FORVM, No. 100
April
1962

Chwostik am Start

Im Herbst dieses Jahres wird, verlegt vom Münchner Biederstein-Verlag, Heimito von Doderers Roman „Die Merowinger oder Die totale Familie“ erscheinen. Inzwischen hat der Dichter schon einen weiteren Roman, seinen siebenten, fertiggestellt. Aus diesem „Roman Nr. 7“ stammt das nachfolgende, leicht gekürzte Kapitel.

„Wewerka“ heißt auf deutsch „das Eichhörnchen“ ; mit einem solchen hatte das formatige Knollengewächs, die Hausmeisterin, wahrlich nichts gemein (es sei denn das scharfe Gebiß, mit welchem sie den torkelnden Gatten zernagte). Aber es heißen ja auch Frauenspersonen „Marguerita“, also „Perle“, die man nur rasch vor die anderen Säue werfen möchte, oder „Rosa“, obgleich einem da mitunter ein einziger Dorn entgegen steht und sonst nichts.

Warum Chwostik ihr eigentlich nichts davon sagte, als er noch vor dem ersten Mai — auf Anraten des Herrn Doctor Eptinger — in einem formellen Schreiben an den Hausherrn seine Wohnung aufkündigte, vermögen wir selbst nicht genau anzugeben. Es wurde von ihm wohl für überflüssig gehalten. Die Hausmeisterin bekam er so oft nicht zu Gesicht und in die Unterwelt abzusteigen wäre ihm nie eingefallen. Zwischendurch einmal lehnte der Torkel besoffen im Hausflur und schimpfte Chwostik nach, während dieser die Stiegen zu steigen begann; vom ersten Absatz konnte jetzt, bei der Wendung, die Wewerka gesehen werden, welche aus dem Loche fuhr, den Torkel mit ihren Klauen ergriff und hinab zerrte.

In seinem Kündigungs-Brief hatte Chwostik den Hausherrn in geziemender Form gebeten, ihm einen Abschiedsbesuch machen zu dürfen, in Anbetracht der Tatsache, daß sowohl seine Eltern wie er selbst durch so lange Zeit hier im Hause gewohnt hätten.

Der Oberlandesgerichtsrat im Ruhestande Doctor Eugen Keibl — so hieß der Hausherr, nicht nur dieses einen Hauses, denn er hatte in Wien noch sechs andere — betrachtete nicht ohne Sympathie des Herrn Chwostik schöne currente Kanzleischrift, setzte sich dann zu einem barocken Sekretär mit „Tabernakel“ und zahllosen kleinen Laden und schrieb ein Billet, in welchem er Chwostik einlud, ihm das Vergnügen seines Besuches zu machen, an dem und dem Tage, um 11 Uhr.

Es interessierte ihn, den Mann kennen zu lernen. Die Errichtung der Firma Clayton & Shuttleworth in Wien war dem Doctor Keibl nicht entgangen, da ein Verwandter von ihm Lieferungen von Heizungsanlagen beim Aufbau des Werkes übernommen hatte. Mr. Clayton aber sprach, wie man weiß, gerne von seinem erstaunlichen Bureau-Chef, das zeigt sich hier wieder einmal. Nun wollte Doctor Keibl diesen scheidenden Mieter doch noch sehen, welchen wohl die veränderten Lebensumstände veranlaßten, eine ihnen entsprechendere Wohnung zu nehmen.

Chwostik wählte für diesen Besuch den sogenannten „Geh-Rock“, zu welchem ein schwarzer Cylinder getragen wurde. Es war an diesem Tage so warm nicht, daß solche Tracht ihm wäre lästig geworden. Im Bureau hatte er sich entschuldigt. Er ging reichlich rechtzeitig von daheim weg und befand sich besonders wohl. Das hing nun mit Andreas Milohnic zusammen. Dieser hatte ihm ein paar Tage vorher als kleines Geschenk eine Flasche von Joh. Maria Farina’s Kölnischem Wasser gebracht, ein von Chwostik bisher nie benütztes Toilette-Mittel. Nun, am Tage seines Besuchs bei dem Hausherrn zog er den kleinen Pfropfen (und danach noch oft, und nicht nur bei dieser einen Flasche).

Der Hausherr wohnte auf der Wieden. Chwostik ging ein Stück zu Fuße, in der Richtung zum nächsten Fiaker-Standplatz. Aber erst in der Seidlgasse war’s, daß er einen Fiaker kriegen konnte, sogar einen „Gummiradler“, der zufällig leer und langsam im Schritt einherfuhr, vielleicht schon ausspähend nach einem Fahrgast. Chwostik stieg ein. Der Wagen wandte um. Die blank gestriegelten Pferde schienen heut noch nicht viel gelaufen zu sein, der Kutscher mußte sie halten, um im kurzen Trabe zu bleiben. Dann und wann sprach er zu ihnen, in nur halb articulierten Lauten, und schob dabei jedesmal den schwarzen Halbkrach — die „Butten“, wie man den chapeau melon in Wien nannte mit der hell behandschuhten Hand ein wenig in’s Genick. Die lange dünne Equipagen-Peitsche spielte wie ein Krebs-Fühler in der Luft. Die Seidlgasse hatte Holzstöckel-Pflaster, hier ging’s weich dahin, erst auf den Katzen-Köpfen der Landstraßer Hauptstraße hüpfte und zitterte der Wagen ein wenig. Jetzt rollte man gegen den Ring hinaus, denn der Kutscher vermied die Lastenstraße mit dem vielen langsamen hemmenden Schwerfuhrwerk, und folgte auch nicht dem Laufe der Wollzeile, die damals noch sehr steil war. Auf der Ringstraße erst mit ihren Alleebäumen kam das flotte Fahrzeug zu seiner wahren Natur, der Kutscher ließ den Pferden mehr die Zügel. Linker Hand lag tief und grün der Stadtpark. Chwostik sah sich in seinem Zimmer im Bette liegen, flankiert von Finy’s und Feverls Amtsräumen, und empfand hier im Wagen diesen merkwürdigen, abrupt-stufigen Gegensatz, der noch immer durch sein Dasein lief: aber es hob ihn und schob ihn schon drüber hinaus, und dieses Geglicker und Geklacker der Pferdehufe vorne, und der leise hüpfende Gummiradler entfremdeten ihn seiner Adams-Gasse, Geräusche aus einer anderen Welt. Milo’s Eau de Cologne duftete. Jetzt war die Zeit bei Debrössy da und der Geruch, wenn die Angestellten ihr Essen auf den Kochern wärmten. Die Gassen im Bezirk Wieden waren still, zum Teil auch mit Stöckelpflaster belegt, das nun in der durchbrechenden Sonne leicht dunstete, ein Sommer-Sehnsuchts-Geruch, von Chwostik schon in der Kindheit so empfunden. Der Wagen hielt, die Nummer stimmte. Es war ein altes, nur zweistöckiges Privathaus. Über den Fenstern sah man halbkreisförmige Medaillons mit Putten.

Auch der Doctor Keibl hatte eine arme Jugend gehabt, aber auf der Ebene eines Standes, welcher diese Armut, diese unselige, verhängte, wie die Ränder einer klaffenden Wunde ständig zusammenpressen mußte, denn sie gehörte nicht zu jenem Stande dazu, ja sie durfte eigentlich garnicht sein. Der Vater war ein höherer Rechnungsbeamter gewesen und der Sohn mußte Jura studieren, freilich, und saß dann mit dem noch weniger als schmalen „Adjutum“ (ein paar Gulden) beim Bezirksgerichte, den Schriftführer machend. Später kam das „Relutum“ hinzu; und von beiden zusammen konnte man nicht leben, es sei denn am Tische der Eltern. Mit 32 war er Richter. Um diese Zeit schlug der Blitz zweimal bei ihm ein: zum erstenmal durch den Verlust beider Eltern innerhalb eines Jahres, ein schwarzer Blitz, ein Finster-Blitz, den Horizont verdunkelnd. Der zweite Blitzschlag aber riß hell und fremd alles und jedes entzwei: Eugen wurde durch Erbschaft nach einem Onkel namens La Grange, dem seine Kinder gestorben waren, ein sehr reicher Mann. Die Art, wie er diese Kassierung aller bisherigen Verhältnisse bestand, machte seine Persönlichkeit aus, ja, diese entstand eigentlich erst beim Nehmen einer Barriere, welche anders sein Leben zum Anhalten gebracht und zum Stillstand gezwungen hätte.

Zunächst: er blieb im Amte. Zweitens: er entdeckte dieses Amt erst jetzt. Die Durchdringung und Kommentierung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches — dieses stellt eine der großartigsten Leistungen im alten Staate dar — war erst damals wirklich in Fluß gekommen, und das durch die rasch sich verändernde Zeit und die ersten Einbrüche eigentlich modernen Lebens bedingte Auftreten neuer und noch flüssiger Rechtsmaterien, und ihre immer wieder zu leistende novellierende Bewältigung, zwang den Juristen, wollte er wirklich einer sein und bleiben, zu anhaltender Arbeit. Sie wurde Doctor Keibls Braut und er blieb ledig. Schon Landesgerichtsrat, erwarb er obendrein noch die Dozentur an der Universität. In einer geruhigen, jetzt fast herrschaftlichen Weise lebend, glitt er mit festen Bahnelementen durch seine praktische wie theoretische Arbeit, und bei seiner Pensionierung hatte die zweite schon derart Gestalt angenommen, daß er die erste nicht vermißte, ja, die Lage als wesentlich erleichtert empfand. Ein Jahr nach seinem Übertritte in den Ruhestand erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen Professor mit Lehrauftrag.

Einem so beschaffenen Manne also trat Chwostik hier gegenüber, vom Diener geleitet, und verbeugte sich. Es waren beide Herren von kleiner und leichter Gestalt. Dem Doctor Keibl verlieh sein noch dunkler, in die Mundwinkel herabgezogener Schnurrbart einen irgendwie französischen Charakter, zusammen vielleicht mit den verbindlichen und etwas altfränkischen Bewegungen der Hände.

Chwostik, als sie jetzt saßen, war beherrscht von einer nicht abweisbaren widersinnigen Empfindung: daß man sich hier sehr weit weg befinde von jener Gasse, durch die er im Fiaker bis vor das Haus gefahren war, so als hätte dieses Haus eine Tiefe von mehreren Kilometern (zugleich meldete sich bei ihm ein zweifelloses Wissen in bezug auf die Kinderzeit: damals war alles und jedes in einer solchen Weise von ihm aufgefaßt worden, aber seitdem hatte sich die Umwelt verkleinert — auch den Teergeruch vom Holzstöckelpflaster hatte er als Kind ganz so erlebt, aber ... wie nur?!). Es waren wenige Meter von hier bis zur Gasse, welche man jetzt allerdings nicht sehen konnte, denn die drei Fenster dieses übergroßen Zimmers öffneten sich gegen den Garten: ihn hätte man in solcher Tiefe und Ausdehnung von der geschlossenen Straßenzeile aus nie hinter diesem Hause vermutet: man sah nur Grün, es war völlig den Blick befangend, und hohe dichte Baumwipfel schlossen alles andere aus, kein benachbartes Haus war sichtbar, auch kein rückwärtiges Ende oder eine Mauer dieses kleinen Parkes.

Indessen hatte Doctor Keibl schon, während der Diener ein Glas Malaga servierte, geschickt und wohlwollend das Gespräch eröffnet, was bei jedem Zusammentreffen besser derjenige tut, welcher den Anderen zu umfassen vermag, und ihn so in seinen größeren Umfang einbezieht: und dieser war hier nun einmal bei dem Oberlandesgerichtsrat, der alles hatte, was Chwostik hatte, nämlich die ganze einst erlebte Spanne und Spannung des Wegs von einer armen Jugend bis zu deren Überwindung, aber eben darüber hinaus die lange Praxis eines komplizierten und vielseitigen Berufs, und die Theorie dazu, ohne welche ja alles in trüber Direktheit und also doch zutiefst irgendwie menschenunwürdig bleibt. So also begann der hohe Jurist damit, daß er Chwostik zu dem großen Schritte vorwärts im Leben, den jener getan, beglückwünschte — das Eintreten in eine so bedeutende und zukunftsträchtige Industrie, zu vergleichen der Einschiffung auf einem großen und seetüchtigem Schiffe mit festem Kurs voraus — und zugleich Chwostiks Wunsch, dies neue Bild seiner Situation auch neu zu rahmen, nicht nur als durchaus berechtigt, sondern geradezu als eine Selbstverständlichkeit bezeichnete. „Ihnen werden ja auch gewisse repräsentative Verpflichtungen noch erwachsen“, sagte er (und wußte sogar mehr als Chwostik! Sein früher erwähnter Verwandter hatte ihm gelegentlich erzählt, daß der Engländer, Mr. Clayton jun. nämlich, in Chwostik eigentlich den künftigen kommerziellen Leiter des ganzen Wiener Unternehmens erblicke, was vernünftigerweise auf eine baldige Erteilung von Procura hinauslaufen müsse, nur habe der ganz Alte in England eingewandt, daß Chwostik dafür noch etwas zu jung sei, und so möge man zuwarten.) „Außerdem herrschen ja im Hause, wo Sie wohnen, Herr Chwostik, bei einzelnen Mietern möglicherweise noch immer gewisse Verhältnisse — nun Sie werden das ja bemerkt haben“ (hier legte Chwostik gleichsam die Ohren zurück, sofort auch war ein Gefühl der Bedrohung da, ganz wie einst bei dem Doctor Eptinger!). „Ich habe dieses Haus seinerzeit geerbt — bereits mit solchen lieblichen Nebenumständen, die ich erstaunlicherweise nicht sogleich zu ändern vermochte — vielleicht hab’ ich mich auch nicht genug bemüht, mag sein. Tatsächlich aber wurde mir ein Wink zuteil, ich möge, angesichts der in diesem Falle geübten behördlichen Toleranz, die Sache auf sich beruhen lassen, als hätt’ ich keine Kenntnis davon; und formal trifft ja hier eine Verantwortung nur den einzelnen Mieter. Nun gut, ich wollte mich damit nie abgeben; auch verwalte ich meine Häuser garnicht selbst. Es gibt dafür eine Art Treuhand-Gesellschaft. Dieser habe ich allerdings mehrmals in der ganzen Angelegenheit strikte geschrieben, die Sache abzustellen. Ob das wirklich geschehen ist, weiß ich nicht. Was hatten Sie denn, Herr Chwostik, zuletzt diesbezüglich für Eindrücke?“

„Mir ist eigentlich nichts mehr aufgefallen“, sagte Chwostik beiläufig. Das Unerhörte dieser Situation hier schuf ihm geradezu Distanz und schenkte ihm Ruhe. Im übrigen konnte er die Frauenzimmer jetzt wirklich hinauswerfen. Mochte die Wewerka, der Sperrgelder beraubt, zerspringen! Oder, noch besser: so bald wie möglich selbst ausziehen, dieses bezahlte Quartal garnicht zu Ende wohnen.

„Also“, schloß Doctor Keibl das Thema, „summa summarum, Herr Chwostik, ich halte es nicht nur für durchaus begreiflich, sondern für durchaus richtig, daß Sie ausziehen wollen. Haben Sie denn schon eine neue Wohnung in der Hand?“

„Noch ist nichts definitiv entschieden“, antwortete Chwostik auf die gestellte Frage. „Jedoch der Herr Doctor Eptinger, unser Advocat, hat mehrere Möglichkeiten für mich bereit und ich werde in der nächsten Zeit einiges besichtigen.“

Deutlich fühlte er während dieser seiner eigenen Rede, daß ihn eine Art Zwang leitete, den Namen des Doctor Eptinger auszusprechen, der schon in den letzten Minuten durchaus gegenwärtig gewesen war, ja, diese letzten Minuten zutiefst beherrscht hatte: alles war jetzt irgendwie Doctor Eptinger. Es hätte der direkten Frage des Oberlandesgerichtsrates garnicht bedurft — Chwostik hätte von sich aus einen Vorwand gefunden, den Rechtsanwalt zu nennen, ja, geradezu ihn zu citieren oder zu beschwören. Doch jetzt, nachdem er’s getan, öffnete es sich, genau gegenüber der wiedergekehrten Bedrohung durch den noch immer abruptstufigen Bruch in den Verhältnissen seines Daseins, wie ein von tiefem Blau erfülltes Fenster in die Freiheit, in ein von solchen Klemmen und Bedrängnissen freies Leben. Und Chwostik hielt, nun schon mit bewußtem Bestreben, diese Hoffnung fest. Er würde bald, in absehbarer Zeit, in einem anderen Hause wohnen, und so in den Herbst eingehen und in den nächsten Winter. Im Augenblicke fühlte er’s wie einen herbstlichen Duft vom Prater her, von den Kastanienbäumen der Hauptallee.

„Nun, Sie haben ja noch genug Zeit zur Wahl“, sagte Doctor Keibl. „Den Doctor Eptinger kenne ich übrigens von der Gerichtspraxis her. Ein ausgezeichneter Jurist. Wir hatten einen jungen Staatsanwalt, der sich vor ihm geradezu gefürchtet hat.“

Das Gespräch zerfiel jetzt und zerstreute sich. Bald hielt Chwostik es für angemessen zu gehen. Der Oberlandesgerichtsrat stand noch vor ihm und sagte, er werde sich einmal erlauben, Chwostik einzuladen, es gäbe bei ihm dann und wann einen Herrenabend, und er möchte darum bitten, ihm die neue Wohnungsadresse mitzuteilen. Das große Zimmer schien jetzt ganz erfüllt von dem Widerschein der grünen Baumwipfel draußen, welcher durch die drei Fenster fiel.

Wir stülpen zwei Leute um wie die Handschuhe und fragen uns, wie sie’s auf der abgekehrten Seite machen, die man sonst nicht zu sehen kriegt. Bei Chwostik ist das simpel. Er besucht in Abständen ein bekanntes Haus in der Bäckerstraße und führt sich dort im übrigen anständig und bescheiden auf, ohne zu trinken. Der Doctor Eugen Keibl aber hat ein Verhältnis mit der Frau des Zahnarztes Doctor Bachler. Es ist denkbar, daß diese sonst noch ganz anders ethisch aufgeflattert wäre, bei diversen Gelegenheiten, und mitten aus dem Gurkensalat-Geruch ihrer Wohnung heraus, ja, so recht und voll aus diesem! Der angegebene besondere Umstand jedoch wirkte dämpfend, ja vermenschlichend, humanisierend. Vielleicht ist hierin die eigentliche Wurzel ihres Verhaltens gegen Finy und Feverl zu sehen. Daß ihr Kind, welches jene aus dem Wasser gezogen hatten, von dem Doctor Eugen stammte, wußte sie mit voller Gewißheit. Es war also ein Kind der Liebe. Diejenigen, welche später nicht nachkamen, wären Kinder des Zahnarztes gewesen. Er kann als Feschak bezeichnet werden, als ein allzu fescher Kerl; und so verlor er frühzeitig seine Frau und merkte es nicht einmal.

Niemand merkte irgend etwas.
Sonst kommt doch alles heraus.
Aber es gibt Ausnahmen.

Es gibt eben alles. Wenn der Doctor Eugen, im Gespräche mit Chwostik, sozusagen ganz fremd getan hat, als der Bruder seiner Geliebten, der Advocat Eptinger, erwähnt wurde: so war das eben garkeine Tuerei; er hat ihn nur aus der beruflichen, nie aus der privaten Sphäre gekannt; auch seinen eigenen Contrepart, den Zahnarzt, kannte er nicht; ja, es kann, geht man’s Mann um Mann, Frau für Frau durch, niemand gefunden werden, der beide zugleich kannte, den Doctor Eugen und die Frau Doctor Bachler. So lebten sie denn in völlig verschiedenen Kreisen. Dieser Sachverhalt wurde von dem Oberlandesgerichtsrate klar erfaßt und sorgfältig konserviert.

Monica sah er.
Jedoch nur, als sie noch ganz klein war.
Die Mutter brachte ihm das Baby.

In sein Privathaus freilich; außerhalb von diesem sind Eugen und die Frau Doctor nie zusammengetroffen.

So hat es denn keinen, auch nicht den geringsten Tratsch, keinen, auch nicht den geringsten Schatten eines Verdachtes jemals gegeben. Es war ein luftdicht abgeschlossenes Geheimnis, es kommunizierte nicht mit der Welt, es blieb fest verschalt im alten Hause Doctor Eugen’s auf der Wieden. Mit der Zeit eignete dieser Liebes-Konserve, durch den Liquor perfektionierter Diskretheit, in welchem sie schwamm und schwebte, ohne irgendwo anzustoßen, ohne irgendwas zu berühren oder irgendwie Anlehnung zu nehmen, ein mumifizierter, ein aus der Welt geratener Charakter. Und die Arztensgattin ging in Eugens altes Haus ein wie in ein anderes Zeitalter im gleichen Raume (vielleicht hat darin für sie ein Reiz gelegen). Sie kam aus dem Gurkensalat, und hier umschloß sie nun der gekühlte Duft, der vom kostbaren Holze alter Möbel ausging. Die Sphären mischten sich nie. Sie trafen kompakt und intakt aufeinander. Jede Perfektion ist unmenschlich, ja tödlich, man spürt es schon, man erkennt’s an diesem Beispiel. Und, in der Tat: der Nerv der Sache starb denn auch ab und aus einer Geliebten wurde eine Tochter. Damals, als Monica in’s Wasser fiel; war es schon bald so weit, oder mindestens befand man sich auf dem Wege dahin. Jede Sache, jeder Mensch: damit sie eigentlich leben und am Leben bleiben, müssen sie doch irgendwie unter die Leute kommen, und freilich auch — sei’s denn! — in deren Mund.

Es bleibt nur die Frage übrig, wie die beiden aus so getrennten Welten überhaupt aneinander geraten waren. Nun, der Regie des Lebens fällt solches leicht, unendlich viel leichter als uns hier; sie hat im Handumdrehen ihre Kulissen aufgestellt (man kommt niemals nach), alles dreht sich, alles bewegt sich; und während uns noch ganz dünn zumut ist, haben sich weit auseinander liegende Einzelheiten schon dick zusammengepappt und alles starrt nur so von Tatsächlichkeit, ja, in der ordinairsten Weise, möchte man fast sagen. Es hatte im Elternhause der Frau Bachler (Rita Bachler, geborene Eptinger) einmal ein Stubenmädchen gegeben, das später — wenn auch nur ganz kurz — in einen Kriminalprozeß verwickelt wurde, durch einen Geliebten, versteht sich; über die Vorvergangenheit jener Person mußte Frau Rita als nicht sehr wichtige Zeugin vor einem Geschworenengericht aussagen, dem der Doctor Eugen praesidierte. Sie erkannte sofort, daß sie ihn kannte, nämlich vom Sehen. Es war in der ersten Zeit ihrer Ehe mit dem feschen Doctor Bachler gewesen (und sie wohnten schon damals im Eckhause in jener langen Straße, nahe beim Donaukanal). Rita war durch ihre Heirat in eine Lage gekommen, in welcher sie bald vor Erstaunen einfach steckenblieb. Denn nachdem der Doctor Bachler sich mit Hilfe ihrer beträchtlichen Mitgift seine zahnärztliche Ordination eingerichtet hatte, kümmerte er sich überhaupt nicht mehr um sie. Es war mit den beiden nichts, es war von vornherein schiefgegangen, es hatte sich nie was rechtes ereignet. Es gibt solche Fälle. Niemand kann das geringste dafür, nicht die Frau, nicht der Mann.

Sie hatte unseren Doctor Eugen also schon gekannt, und lange noch bevor sie in den Zeugenstand getreten und von ihm angesprochen, belehrt und befragt worden war. Das Nichtstun junger wohlhabender Frauen von damals — noch waren seine hygienischeren Formen und deren Instrumente, der Tennis-Schläger, der Ski, das Training im Hallenbade auch winters, nicht am Kontinente eingebürgert — führte sie in den nahegelegenen ersten Stadtbezirk, die „Innere Stadt“, wie man zu Wien sagt, fast jeden Vormittag; es stellte eine Art Ritus vor, daß man hier zwischen elf und eins an den glänzenden Schaufenstern der Geschäfte entlang flanierte, da und dort auch ein bekanntes Gesicht begrüßend, einen kleinen Einkauf besorgend. In allem war diese Zeit wesentlich durch das geprägt, was die im Lichte lebenden Menschen sich selbst als durchaus angemessen zubilligten, ganz so wie unsere Tage unter dem Zeichen des unermeßlichen Anspruches jener stehen, die damals so gut wie unsichtbar blieben; mindestens in der Inneren Stadt zwischen elf und eins wurden sie nie gesehen, es gab sie nicht. War man vormittags verhindert, die nächste Umgebung des Stephansturmes aufzusuchen, so nahm man nachmittags um fünf den Tee beim Demel am Kohlmarkt.

Und sah dort manchmal, wenn auch selten genug und nicht etwa regelmäßig an einem bestimmten Wochentage, den annoch anonymen Doctor Eugen sitzen, der, das muß festgestellt werden, hier eine Schlacht gegen den feschen Maurice Bachler gewann, bevor diese noch begonnen hatte, und trotz seines schon sehr vorgerückten Alters. Die Besuche von Demels Konditorei und Tee-Salon wurden geradezu spannend.

Nach der Verhandlung, bei der Rita als Zeugin vernommen worden war, blieb er ganz aus, und erschien erst in der folgenden Woche wieder; aber, bei aller weiblicher Raffinesse und Mistviecherei, sie verfiel — infolge ihrer Unkenntnis davon, was ein „schwebendes Verfahren“ bedeutet — nicht auf die richtige Erklärung seines Ausbleibens, welche für sie eine befriedigende gewesen wäre.

Beim nächsten Male grüßte er sie und redete sie auch ohne weiteres an, als sie beide beim Auswählen vor den langen Reihen der petits fours, den großen, kleinen, mittleren und winzigen Torten standen. Wie’s denn geht, sie kamen auch an eines der Marmortischchen miteinander zu sitzen, einfach weil kein anderer Platz frei war (das gehört zur Regie des Lebens).

Freilich hat Rita sich mit Doctor Eugen auch über das Verfahren unterhalten, welches sie erst in den Zeugenstand und jetzt, bei Demel, an den rechten Mann gebracht hatte. Der Bursche, um welchen es dabei ging, hieß Okrogelnik und war ein fürchterlicher Kerl. Er ist damals, in dieser einen Sache, aus Mangel an Beweisen auf Grund des Votums der Geschworenen von der Anklage wegen eines Gewaltverbrechens freigesprochen worden. Die Vorstrafen waren doch reichlich. Bei neuerlicher Durchleuchtung von Okrogelniks Vergangenheit kam zur Sprache, daß in einem Falle eine sehr bedeutende Diebsbeute nie mehr hatte zustande gebracht werden können: und nun plötzlich fuhr der Angeklagte mit der Behauptung heraus, es sei ihm zu jener Zeit alles entwendet und hinter seinem Rücken verkauft worden, von einer einstmaligen Geliebten, einem Stubenmädchen namens Sophie Liesbauer. Doch geriet ihm der eigentlich sinnlose Ausfall nicht gar gut. Dieser war ganz dumm, denn sowohl Rita Bachler wie ihre Mutter, welche zur Zeit noch lebte, sagten genau aus, wie’s wirklich gewesen.

Doch redeten sie nicht lange von dem Gerichtsfall (er nachbarte sich ihrem nunmehrigen Zu-Zweit-Sein nur mit einer Art roher oder ungarer Tatsächlichkeit, und entschwand bald). Bei Demel vielleicht sprachen sie noch davon; auf der Straße nicht mehr. Es war einer der ganz wenigen Gänge, die sie mit Doctor Eugen gemeinsam machte; und das nur am Anfange ihrer Beziehung. Später kam es nie vor. So hatte ihr Gehen auf der Straße nebeneinander schon jetzt etwas durchaus Vorläufiges an sich, es bedeutete einen ganz anderen kommenden Zustand, es war keine vorgeschobene Blende, sondern führte geradewegs dahin, sie gingen darauf zu: es würde hier nie ein Vorprellen oder Zurückweichen geben, sie gingen auf das Nächstliegende zu, er fiel vor ihre Füße und sie mußten jetzt einfach hinüber steigen.

Der Tag hatte schon mit einem strahlenden Morgen weit ausgeholt, und nun stand er blau aufgerissen über den Gassen und glitzerte in Einzelheiten, die man nicht für sich wahrnahm, nur als verworrenes Lichtkonzert, mehr dem Stimmen eines großen Orchesters vergleichbar als dem eigentlichen Spiel. Er wollte Gemälde besichtigen, die in der Nähe vor einer Auktion ausgestellt waren und hatte in bezug auf diese bestimmte Absichten; es sollte da ein kleines Bild aus dem italienischen Manierismus geben, Zeit des Broncino etwa; man hatte Doctor Eugen davon erzählt; nun wollte er es sehen, und später vielleicht ersteigern. Jetzt sprach er davon. Sie ging neben ihm, wie schräg nach vorne gegen das viele Licht gelehnt, als ginge sie gegen den Wind. Sie war nicht aufgeflattert, und auch garnicht bereit zum Urteilen oder zum Ordnen einer fremden Situation (wie einst im Falle der Zopferl, und viel später im Fall der Finy und der Feverl). Sie trug folgsam eine kommende Last gegen den Lichtwind, der da wehte, verstand nichts von Bildern und schwieg diesmal bescheiden, zu einem Maße erwachsend und erwachend, das ihr fremd war, und das sich heute doch gebieterisch an sie legte.

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