Heft 6-7/2004
Oktober
2004

Chronologie eines Motivationsproblems

Zum Todestag von Michel Foucault

Genealogie

Juni: Michel Foucault ist seit zwanzig Jahren tot, das wird vielerorts beschrieben, aber Context XXI erscheint nicht zum passenden Zeitpunkt und zudem sind die theore­tischen Vorlieben der Redak­tion nicht gerade zu Gunsten des Theoretikers der Macht verteilt.

August: Ich warte am Westbahnhof und langweile mich. Am Kiosk sind die we­nigen Ausgaben der Jungle World schon verkauft, kon­kret ist noch zu haben, nicht aus Nostalgie oder Gewohn­heit, schon eher wegen des wirklich gelungenen Covers — acht Seiten extra Foucault und der Islam — und natürlich wegen der Langeweile kaufe ich was angeboten wird.

September: Ich behaupte in einer Redaktionssitzung ei­nen Text zu Foucault schreiben zu wollen, vielleicht auch mit oder in dessen Termino­logie, jedenfalls die — in die­sem Rahmen überwiegenden — kritischen Tendenzen zu er­gänzen. Auch der Anspruch eines konstruktiven Austau­sches unterschiedlicher Posi­tionen und Vorlieben ist ir­gendwo im Raum (natürlich nicht expliziert, Wünsche und Vorhaben bedürfen kei­ner ständigen Wiederholung, um gegenwärtig zu bleiben).

Ende September: Redakti­onsschluss, eigentlich. Der Termin gilt nicht unbedingt für alle, ich konkretisiere mein Vorhaben nicht, die Pläne sind auch denkbar vage, denn es gibt jedenfalls ein paar gute Gründe Foucault zu lesen:

Da wären mal die absolut zitationswürdigen Sätze, die ihn zudem mit Deleuze/Guattari verbinden und die Ver­mutung nähren, dass ein Teil der Aggression gegen ihn/sie aus dieser hervorragenden Fähigkeit resultiert: „Solan­ge man nur ad infinitum das immergleiche Anti-Repressi­onslied singt, bleiben die Dinge unverrückt, und es ist ganz gleich wer den Gesang anstimmt, es hört ihm doch keiner zu.“ [1]

Allein damit ist schon viel gesagt, oder verdeckt, wie mancher meint, der „nur mit Hilfe komplizierter Opera­tionen“ den „stockaffirmati­ven Charakter der Foucault­schen Philosophie“ offenle­gen kann. [2] Mir bliebe, an die produktiven Aspekte der Macht zu erinnern und an ih­re libidinösen Besetzungen, denn auch Foucault unter­scheidet zwischen Herrschaft und Macht. Seine Ablehnung jeglicher Form der Totalisierung findet durchaus eine Entsprechung in Adornos Absage an Hegels absoluten Weltgeist als totale Identität. [3] Dem Bedürfnis die Totalität der Gesellschaft zu erfassen, ein Gesetz zu definieren, des­sen Bedeutung alle Missstän­de kapitalistischer Vergesell­schaftung in einer Art Schwerpunkt konzentriert und so qua Erkenntnis deren Überwindung ermöglicht, steht der „unbegriffene“ Fe­tischcharakter der Waren ge­genüber. Die naheliegende Polemik, warum selbst oder gerade viele Linke dieses ver­dinglichte Bewusstsein nicht begreifen wollen und einen wesentlichen Schritt zu ihrer Emanzipation tun, könnte ebenso gut auf andere An­sätze übertragen werden. Wieder eine Möglichkeit weniger, einen Text zu Foucault zu schreiben, zudem forderte Foucault im selben Gespräch einen „Augenblick neuer Be­weglichkeit und neuer Ver­schiebung“. Die naheliegende Assoziation hierzu wäre, dass im deutschsprachigen Kon­text der Terminus „Bewe­gungslinke“ nur mühsam sei­ne pejorative Bestimmung verliert, zudem erinnert hier­orts die proklamierte Dyna­mik an Hochphasen des drit­ten Lagers, rechtsextreme Parteien sind insoweit kon­servativ, als sie immer wieder an ihre historischen Vorbil­der erinnern.

Produktion — Konfrontation

Ich kann mich für den Re­zeptionswunsch von Deleuze/Guattari begeistern: die Aneignung einer Verfügung über ihre Bücher möge ähn­lich dem Umgang mit Musik auf diversen Tonträgern funk­tionieren, also nicht im Sinne eines klassischen Dramas, in dem die Aktfolge wichtig ist. Vielleicht verhindert dieser leichtfertige Umgang eine „ernsthafte Beschäftigung“. Diese Ernsthaftigkeit stellt aber eine der herausragendsten Eigenschaften kritischer Theoriebildung dar, das Ide­al der deduktiven Erkenntnis erfordert ein hohes Maß an argumentativer Strenge, wo­bei mich weder Deduktion noch Exegese über die kon­krete Mechanik von Ausbeu­tung, Geboten und vor allem widerständigem Tun belehren. Foucault fragt immerhin nach der Produktivität der Norma­lisierung, er versucht den Reiz und die Befriedigung inner­halb eines Normenspektrums zu situieren zu ergründen. Je­denfalls erwähnenswert ist an dieser Stelle die Lust an wi­derständigen Praktiken und Versuchen. Wenn es kein außerhalb der Macht gibt, kei­nen privilegierten oder subalternen Punkt, der zu distan­zierten Analysen befähigt, kei­nen „Ort der Großen Weige­rung“, ist auch der wesentli­che Zusatz Foucaults nahelie­gend: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ [4] Die vielfäl­tigen Kräfteverhältnisse, die etwa im Jargon Althussers in den Produktionsapparaten, Familien, Institutionen wirken — in ihnen gebildet und mo­difiziert werden und im sel­ben Schritt auf diese zurück­wirken, sich wechselseitig be­einflussend — inkludieren Spannungen und Spaltungen, die den „gesamten Gesell­schaftskörper“ durchlaufen. Widerstandspunkte streuen in diesem Netz der Machtbezie­hungen und führen in ihren Verkettungen zu Revolten, Ausschreitungen; „große ra­dikale Brüche“ kommen vor, doch kaum aufgrund der Identifikation des schwäch­sten Gliedes in der Häufung von Machtrelationen oder des archimedischen Punktes der Analyse.

Nicht zuletzt das Scheitern dahingehender Ansätze be­dingt die Notwendigkeit einer Veränderung der Perspektive, wobei die Suche nach kapil­laren Wirkungen, alltäglichen Praxen den Versuch eines nicht-totalisierenden Modells beschreibt, das die totalisierenden Funktionsweisen der herrschenden Macht radikal kontrastiert. Foucault konsta­tiert eine allgemeine Brüchig­keit, benennt die „Wirkung der diskontinuierlichen, par­tikularen und lokalen Kriti­ken“ und damit einhergehend die hemmende Wirkung ganz­heitlicher Theorien. [5] Deren Verwendung und Verwend­barkeit, etwa von Marx(is­mus) und Psychoanalyse, wird nicht negiert, doch ihre Funk­tion als Instrumente scheint bereits eine gewisse Brüchig­keit der Diskurse immer schon vorauszusetzen. Kenn­zeichen dieser (lokalen) Kri­tik ist eine „autonome, nicht zentralisierte, theoretische Produktion“, die daraus fol­gend „zur Bestätigung ihrer eigenen Gültigkeit nicht der Billigung eines allgemeinen Normensystems bedarf“. [6]

Gouvernementalität — Kritik

Foucault beschreibt eine „Machtform, die aus Indivi­duen Subjekte macht“, im zweifachen Sinn des Wortes Subjekt: „vermittels Kontrol­le und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbst­erkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“. [7] Der Staat, als eine „zugleich indi­vidualisierende und totalisierende Form der Macht“ wirkt weniger als ein Verhältnis der direkten Unterdrückung, des Verbots als in der Kumulati­on und Etatisierung gesell­schaftlicher Machtverhältnis­se. Deren Analyse, die tradi­tionelle Gewichtung von Ge­walt und Konsens, löst Fou­cault unter Rückgriff auf die Kategorie des Subjekts im Be­griff des Handelns: das Machtverhältnis wird als Handlungsweise definiert, de­ren Wirkung auf „mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen“ gerichtet ist. [8] Das Subjekt des Handelns, sein „Möglich­keitsfeld“ konstituiert sich in einem komplexen Spiel, wor­in „Freiheit“ als Vorausset­zung und ständige Provokati­on der Machtverhältnisse auf­tritt. In dieser Matrix existiert die Option von Widerstand, Ausweg, Flucht und das Ge­füge der Machtdispositive, beide Perspektiven können als Ausgangspunkte der Analyse konkreter Ereignisse fungie­ren, deren Resultate zu unter­schiedlichen Verknüpfungen und Intelligibilitäten führen.
Das Gegenstück zur „Be­wegung der Regierbarmachung der Gesellschaft“ fasst Foucault in der „kriti­schen Haltung“, einer „Tu­gend“, die eine Kunst des Wi­derstands darstellt, eine stän­dige Frage nach den Bedin­gungen der Möglichkeit „nicht dermaßen regiert zu werden“. [9] Im Netz der Be­ziehungen von Macht, Wahr­heit und Subjekt „ist die Kri­tik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknecht­schaft. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nen­nen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ [10]

Letztlich scheint — ent­sprechend meines internali­sierten Harmoniebedürfnis­ses — eine Verbindung von kritischer Theorie und post­strukturalistischen Ansätzen in Foucaults Sprache zu ge­lingen, die EpigonInnen und ExegetInnen sind weiterhin bemüht.

[1Nein zum König Sex. In: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 191f.

[2konkret 8 (2004), S. 36.

[3Demgegenüber bringt in der Negativen Dialektik die Ne­gation keine unmittelbare Positivität hervor, Nichtidentität ist kein absoluter Gegenbegriff zur Identität. Solche Sätze sind möglich, schließlich befinden wir uns nicht mehr in der Phase der Ablehnung der „Überväter aus Frankfurt“, das war 1968 und eine Geste der antiautoritären Bewegung.

[4Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, Der Wil­le zum Wissen. Frankfurt/Main 1977, S. 115ff.

[5Historisches Wissen und Kämpfe der Macht. Vorlesung von 7. Januar 1976 am Collège de France. In: Dispositive der Macht, S. 58f

[6Längst wissen wir auch, dass die Crux ethischer Argumen­tationen darin besteht, dass eine Letztbegründung unmöglich ist.

[7Michel Foucault: Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Herme­neutik. Weinheim2 1994, S. 246ff

[8Wie wird Macht ausgeübt. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, S. 254ff.

[9Michel Foucault: Was ist Kritik. Berlin: Merve 1992, S. 8-12.

[10Was ist Kritik, S. 15.

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