Gewerkschaftsrat SZOT, als daß die Arbeiter/innen unter seiner Führung um ihre Rechte kämpfen wollten. Und neu gebildete unabhängige Gewerkschaften existieren bis dato höchstens auf Fabriksebene.

Bleibt für all jene, die unter die Räder des neoliberalen Aufbruchs zu kommen drohen, nicht viel mehr als die vage Hoffnung, daß sich die wenigen, regional verstreuten sozialen Auseinandersetzungen in einer Bewegung formieren, die jenseits der parlamentarischen Bühne den Begriff „Sozialismus“ mit neuem, emanzipatorischem Inhalt füllt.

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