FORVM, No. 218
Februar
1972

Chile im Übergang zum Sozialismus

I. 1 Jahr Allende

Ein Jahr nach der Regierungsübernahme durch Salvador Allende in Chile griff die bürgerliche Presse das Thema der Revolution in Chile mit erheblichem Zögern auf. Diese Zurückhaltung erklärt sich aus der Schwierigkeit, die Ergebnisse des 1. Jahres so darzustellen, daß sie sich eindeutig in die internationale, antisozialistische Kampagne einfügen. Die Faktendarstellung bot keinen Ansatz, ein Scheitern zu begründen, folglich unterblieben Zahlenhinweise. Um so mehr ergingen sich die Kommentatoren in allgemeinen, spekulativen Aussagen, mit denen sich doch wenigstens der Nachweis führen ließ, daß die Konflikte sich zuspitzen. Hat „Allende die Schwarzseher enttäuscht“, so werden doch „alle seine stolzen Erfolgszahlen aus der Wirtschaft von immer mehr Chilenen bezweifelt“. [1]

Für den bürgerlichen Interpreten der Szene ist die Zukunft dunkel, folglich eignet sie sich besonders, das Licht der spekulativen Erkenntnis hineinscheinen zu lassen. Was sich dann zeigt, ist jeweils ein Zerrbild, ein Wunschbild, dessen Züge sich unmerklich für den Leser oder Hörer zur Aussage über die Wirklichkeit verwandeln.

Diese Vorgehensweise erkennt man bei der flüchtigen journalistischen Berichterstattung im Fernsehen, bei der ausführlicheren Schilderung in Zeitungsartikeln und ebenso bei den Scheinanalysen, wie etwa Boris Goldenberg sie in der Beilage zum „Parlament“ vom 27. November 1971 vorgelegt hat.

Niemand könnte und wollte bestreiten, daß ein revolutionärer Prozeß wie der in Chile durch erhebliche Probleme und Konflikte gekennzeichnet ist. Die Verschärfung der Auseinandersetzung, wie sie etwa in den jüngsten Ereignissen in Santiago sich abzeichnet, ist gerade Ausdruck der revolutionären Veränderung, ist das entscheidende Zeichen der Klassenkampfsituation. So gesehen sind die Darstellungen in den bürgerlichen Massenmedien, etwa in der BRD, schon eine richtige Einschätzung: Sie machen die Parteilichkeit sichtbar, die notwendig den Erfolg der Politik der Regierung der Volkseinheit zu einer Niederlage der Bourgeoisie werden läßt. Sie geben darüber hinaus aber auch einen Einblick in die internationale Bedeutung der chilenischen Revolution.

Die 36,6 Prozent der chilenischen Wähler, die am 4. September 1970 den Kandidaten der Unidad Popular wählten, hatten dem kapitalistischen Weltsystem eine Niederlage bereitet. Sie haben die Gewichtung zwischen Sozialismus und Kapitalismus verändert. Aber mehr noch: das chilenische Beispiel hat gezeigt, wie die bewußten Massen das System bürgerlicher Wahlen zu ihren Gunsten handhaben können. Dieser Erfolg in Chile ist ein Erfolg der demokratischen Massenbewegung, der disziplinierten und kontinuierlichen Parteiarbeit und der Koalition aller fortschrittliichen Kräfte. Und das gerade in dem Augenblick, in dem es der US-amerikanischen Militärmaschinerie gelungen zu sein scheint, die Gefahren des Guerillakrieges in Lateinamerika unter Kontrolle zu bekommen. Das Konzept Lenins über den demokratischen Kampf fand hier seine Bestätigung: „Um zur Staatsmacht zu werden, müssen die klassenbewußten Arbeiter die Mehrheit für sich gewinnen: solange den Massen gegenüber keine Gewalt angewendet wird, gibt es keinen anderen Weg zur Macht. Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit“. [2]

Dieses Konzept wurde vor allem konsequent von der Kommunistischen Partei Chiles verfolgt. „Die Hauptrichtung unserer Politik besteht darin, alle demokratischen und antiimperialistischen Kräfte zu vereinen, um eine Volksregierung zu bilden, die fähig ist, die revolutionären Umgestaltungen zu verwirklichen, die auf der Tagesordnung stehen und deren Endziel der Sozialismus ist“, erklärte der Generalsekretär der KP Chiles auf den Moskauer Beratungen 1969. [3]

Als Allende zwei Monate nach der Wahl die Präsidentschaft übernahm, begann der schwierige Weg, „mit der Vergangenheit zu brechen und ein neues Gesellschaftsmodell zu konstruieren“. Chile war damit, nach den Ausführungen von Allende, „die erste Nation der Erde, aufgerufen, einem zweiten Modell des Übergangs zu einer sozialistischen Gesellschaft Gestalt zu geben“. [4]

II. Unterentwicklung

Allende löste im November 1970 die Regierung des Christdemokraten Frei ab. Dessen Reformprogramm, genannt Revolution in Freiheit, war weitgehend unerfüllt geblieben. Wo es dennoch bis zur gesetzlichen Fixierung gelangte, wie bei der Agrarreform, scheiterte seine Verwirklichung am Widerstand der rechten Kräfte des Landes, auch in seiner eigenen Partei. Das Entscheidende aber war: die Regierung Frei endete mit einer außerordentlich verschärften Wirtschaftskrise.

Das Hauptproblem Chiles als unterentwickeltes Land — das zeigte mit letzter Deutlichkeit die Erfahrung mit 6 Jahren Frei-Regierung — bestand in der Abhängigkeit vom Ausland und der krassen Klassenlage, die sich fortwährend im Klassenkampf verschärfte: Klassenkampf, geführt zunächst vor allem von oben, von der herrschenden Klasse.

Der Index der Industrie-Kapazitätsausnutzung war von 1967 auf 1970 von 80,65 auf 73,34 Prozent gesunken. [5]

Entsprechend war die Arbeitslosenquote im Dezember 1970 auf 8,3 Prozent gestiegen, wobei die Industrie und das Bauwesen mit 26,2 bzw. 24,6 Prozent Rekordhöhen erreichten. [6]

Besonders katastrophal wirkte sich diese Krisenentwicklung im Bereich der Basisproduktion der chilenischen Gesellschaft aus, der seinerzeit noch im Besitz der USA-Monopole befindlichen Kupferindustrie. Die Produktion der Kupferindustrie, die von ca. 1 Milliarde US-Dollar Exporterlös des Landes 1969 791 Millionen US-Dollar und damit rund 80 Prozent einbrachte, [7] sank um fast die Hälfte zwischen 1969 und 1970, und zwar von 228 Millionen Tonnen auf 137 Millionen Tonnen. [8]

Im Verhältnis dazu beträgt der sonstige Industrieexport des Landes (1969) 10 Prozent und hat an der gesamten Produktionsleistung der Nationalwirtschaft einen Anteil von 25 Prozent. [9]

Die Misere auf dem Wohnungssektor: „einer Viertelmillion chilenischer Familien fehlt es an menschenwürdigen Behausungen“, [10] insbesondere aber die galoppierende Inflation mit einer Rate von über 40 Prozent im Jahre 1970, offenbarten den Bankrott dieser bürgerlichen Regierung und ihres „Dritten Weges“.

Es zeigt sich hier, daß die nationale Bourgeoisie nicht bereit und in der Lage war, die elementarsten Anforderungen der nationalen Entwicklung vor ihre Bereicherungs- und Profitinteressen zu stellen. Der Vorrang der Profite schließt besonders in einem armen Land die Möglichkeiten einer weitgehenden Beschäftigung, relativer Preisstabilität und — bei so totaler ausländischer Abhängigkeit — einer einigermaßen ausgeglichenen Außenwirtschaftsentwicklung aus.

Die neuesten Daten über die Entwicklung des Welthandels spiegeln auch das chilenische Problem wider: das Steigen des Exportvolumens bei sinkenden Erträgen. Von 1969 auf 1970 sank der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel wieder um 0,6 Prozent auf 17,6 Prozent, während der Handel insgesamt um 14 Prozent anstieg. [11] [12] Diese Entwicklung, die auf die Austauschrelationen der gehandelten Waren zurückgeht, zeigt den anhaltenden Verfall der Preise für Roh- und Agrarprodukte und den ebenso kontinuierlichen Anstieg der Preise für Industrieprodukte. Mit seinem Haupterzeugnis, dem Kupfer, dessen Preis auf dem Welthandelsmarkt in London nach dem Regierungsantritt Allendes rapide sank, von „68 cents a pound to around 49 cents a pound“, [13] ist das Land Anbieter von Rohstoffen. Denn bisher ist es den chilenischen Regierungen und der nationalen Bourgeoisie nicht gelungen, einer wesenilichen Teil der Verarbeitung des Kupfers im Lande selbst, in chilenischen Fabriken zu organisieren. Die Dominanz der US-amerikanischen Konzerne hat das verhindert. „Weniger als ein Viertel der Kupferproduktion des Landes wird in chilenischen Fabriken raffiniert.“ [14]

So sind die Außenwirtschaftsbeziehungen Chiles bestimmt durch eine steigende Verschuldung, die auch noch erhöht wird, durch notwendige Nahrungsmittelimporte, die auf die nicht ausreichende Produktion der Landwirtschaft mit ihren überholten Strukturen zurückgehen. Wurden im Jahre 1964 noch für 156 Millionen US-Dollar Agrarprodukte eingeführt, so 1970 schon für mehr als 300 Millionen US-Dollar. [15]

Unterentwicklung: das ist wirtschaftliche und technologische Rückständigkeit, also Armut; sie schließt ein die unzureichende oder ganz fehlende medizinische und soziale Versorgung, umfaßt das Schul-, Ausbildungs- und Wissenschaftssystem, schließt in extremer Weise die Beteiligung der Massen an der Bestimmung ihres Schicksals aus. So leben die Menschen in den Städten und auf dem Lande.

Auf der anderen Seite: der Wohlstand einer kleinen Kaste von Kapitalisten und Großgrundbesitzern, die im Kontrast zur Armut wie Drohnen in ihrer eigenen, separierten Welt leben, in den Barrio Altos, den feudalen Haziendas: die wenigen großen Familien, die die nationalen Monopole beherrschen, auf dem Lande die 3 Prozent der Großgrundbesitzer, die im Jahresdurchschnitt von 1960 16.582 Escudos einnahmen, gegenüber den 800 Escudos der 88,4 Prozent Landarbeiter und Kleinbauern. [16] Ihnen, denen New York und Paris näher sind als Santiago und die Provinzstädte des Landes, die jede Eskapade der kapitalistischen Oberklassenkultur mitmachen, die für den aufwendigsten Luxus Devisen verschleudern, die dem Volk abgepreßten Gewinne auf europäische und US-Banken transferieren und deren Interesse an der nationalen Entwicklung das eigene Interesse an der weiteren ungehinderten Ausbeutung der Massen ist — ihnen gilt die Stoßrichtung der revolutionären Politik. Auf ihnen basiert die Klassengesellschaft im Innern, sie sind Ausdruck der Unterentwicklung.

Doch auch diese Klassenstruktur besteht nicht isoliert. So wie über den Kolonialismus das kapitalistische System in Lateinamerika eingeführt worden ist, wird bis heute die Machtstellung der Bourgeoisie, ihr Ausbeutungsvorrecht, permanent vom Ausland gestützt. Eingeführt wird diese Struktur über die ausländischen Investitionen, eingeführt als Ideologie des Kapitals über Bildung und Wissenschaft, eingeführt über Militärexperten und Waffen — und wenn es nicht anders geht, wenn der Klassenkonflikt zum offenen Klassenkampf wird durch US-amerikanische Truppen.

Die Monopole des Auslandes zählen zu den großen Ausbeutern der Menschen und Naturschätze dieser Länder, sie sind in gewissem Umfang angewiesen auf die herrschenden Klassen. Beide gehören zusammen, stützen einander und stellen so die zwei Mächte der Unterentwicklung dar. In der Geschichte Lateinamerikas ist die Bourgeoisie nur immer kurzfristig zu nationaler Eigenständigkeit gewachsen. Sobald das englische, das französische, deutsche oder nordamerikanische Kapital in die Länder eindrang, zerschlug sich die eigenständige Wirtschaftsentwicklung wieder.

Das u.a. hat die Bourgeoisie gelehrt, ihr Heil — also ihre Teilhabe am Profit — in der ökonomischen Abhängigkeit zu suchen, mehr Handlanger ausländischer als Vertreter nationaler Interessen zu sein.

Zutiefst ist dieses Klassenverhältnis gekennzeichnet durch Rassismus. In der bürgerlichen Ideologie der Landbesitzer sind die Massen nicht nur ungebildet, faul und schlecht sozialisiert, sondern sie sind indianischer Abstammung, sind Mischlinge. Dies ist die letzte und brutalste Barriere, die eine parasitäre Oberklasse errichtet hat, ihre eigene gesellschaftliche Stellung zu stützen.

Wenn man berücksichtigt, daß auch die Bourgeoisie vom Ausland unterdrückt worden ist, läßt sich vielleicht der Schwerpunkt so setzen, wie das Mitglied im chilenischen Senat, Luengo, es in der Debatte über die Verstaatlichung der Kupferminen tat:

Die nordamerikanischen Investitionen in den Kupferminen bestanden nur in Höhe von 3,55 Millionen US-Dollar aus ausländischem Geld ... Alle weiteren Investitionen sind aus der Kupferproduktion selbst erwirtschaftet worden. Ebenso war es beim Eisen und Salpeter. Die vier großen nordamerikanischen Gesellschaften, die in Chile diesen Naturreichtum ausbeuteten, hatten in den letzten 60 Jahren Einnahmen daraus in Höhe von 10,8 Milliarden US-Dollar. Wenn wir bedenken, daß das Nationalvermögen Chiles in 400 Jahren Arbeit 10,5 Milliarden US-Dollar erreichte, können wir feststellen, daß in wenig mehr als einem halben Jahrhundert die nordamerikanischen Monopole aus Chile das wertmäßige Äquivalent dessen herauszogen, was überhaupt von seinen Bürgern je geschaffen wurde ... Hier liegt die Wurzel unserer Unterentwicklung. Deswegen haben wir ein unsicheres und ungenügendes Industriewachstum. Deswegen haben wir eine primitive Landwirtschaft. Deswegen haben wir Arbeitslose und niedriges Einkommen. [17]

III. Politische Verhältnisse

Die „Unidad Popular“ (Volkseinheit) ist eine Koalition aus mehreren Parteien. Sie ist der Zusammenschluß der drei traditionellen Parteien, Kommunisten, Sozialisten und Radikale, ergänzt durch kleinere Linksparteien und -gruppierungen (Sozialdemokraten, MAPU, usw.). Sie ist eine neue, veränderte Form der alten FRAP (Frente acción popular, Volksfront), für die in den drei vorhergegangenen Präsidentschaftswahlen ebenfalls Allende kandidiert hatte.

Schon einmal in der chilenischen Geschichte, 1938, gab es eine Volksfront als bürgerlich-sozialistisch-kommunistische Front gegen den Faschismus. In dieser Volksfrontregierung war bekanntlich Allende mit 30 Jahren Gesundheitsminister gewesen.

Das Besondere der Volkseinheit hebt Allende hervor, wenn er sie gegen diese Volksfront von 1938 absetzt: „In der Epoche (der Volksfront), in der wir bekanntlich die gleichen Parteien wie heute waren, hatte die radikale Partei die Hegemonie. Sie war die Partei der Bourgeoisie. Und das ist der Unterschied zwischen der Volksfront und der Volkseinheit: in der Volkseinheit gibt es keine Partei mit Vorherrschaft, aber eine Klasse mit Vorherrschaft, die Klasse der Arbeiter, und es gibt einen marxistischen Sozialisten als Präsidenten.“ [18]

Damit wird angesprochen, daß auch die Volkseinheit ein Klassenbündnis ist, jedoch unter der Vorherrschaft des organisierten Proletariats: Die Teile der Bourgeoisie in ihr — vertreten vor allem durch die Radikale Partei — bestehen aus der Intelligenz, insbesondere aber den kleinen Handwerks-, Handels- und Fabrikunternehmern sowie — auf dem Lande — den Klein- und Mittelbauern. Dies, ein antimonopolistisches und antiimperialistisches Bündnis in einer bestimmten Phase der Entwicklung, bestimmt wesentlich die aktuellen Bedingungen der Politik der Regierung Allende. Aus dieser Tatsache des Klassenbündnisses, vor allem aber aus dem Bestreben, mit einer forçierten ökonomischen Entwicklung die Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft zu erweitern, muß die Politik der Förderung der kleinen und mittleren privaten Unternehmungen verstanden werden.

Der antimonopolistische Kampf, der die Verstaatlichung der großen Monopole des Landes anstrebt, hat 2 ökonomische Aspekte:

  1. die Kontrolle und den Ausbau der Schlüsselindustrien zur Erweiterung der Produktion und damit der wirtschaftlichen Basis der Gesellschaft auch im Außenhandel;
  2. die Aufhebung der privaten Verfügung, um in gesellschaftlichen Entwicklungsplänen die Ressourcen des Landes gezielt fördern zu können.

Der antiimperialistische Kampf, der auf die Ausschaltung des ausländischen wirtschaftlichen und politischen Einflusses gerichtet ist, hat bei der wirtschaftlichen Verfassung Chiles und seiner internationalen Verflechtung eine hervorragende Bedeutung. Die vom Ausland beherrschten Industrien und Bodenschätze kann man unter den gegebenen Bedingungen als die profitabelsten Bereiche der Wirtschaft bezeichnen: Kupfer, Stahl, Kommunikationssystem, Banken des internationalen Zahlungsverkehrs.

IV. Programm der Volkseinheit

Die allgemeinen Ziele des Programmes der „Volkseinheit“ sind folgendermaßen beschrieben worden:

Errichtung der Volksmacht und Verdrängung der Klasse der Großkapitalisten von ihren ökonomischen und politischen Positionen;

Schaffung eines Volksstaates durch solche grundlegenden Umgestaltungen wie Annahme einer neuen Verfassung und Konstituierung eines Einkammerparlaments;

Herausbildung eines neuen ökonomischen Systems mit drei Arten des Eigentums: staatliches, privates, gemischtes Eigentum; (...)

Durchführung einer auf die Achtung und Freundschaft mit allen Völkern und Staaten ... begründeten Außenpolitik. [19]

Die Notwendigkeit, durch ökonomische Entwicklung die Voraussetzungen der gesellschaftlichen zu schaffen, bestimmt die Schwerpunkte des vorgelegten Regierungsprogrammes der Regierung Allende.

Das Programm des Übergangs wird eingeleitet durch:

  1. komplette Verstaatlichung der privaten Banken;
  2. vollkommene Nationalisierung der großen Minen;
  3. Nationalisierung einiger großer Monopole des Bereiches der Produktion und Distribution; die Regierung wird vorschlagen, auf diesem Sektor mit den großen Monopolen der Textil- und Zementindustrie zu beginnen, welche den Verbrauch bzw. den Bestand an Kleidung der Bevölkerung und das Bauwesen bestimmen;
  4. entscheidenden Fortschritte in der Agrarreform;
  5. Erweiterung des staatlichen Anteils am Außenhandel.

 [20]

Diese Hauptpunkte der ersten Etappe des Regierungsprogrammes werden ergänzt durch eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die die soziale Struktur betreffen und unmittelbare Wirkungen zeitigen sollen. Darunter fallen:

  • sofortiger Beginn einer Umverteilung der Einkommen durch Beschränkung der hohen Einkommen und durch — gemessen an der Inflationsrate — überproportionale Erhöhung der niedrigen Einkommen.

Weiterhin sind aus den „ersten 40 Maßnahmen der Regierung des Volkes“ zu nennen: [21]

  • Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Ernährungslage der Kinder;
  • Festlegung der Miethöhen;
  • Arbeitsbeschaffung durch öffentliche Arbeiten;
  • Notprogramm im Wohnungsbau;
  • Reform der Rentenversorgung;
  • Förderung des Studiums unbemittelter Studenten durch Stipendien;
  • Ausbau des Gesundheitswesens, insbesondere in den Arbeitervierteln.

Die Entwicklung zum Sozialismus in Chile läßt sich jedoch nur vorantreiben, wenn dieses Programm getragen wird von der Masse der Lohnabhängigen, den bislang ausgebeuteten, in der Misere lebenden Menschen. Mit dem Programm soll die ökonomische Basis verbreitert, zugleich soll durch seine Verwirklichung der Prozeß der Gesellschaftsveränderung eingeleitet werden.

Diesen Zusammenhang beschreibt Finanzminister Zorrilla so:

Aus der Sicht der Mobilisierung des Volkes ist das Programm der wichtigste Ansatzpunkt für die wirkliche Integration des größten Teils des Volkes in die Leitung seines eigenen Schicksals; es ist der große Mechanismus der Erziehung, Bildung und der Organisation des Volkes, eine der nicht fortzudenkenden Bedingungen für den Erfolg. In einem Wort: Das Programm gibt den starken Impuls für einen weitgehenden echten Demokratisierungsprozeß unseres politischen Lebens als Ergebnis einer bewußten und reifen Massenaktion. Es ist nicht ein Geschenk von draußen, sondern das Produkt des standhaften Kampfes eines ganzen Volkes; das Programm öffnet den Weg für eine neue Verbindung von Kräften, die fähig sind, unser Land auf den Weg der autonomen Entscheidung, in die wirkliche Freiheit, zur materiellen Entwicklung und zum Beginn des Aufbaues des Sozialismus zu führen. [22]

Eine Einschätzung der überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die das Programm und die Einzelmaßnahmen der Regierung aufbauen, gab Präsident Allende in seiner 1. Botschaft an Senat und Abgeordnetenkammer:

Die Volksregierung geht bei ihrer Politik von der Existenz von Klassen und sozialen Bereichen mit antagonistischen, sich ausschließenden Interessen aus und von dem Vorhandensein eines unterschiedlichen politischen Niveaus innerhalb derselben. Gegenüber diesen Unterschieden vertritt unsere Regierung die Interessen all derjenigen Menschen, die ihr Leben durch die Kraft ihrer Arbeit verdienen: Arbeiter, Techniker, Künstler, Intellektuelle und Angestellte. Dieser soziale Block wächst zusehends als Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung; mehr und mehr gleichen sich diese Gruppen in ihren Lebensbedingungen und in ihrer Entlohnung an. Aus dem gleichen Grunde schützt unsere Regierung die kleinen und mittleren Unternehmer in allen wirtschaftlichen Bereichen, wo sie mit unterschiedlicher Intensität von der Minorität der Eigentümer der Machtzentren ausgebeutet werden. Die Mehrparteienkoalition der Volksregierung entspricht dieser Wirklichkeit. [23]

Als Präsident dieser Mehrparteienkoalition stellt Allende denn auch im Gegensatz zu seinen Vorgängern fest: „Ich bin nicht der Präsident aller Chilenen. Etwas anderes ist es, daß ich alle Chilenen respektiere und daß die Gesetze für alle Chilenen gelten.“ [24]

V. Klassenkampf in Chile

Nach dem Ausgang der Wahlen im September 1970 reagierte die Bourgeoisie panisch. Ungeheure Devisenreserven wurden außer Landes gebracht, Industrieunternehmen brachen zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg rapide.

War dies die erste Reaktion der aus der Regierung verdrängten herrschenden Klasse, so nahm die zweite andere Formen an. Nachdem Allende — wie es die Verfassung vorschreibt — wegen der nur relativen Stimmenmehrheit vom Senat und Abgeordnetenhaus mit Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden war, wenige Tage vor seinem Amtsantritt, am 22. Oktober 1971, ging die Rechte zum offenen Terror über. Die Ermordung des Chefs der chilenischen Armee, des liberalen General Schneider, sollte zum Anlaß für das herbeigesehnte Eingreifen des Militärs, für den Staatsstreich werden. Aus verschiedenen Gründen ging die Rechnung nicht auf. Das Militär akzeptierte die verfassungsgemäße Wahl des Präsidenten. Die rechten Kräfte hinter dem Komplott, in Parteien, Wirtschaft und auch im Militär, waren durch die Aufmerksamkeit und Disziplin der Volkseinheit und der sonstigen proletarischen Organisationen am Handeln gehindert.

Die Zuspitzung der Klassenauseinandersetzung konzentrierte sich zunächst auf das Land. Die Situation der Großgrundbesitzer ist durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet, außer Landes zu gehen, ohne ihren Besitz durch die Agrarreform sofort zu verlieren. Der Konflikt auf dem Lande war besonders zugespitzt: Bevölkerungsdruck, Unterbezahlung, unzureichende Versorgung, Arbeitslosigkeit, verbunden mit den Hoffnungen auf Verwirklichung der verfassungsmäßig seit 1967 festgelegten Agrarreform führten zu spontanen Landnahmen. Insbesondere die in den vergangenen Jahrzehnten von ihrem gesetzlich gesicherten Boden durch die Großgrundbesitzer vertriebenen Indios waren in einer so ausweglosen Lage, daß Selbsthilfe der einzige Ausweg schien. Diese Entwicklung, die der forçierten Bodenreform vorausgriff, führte zu gewaltsamen Reaktionen der Großgrundbesitzer, zu Aufbau und Bewaffnung von „Selbstverteidigungstruppen“. Die Belastung für die Regierung war groß. Der Präsident stand auf Seite der Landarbeiter und Indios, mußte aber verhindern, daß die Agrarreform zu einer Landparzellierung wurde, die den Aufbau einer effektiven, industrialisierten Landwirtschaft beeinträchtigen, wenn nicht verhindern würde. Vor allem aber war zu befürchten, daß die Großgrundbesitzer mit ihren bewaffneten Gruppen die Landnahmen zum Anlaß einer „militärischen“ Auseinandersetzung wählen könnten, die das Eingreifen des Militärs erzwungen hätte. Es gelang Allende und seiner Regierung, durch die entschiedene Forçierung der Agrarreform nach den bestehenden gesetzlichen Regelungen und durch Diskussionen mit und Ansprachen an Landarbeiter und Indios diesen gefährlichen Konflikt zu entschärfen.

Als die Bourgeoisie die konsequente Politik der Regierung Allende erfolgreich sah, als die wichtigen Kommunalwahlen im April 1971 bevorstanden, spitzte sich der offene Klassenkampf weiter zu. Eisenbahnattentate, Mordanschläge auf den Präsidenten, Wirtschaftsverbrechen, Dynamitanschläge auf den Flughafen, Benzinlager und Schulen kennzeichneten den Stand der von der Rechten vorangetriebenen Auseinandersetzung. [25]

Die Wahlen bestätigten überzeugend die Politik der Regierung Allende. Von 36,6 Prozent, mit denen Allende gewählt worden war, stieg der Anteil der Parteien der UP auf über 50 Prozent. Dabei wurde die Sozialistische Partei kurz nach den Christdemokraten zur zweitstärksten mit 23 Prozent, konnten die Kommunisten ihren Anteil auf über 17 Prozent steigern.

Auch die im Juli 1971 folgende Senatorenwahl in Valparaiso belegte wieder die breite Zustimmung zur Regierung, wenngleich es der Volkseinheit hier nicht gelang, den Christdemokraten diesen Senatorensitz abzunehmen. Mit 48,51 Prozent lag ihr Anteil gleich hoch wie bei den Kommunalwahlen, also etwas unter dem Ergebnis des Landesdurchschnittes. [26]

Entscheidende Veränderungen der politischen Konstellation des Landes bestehen in der Formierung der Rechtskräfte. Nach einem längeren Prozeß der Auseinandersetzung innerhalb der Christdemokraten, in dessen Verlauf sich eine Gruppe in Opposition zur Rechtspolitik der Parteiführung um Frei als „Organisation der christlichen Linken“ [27] abspaltete, scheint heute eine Rechtskoalition mit den ultrarechten Parteien und Gruppen, der Nationalpartei, den Radikaldemokraten und einer faschistischen Partei „Vaterland und Freiheit“ zu bestehen. Dieser oppositionelle Block, der erstmals bei den Wahlen in Valparaiso in Erscheinung trat, repräsentiert vor allem die Großgrundbesitzer und Kapitalisten des Landes und propagiert entsprechend eine Fortsetzung der bisherigen Politik der Anlehnung an die kapitalistischen Hauptmächte.

Dieser Block verfügt über ein eigenes Presse-, Radio- und Fernsehsystem, und er kontrolliert einige Schlüsselbereiche des Landes, die in der Regierungszeit Freis besetzt wurden. An den Konflikten in den Universitäten, die traditionell Bereiche verschärften ideologischen Kampfes sind, zeigt sich heute die dichotomische Spaltung am offensten. [28]

Der organisierte Charakter der Auseinandersetzung Anfang Dezember 1971 in Santiago kennzeichnet eine neue Etappe des Klassenkampfes. „Inszeniert von der National-Partei und der der Christlichen Demokraten“ trieben faschistische Gruppen die Konfrontation voran; in der Eskalation kommt der organisierten Demonstration der Frauen aus den Villenvierteln ebenso Bedeutung zu wie den Terrormaßnahmen der faschistischen Schlägertrupps, die „sporadisch Überfälle auf die Häuser von Regierungsmitgliedern“ durchführen. [29]

Auf der anderen Seite ist zu würdigen, was es bedeutet, wenn die Regierung der Volkseinheit erstmals Militär und Polizei gegen die Konterrevolution einsetzen konnte. Die wütende Reaktion der Rechten gibt einen Hinweis auf deren Einschätzung dieses Zusammenhanges. Zudem haben diese Ereignisse bewirkt, die klare Linie der Regierung Allende nochmals zu bestätigen. „Der konterrevolutionären Gewalt werden wir mit revolutionärer Gewalt antworten“, stellte der Präsident auf der Massenversammlung zum Abschied Fidel Castros fest. [30]

VI. Der antiimperialistische Kampf

Ist dies die eine Front, auf der die Regierung Allende zur Realisierung ihres Programmes kämpfen muß, die Klassenauseinandersetzung im Innern, so besteht die andere in der Zurückdrängung des ausländischen Einflusses, in der Erringung der wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit.

Die Außenpolitik der Anerkennung sozialistischer Länder, wie der Volksrepublik China, Kubas, der Volksrepublik Vietnam, Nordkoreas brachte zunächst keine unmittelbaren Verwicklungen.

Anders war dies bei Vorbereitung der Anerkennung der DDR. Die Bundesrepublik, einer der Haupthandelspartner und der größte Kupferabnehmer des Landes, versuchte zu intervenieren. Das anfängliche Hin und Her um die Einhaltung der Kreditversprechen durch die BRD vom September bis Dezember 1970 wurde zur Frage der Fortsetzung oder des Abbruchs der Entwicklungshilfe überhaupt, als im April 1971 die DDR anerkannt wurde. Am 20. April 1971 schrieb die Frankfurter Rundschau unter der Überschrift: „Prüfstein Chile“: „Zuverlässigen Informationen zufolge will er (Außenminister Scheel) die Entwicklungshilfe an Chile einstellen, weil die dortige Volksfrontregierung des Marxisten Allende, in freien Wahlen an die Macht gekommen, vor wenigen Tagen die DDR anerkannt hat.“ [31] Die Bundesregierung hat diesen Schritt nicht getan; das Engagement westdeutschen Kapitals und die Abhängigkeit vom Kupfer sind so stark, daß ein solcher „unfreundlicher Akt“ nicht ohne Folgen für Westdeutschland geblieben wäre.

Anders reagierten die USA, als nach Verstaatlichung der Kupferminen die auf Grund gesetzlicher Regelungen festgesetzten Entschädigungen bekannt wurden. Zunächst wurde ein vereinbarter Kredit an die chilenische Regierung, der zum Ankauf von 3 Flugzeugen für die chilenische Luftverkehrsgesellschaft vorgesehen war, storniert. Am 13. August dann sprach das Außenministerium der USA offene Drohungen gegen Chile aus.

Die Regierung der Vereinigten Staaten ist vollkommen entgegengesetzter Ansicht (als die chilenische) und verdrossen über diese erhebliche Abweichung von den anerkannten Normen des internationalen Rechts ... Die Vereinigten Staaten haben der chilenischen Regierung ihre Erwartung deutlich gemacht, daß es möglich sein muß, eine vernünftige und pragmatische Lösung in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu finden ... Wenn Chile seine internationalen Verpflichtungen nicht erfüllt, könnten die privaten Kapitalzuflüsse — die Basis der Unterstützung durch ausländische Hilfe — gefährdet sein und mögliche Auswirkungen auf andere Entwicklungsländer bestehen. [32]

Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Senator Altamarino erklärte, daß nach seinen Informationen Washington neben der Ablehnung neuer Kredite eine teilweise Schließung des Panama-Kanales für Schiffe beabsichtige, die Frachten nach Chile transportieren. [33]

Als besondere Bedrohung empfinden die Chilenen das neue, mit Unterstützung des CIA [34] und der brasilianischen Regierung installierte Regime in Bolivien. So verweist Senator Altamarino darauf, daß „Washington beabsichtige, das militärisch-faschistische Regime Boliviens zu nutzen, Chile den Export seiner Revolution vorzuwerfen.“ [35] Diese Frage solle vor der „Organisation amerikanischer Staaten“ (OAS) verhandelt werden. Die bolivianische Regierung ihrerseits versucht ganz in diesem Sinne Chile den Revolutionsexport vorzuwerfen, um eine Reaktion der OAS auszulösen. Bisher vergebens, aber bekanntlich lassen sich Zwischenfälle provozieren und Zusammenhänge konstruieren, wie die US-amerikanische Außenpolitik hinreichend belegt. Die Bedrohung Chiles ist in diesem Zusammenhang real.

Was das von Washington beschworene „internationale Recht“ anbetrifft, so ist es das Recht derjenigen, die die internationalen Beziehungen kontrollieren: der imperialistischen Länder und kapitalistischen Monopole.

Dafür drei Beispiele:

Beispiel I:

Im internationalen Schiffsverkehr sind durch die Reederei-Konferenz Gepflogenheiten zum Recht geworden, die einem Betrug gleichkommen. Für Verladungen auf Schiffen der Konferenz werden Verladern und Spediteuren sogenannte Treueprämien gewährt, die nachträglich in Höhe von 9,5 Prozent ausbezahlt werden. So ist neben der regulären Frachtrate auch diese „Treueprämie“ von den Empfängern aufzubringen. Chile erhebt heute, nachdem diese Regelung von der Regierung als ungesetzlich erklärt wurde, Forderungen in Höhe von 20 Millionen US-Dollar, die dem Land durch dieses „internationale Recht“ seit 1965 entgangen sind. [36]

Reduziert man die Politik der nationalen Unabhängigkeit, der nationalen Kontrolle über die Bodenschätze für die betroffenen ausländischen Konzerne auf die entscheidende Frage, dann erscheint der Komplex vor allem als eine Frage des Profites. Enteignungen sind hinzunehmen, vor allem, wenn das enteignete Produktionsmittel lange genug hohe Profite erbrachte und in hinreichend desolatem Zustand ist, so daß die Enteignung selbst noch zu einem guten Geschäft wird. Das heißt „vernünftige und pragmatische Lösung“ in der USA-Erklärung, das heißt auch „internationales Recht“.

Beispiel II:

Mit einigen US-Konzernen gelang es der chilenischen Regierung, zu einer Übereinkunft über die Entschädigungszahlungen zu kommen, bei der auch die nationalen Interessen berücksichtigt wurden. So ist zum Beispiel mit der Bethlehem Steel Co. die Verstaatlichung der chilenischen Stahlindustrie geregelt worden. Bei den Kupferminengesellschaften kam diese Übereinkunft nicht zustande. Das chilenische Gesetz sieht in diesem Falle vor, daß die oberste, unabhängige nationale Kontrollbehörde (Rechnungshof) nach den Geschäftsbüchern und den verschiedenen, gegeneinander aufrechenbaren Forderungen den Entschädigungsbetrag ermittelt. Die „Contraloria general de Chile“ legte ihre Ermittlungsergebnisse Anfang Oktober 1971 vor. Die Berechnungen ergaben Forderungen des chilenischen Staates an die 5 enteigneten Minengesellschaften in Höhe von insgesamt 360 Millionen US-Dollar. [37] Auf diese souveräne, nach nationalem Recht getroffene Entscheidung reagierte Washington wie oben ausgeführt.

Beispiel III:

Für einen weiteren US-amerikanischen Konzern zeichnet sich ein vergleichbarer Konflikt ab. Das Telefon- und Telegrafensystem des Landes ist seit 1933 zu 70 Prozent in den Händen der „International Telephon and Telegraph“. Präsident Allende mußte am 23. September 1971 eine staatliche Intervention in der chilenischen ITT-Gesellschaft anordnen, nachdem mit dem US-Konzern keine Einigung über die Entschädigung bei einer Nationalisierung erreicht werden konnte und nachdem die Versorgung Chiles durch die Gesellschaft nicht mehr gewährleistet wurde. Außerdem hatte die Gesellschaft vertragliche Vereinbarungen, die sie 1967 mit der Regierung Frei getroffen hatte, nicht erfüllt. Dieser Vertrag aus dem Jahre 1967 gewährte der Gesellschaft einen Staatskredit in Höhe von 90 Millionen US-Dollar mit der Auflage, bis 1971 144.000 neue Telefonanschlüsse zu legen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren jedoch nur 60.000 Linien installiert. Obgleich nachweisbar der Buchwert der Gesamtinstallationen der Gesellschaft in Chile nur ca. 50 Millionen US-Dollar ausmacht, fordert die Gesellschaft 153 Millionen US-Dollar. [38]

Es ist zu erwarten, daß auch diesmal nach einer Entscheidung des Rechnungshofes die US-Regierung sich einschalten wird und so die Beziehungen der zwei Länder weiter auf den Punkt zutreiben, der durch offene Repressionen und Interventionen gekennzeichnet ist.

VII. Probleme der Entwicklung zum Sozialismus

Die besondere politisch-ökonomische Situation der Regierung Allende ist dadurch gekennzeichnet, daß zunächst nur die Regierung mit einer Minderheitenstellung in Senat und Abgeordnetenhaus von der Volkseinheit gestellt wird. Wesentliche Machtbereiche der Gesellschaft, die bislang in den Händen der Bourgeoisie waren und in deren Interessen wirkten, sind entweder vor direkten Zugriffen durch die Verfassung geschützt oder personell nicht neu zu besetzen, so daß von ihnen eine stete Hemmung der Politik der Volksregierung ausgeht. Die Kontrolle über die Machtzentren der Gesellschaft ist aber eine der Voraussetzungen für den geplanten gesellschaftlichen Umschwung. Die Erwartungen der Massen an die sozialistische Regierung müssen nun unter diesen Bedingungen wenigstens teilweise sofort erfüllt werden, um die krasse Armut und soziale Ungerechtigkeit zu mildern.

Zugleich müssen aber auch die politisch-ökonomischen, organisatorischen, bildungsmäßigen Voraussetzungen für den nächsten Entwicklungsschritt geschaffen werden. Die Volksregierung steht unter dem Zwang, die wirtschaftlichen Grundlagen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu schaffen, ohne daß sie über alle entscheidenden Machtzentren verfügt. Daneben müssen neue, sozialistische Formen der Planung und Leitung durch Beteiligung der Massen entwickelt, erprobt und umgesetzt werden.

Soweit diese notwendigen Maßnahmen durch den Widerstand der Bourgeoisie behindert werden, ist es möglich, diesen Widerstand zur weiteren politischen Organisierung zu nutzen, den Massen diese Hindernisse als Klassenkampf zu verdeutlichen. Schwieriger — und trotz hohen politischen Bewußtseins nicht unmittelbar einsichtig — ist es, die wirtschaftliche Basis zu verbreitern, den Massen die Notwendigkeit von mehr Arbeit zu vermitteln und die Lohnerhöhungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. Insbesondere in den wichtigsten Produktionsbereichen — Kupfer und Teile der Industrie — muß neben der Beseitigung des Widerstandes der Unternehmer eine Wandlung der Einstellung der Arbeiter herbeigeführt werden.

Diese Probleme wurden in Chile offensichtlich, als im August 1971 die Minenarbeiter in „El Salvador“ um höhere Löhne streikten, die aus Gründen der gesellschaftlichen Entwicklungsplanung von der Regierung nicht zugestanden werden konnten. Hier zeigte sich dann, daß es dem persönlichen Einsatz des Präsidenten, der Arbeit der politischen Parteien der Volkseinheit und der Gewerkschaft gelingen kann, durch Überzeugung den Arbeitern die neuen gesellschaftlichen Bedingungen zu vermitteln: daß nämlich der Aufbau des Sozialismus auf Akkumulation, also auf ein Mehrprodukt angewiesen ist. Es gelang, diesen Lohnkonflikt zu einem politischen Erfolg der Regierung zu machen, insofern das Bewußtsein der Arbeiter auf die neue Stufe der gesellschaftlichen Wirklichkeit gehoben wurde. Für die Arbeiter in Chile, für die der Kupferbereich immer eine Schlüsselstellung hat, wirkte diese Regelung beispielgebend. [39]

Wichtig für die Heranführung der Arbeiter an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse ist ihre direkte Beteiligung an den Betriebsentscheidungen. So wurden in den verstaatlichen Betrieben Arbeiterkommissionen geschaffen, die mit den vom Staat eingesetzten Betriebsführungen gemeinsam die Produktion planen.

Nur auf diesem Wege und dem einer erweiterten Ausbildung von Fabrik- und Landarbeitern in Schnellkursen läßt sich der ungeheure Mangel an Fachkräften aufheben, der eine direkte Folge der bisherigen kapitalistischen Entwicklung ist. Seit dem Regierungsantritt bis zum August 1971 wurden 1500 Industriearbeiter zu Universitätskursen herangeführt; in den ersten drei Monaten des Jahres 1971 wurden 40.000 Landarbeiter in Elementarkursen weitergebildet. [40] Doch werden die ausgebildeten Fachkräfte des Landes für die Besetzung der Regierungs- und Verwaltungspositionen bei weitem nicht ausreichen. Auch hier werden die Grenzen der Entwicklung zur Zeit noch durch das Erbe der bürgerlichen Periode bestimmt. Die Begrenztheit der gesellschaftlichen Ressourcen macht es notwendig, in vielen Bereichen zunächst noch zu improvisieren.

Planungs- und Entwicklungsschwerpunkte erfordern den Einsatz der verfügbaren gesellschaftlichen Kräfte und führen damit notwendig zu einer Vernachlässigung anderer Bereiche. Die Prioritäten der Entwicklung werden durch zwei gleichzeitig notwendige Zielsetzungen bestimmt:

  1. Erhöhung der Produktion in den Schlüsselbereichen: nach der Mißwirtschaft insbesondere des Jahres 1970 und dem Abzug der ausländischen Fachkräfte muß zunächst einmal der Produktionsstand von 1969 wieder erreicht werden.
  2. Investitionen und forçierter Ausbau in solchen Produktionsbereichen, die elementare Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen und eine stimulierende Wirkung auf die Gesamtwirtschaft haben. „Es gibt einen Flaschenhals, das ist der Wohnungsbau ... Der Wohnungsbau ist von fundamentaler Bedeutung, ... weil für jeden Arbeiter, der in diesem Bereich tätig wird, zwei weitere Arbeit in Industrie und Dienstleistungen finden, die mit dem Wohnungsbau verbunden sind.“ [41]

VIII. Widerstand der Bourgeoisie

Gerade im Bereich der Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern des Lebensbedarfes hat die Regierung Allende in den ersten Monaten große Anstrengungen unternommen.

Mit der gezielten Steigerung der Massenkaufkraft wurden auf der einen Seite die Voraussetzungen zu einer besseren Bedarfsdeckung der bislang ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen ▒▒▒▒ [*] der Seite der Güterherstellung und -verteilung ergaben und ergeben sich Schwierigkeiten. Der Grund hierfür ist im Widerstand einiger Unternehmer und darin zu sehen, daß die Bourgeoisie noch die besseren Voraussetzungen besitzt, die Anstrengungen der Regierung für sich zu nutzen und bestimmte politische Maßnahmen zu unterlaufen.

Versorgungspässe werden gegenwärtig vor allem neben dem schon erwähnten Wohnungsproblem im Bereich des Pulverkaffees, der Automobile, Textilien und des Fleisches (Rindfleisch) festgestellt. Beim Pulverkaffee, der fast ausschließlich in Chile getrunken wird, gab es im 1. Halbjahr 1971 eine Nachfragesteigerung von 10 Prozent, wogegen die Produktion in dieser Zeit um 7 Prozent zurückging. Hier läßt sich zeigen, wie einzelne Unternehmer — unter ihnen ein Senator der Rechten — ihre Produktion und den Import von Kaffeebohnen drosseln (Importrückgang um mehr als die Hälfte [42]).

Ähnlich verhält es sich mit der Automobilproduktion. „Die Regierung ist entschlossen — heißt es in einer Nachricht aus Chile —, die Einrichtungen der Ford Motor Co. zu übernehmen, nachdem das nordamerikanische Monopolunternehmen die Produktion paralysiert hat und Massenentlassungen vornahm.“ [43]

Das Problem der Versorgung mit Fleisch, vor allem Rindfleisch, besteht seit vielen Jahren in Chile. Die Regierung Frei versuchte den Konsum zu drosseln, indem sie den Fleischverkauf nur an 2 Tagen der Woche (bzw. 2 Wochen im Monat) zuließ. Mit dieser Maßnahme sollte eine Verbrauchsumlenkung erreicht werden, um einen Teil der für den Fleischimport notwendigen Devisen zu sparen.

Durch die Kaufkrafterhöhung stieg aber der Fleischverbrauch, zum Beispiel in Santiago und Valparaiso um 18 Prozent. Die Regierung Allende erhöhte daraufhin den Import erheblich, um den entstandenen Bedarf der Massen zu befriedigen. Diese Maßnahme hatte jedoch nicht den beabsichtigten Erfolg. In den Arbeitervierteln gab es kein Fleisch. Auf das erhönte Angebot konnte nämlich vor allem die Bevölkerung der vornehmen Viertel eingehen, indem „sie viel mehr kaufte, als in einer Woche verbraucht werden kann“. [44] Die Bourgeoisie, ausgestattet mit Geld, Kühlschränken und Tiefkühltruhen vereitelte die Planung der Regierung durch Hamsterkäufe.

Ferner führt die unterschiedliche Ausstattung und Größe der Geschäfte in Massen- und Bürgervierteln zu unterschiedlichen Preisentwicklungen. „Die Disparität der Preise zwischen Höchst- und Niedrigpreisen beträgt 43 Prozent in kleinen Geschäften der Arbeitersiediungen und Elendsquartieren ... Um 27 Prozent liegen die Preise hier über den offiziellen Preisen.“ [45]

Das überlieferte Verteilungssystem trägt also dazu bei, die Einkommensdifferenzen zu verschärfen. Das ist das Ergebnis der bisherigen geringen Kaufkraft in diesen Vierteln, die keinen ausreichenden Anreiz für große Handelsunternehmen bot, dort Geschäfte einzurichten. Dies ist zugleich auch Ausdruck der Unterbeschäftigung, insofern viele Einzelpersonen mit einigen wenigen Waren handeln, die sie mit großen Preisaufschlägen verkaufen, um von diesem Handel existieren zu können. Dazu kommen die schlechten Verkehrsverhältnisse, die etwa Preisvergleiche oder die Nutzung günstigerer Einkaufsquellen unterbinden. Eine staatliche Preisüberwachung kann hier wenig ausrichten. Deshalb unterstützt die Regierung die Errichtung von Einkaufszentren und gleichzeitig eine Preisüberwachung durch organisierte Nachbarschaften.

IX. Schlußbemerkung

Es soll hier unterbleiben, eine Erfolgsstatistik des 1. Jahres der Regierung Allende aufzustellen. [46] Die drei Schwerpunkte: Erhöhung der Produktion, Kontrolle über die Schlüsselbereiche der Wirtschaft, Organisierung und Beteiligung der Massen an den gesellschaftlichen Entscheidungen sind in diesem Jahr weit entwickelt worden. Damit sind die Voraussetzungen verbessert, ist die Basis verbreitert, auf der die Entwicklung des kommenden Jahres aufbauen kann. Die Probleme des Übergangs zum Sozialismus werden sich in der weiteren Verschärfung des Klassenkampfes widerspiegeln; sie werden in der Reaktion des internationalen Kapitals und der imperialistischen Staaten zu sehen sein und nicht zuletzt in der Solidarität der sozialistischen Länder, deren Stärke erst — wie Castro für die Revolution auf Kuba in Chile immer wieder betonte — die Garantie für die zukünftigen Etappen der chilenischen Revolution ist.

[1Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 10.11.1971.

[2W. Lenin, Über die Doppelherrschaftt, Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 47, Berlin 1966.

[3Luis Corvalán, Rede auf der internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien, Moskau 1969, Verlag Frieden und Sozialismus, Prag 1969, S. 333.

[4Primer Mensaje del Presidente Allende ante el Congreso pleno v. 21.5.1971, Santiago/Chile 1971.

[5El Mercurio, Santiago/Chile, v. 14.8.1971, S. 11.

[6El Mercurio, Santiago/Chile, v. 4.2.1971, S. 1.

[7Sintesis Latinoamericana, Nr. 46 v. 24.11.1970, S. 17.

[8El Mercurio, Santiago/Chile, v. 26.1.1971, S. 9.

[9Sintesis Latinoamericana, a.a.O.

[10Süddeutsche Zeitung v. 19./20.12.1970.

[11Vgl. Dieter Boris u.a., Chile auf dem Weg zum Sozialismus, Köln 1971, S. 260.

[12Frankfurter Rundschau v. 22.9.1971.

[13Newsweek v. 15.11.1971, S. 15.

[14Sintesis Latinoamericana, a.a.O.

[15Norbert Lechner, Der Demokratisierungsprozeß in Chile (Diss.), Karlsruhe 1970, S. 195.

[16El Mercurio, Santiago/Chile, v. 30.7.1971.

[17El Mercurio, Santiago/Chile, v. 26.1.1971.

[18Präsident Allende im Interview mit R. Debray, in: Revista Latinoamericana, Mai/Juli 1971, S. 63.

[19Jorge Texier, Das erste Jahr der Volksregierung in Chile, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, Prag 1971, Nr. 10, Oktober, S. 1421.

[20Finanzminister Zorrilla in: Panorama Economico, Santiago/Chile 1971, S. 34.

[21Die ersten 40 Maßnahmen der Regierung des Volkes, in: Revista..., a.a.O., S. 64 ff.

[22Zorrilla, a.a.O., S. 35.

[23Allende, Botschaft..., a.a.O., S. 5.

[24El Mercurio, Santiago/Chile, Anfang Februar.

[25Sintesis Latinoamericana Nr. 77 v. 18.3.1971.

[26Sintesis Latinoamericana, Nr. 112 v. 19.7.1971.

[27Sintesis Latinoamericana, Nr. 119 v. 16.8.1971.

[28Sintesis Latinoamericana, Nr. 140 v. 27.10.1971.

[29Süddeutsche Zeitung v. 4./5.12.1971, Chiles Volksfront in Bedrängnis.

[30Ebenda.

[31Frankfurter Rundschau v. 20.4.1971.

[32Zitiert nach: El Siglo, Santiago/Chile v. 14.10.1971.

[33Sintesis Latinoamericana Nr. 136 v. 14.10.1971.

[34Frankfurter Rundschau v. 27.10.1971.

[35Sintesis Latinoamericana Nr. 136 v. 14.10.1971.

[36Hamburger Morgenpost v. 4.11.1971.

[37El Mercurio, Santiago/Chile, v. Anfang Oktober.

[38Sintesis Latinoamericana Nr. 131 v. 27.9.1971.

[39Sintesis Latinoamericana Nr. 119 v. 16.8.1971.

[40Frankfurter Rundschau v. 10.8.1971, Interview mit Allende.

[41Nationale Informationen der KP Chiles, März 1971.

[*Hier ist in der gedruckten Ausgabe offenbar eine Wortfolge dem Umbruch zum Opfer gefallen.

[42Wirtschaftsminister Vuskovic in: El Siglo v. 1.8.1971.

[43Sintesis Latinoamericana Nr. 97 v. 27.6.1971.

[44Vuskovic, a.a.O.

[45Ebenda.

[46Vgl. Dieter Boris, Elisabeth Boris u. Wolfgang Erhardt: Ein Jahr Unidad Popular in Chile, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/71, Köln. Von den gleichen Autoren: Chile auf dem Weg zum Sozialismus, a.a.O.; Via chilena Nr. 2, Nov. 1971, Santiago/Chile.

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