FORVM, No. 273/274
September
1976

Danys greisenhafte Klugheit

Daniel Cohn-Bendit: Der große Basar, trikont, München 1976, DM 12, öS 92,40

Des Rezensenten Pflicht: die Geschichte gründlich zu kennen. Mein Geständnis: ich habe das Buch immer eiliger gelesen, um es endlich umtauschen zu können. Der „große Basar“, auf dem wir flanieren und feilschen durften, ist nicht mal ein rechter Jahrmarkt der Eitelkeiten. Nur ein kleiner Ausverkauf, in dem ein paar Ladenhüter zu erstehen sind: „Wenn es dir schlecht geht, oder wenn du dich allein fühlst, dann hebt die Diskussion mit Genossen deine Isolierung auf.“ Nicht alle Diskussionen sind so hilfreich: „Diskussion über Sauberkeit ist ein Vorwand, nur nicht über Beziehungsprobleme reden zu müssen.“ Der Weisheit radikaler Schluß: „Wenn wir die Veränderung der Gesellschaft wollen, dann müssen wir jetzt schon anfangen, etwas zu verändern.“

Bendit preist sein Buch als ein „buntes Warenhaus des Linksradikalismus“ an. Er will sich sympathisch „verkaufen“: schließlich schreibt man die Autobiographie seiner Jugend nur einmal, und die Historiker der Studentenbewegung, die uns bald erblühen werden, müssen ihn wohl zitieren. Weil Offenheit sympathisch macht, offenbart uns Bendit seine Eitelkeiten, seine narzißtischen Überzeugungen („Kann es ohne mich keinen Linksradikalismus geben“), seinen Opportunismus und seine Anpassungsfähigkeit. Er erzählt von den kleinen Rebellionen seines Alltags (charmant stiebitzt er Salatblätter vom Teller fremder Gäste), von seinem „Mackertum“ (gestörtes Verhältnis zu den Frauen — aber nach dem Mai 1968 hat sich viel geändert ...). Wem hat er sich nun angepaßt? Opportunismus gegenüber sich selbst?

Das Buch ist die Abschrift eines Tonbandinterviews, und so ist auch seine Diktion. Bendit kommt ins Räsonieren, seine neugierig bohrenden Gesprächspartner haben ihn über alles ausgefragt, was halt die Linken so bewegt — Sport (Fußball: kommunikativ), Kino (italowestern: nicht so das richtige), Zweierbeziehungen (problematisch!), Wohngemeinschaften, DDR, Portugal, Chile, Faschismus, Bewegung 2. Juni, Marxismus, Anarchismus, Zukunft ... Kaum bewundert man seinen Mut zum Eingeständnis, daß Beschäftigung mit Kindern ihm „lästig“ wird, nennt er uns auch schon einen politischen Grund: das soziale Milieu, aus dem sie kamen, war eben „uninteressant“.

Das Kapitel über den Mai 1968, das nach kurzen Präliminarien über Judentum, Israel und Identität das Buch eröffnet, ist natürlich eine hochinteressante Lektüre und ergänzt das Erstlingswerk über „Linksradikalismus, Gewaltkur gegen die Alterskrankheiten des Kommunismus“, das Bendit 1968 zusammen mit seinem Bruder für Rowohlt geschrieben hat. Mit dem Frankfurter Exil liest sich Bendits Autobiographie immer katastrophaler, nach dem Mai 1968 geht dem Autor die Luft aus, was sicherlich auch an der „Bewegung“ liegt.

Was ist von den Erkenntnissen Bendits zu halten, die er uns als „Lehren der Geschichte“ vorlegt? Er hat verschiedene Medaillen entdeckt und nennt uns jetzt deren Kehrseiten. Der Marxismus wird abgelehnt („Marx konnte nur ...“ usw.), seine Kehrseite ist der Anarchismus, auch er ist obsolet. Als Kehrseite der Leninismus-Medaille erblickt Bendit den Linkskommunismus, womit sich das eine durch das andere widerlegen lassen muß. Neu und hoffnungsvoll erscheinen ihm dagegen die italienische Arbeiterbewegung und die amerikanische Woodstock-Generation.

Antikommunismus beweist neuerdings anscheinend dialektischen Chic: „Wer heute Antikapitalist ist, muß Antikommunist sein.“ Wie das? Dutschke hatte auf seiner „Deutschland-Tournee“ im Frühjahr präziser und besser verlangt: „Wer von Chile redet, muß auch von Prag reden können.“ Denkt man an die Geschichte des deutschen Antikommunismus -— von Noske bis zum Radikalenerlaß —, dann sollte man sich hüten, der Polemik wegen sich in Deutschland einen Antikommunisten zu nennen.

In der Psychologie kennt man zwar einen Typus von Autobiographie, der an der Schwelle des „Mannwerdens“ geschrieben wird und zur Bewältigung eines Identitätsbruches dient. Aber die greisenhafte Klugheit dieses Buches scheint mir eher ein Symptom für einen Lebensrückblick, der Prototyp einer Alterserinnerung zu sein. Wenn sich der Erfahrungskreis schon so weit geschlossen hat, daß selbst die muffige „Chuck“-Utopie am Schluß des Buches nichts mehr zu sagen vermag, wenn das ganze Buch eine Abgeklärtheit ausstrahlt, wie wir sie allenfalls von Lebensbeichten alter Genossen und „Renegaten“ her kennen, wird es schlicht peinlich! Bendits Abrechnung mit den Varianten der Linken verwechselt die Farce mit der Geschichte — und da beruhigt nicht einmal mehr seine lapidare Versicherung, daß er das Buch des Geldes wegen geschrieben hat.

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