FORVM, No. 182/II
Februar
1969

Das Ärgernis Sade

Bei diesen leidenschaftlichen Geometrien bewegt, wenn die Geometrie selbst nicht mehr überzeugt, immer noch die Leidenschaft oder vielmehr die Darstellung der Leidenschaft ... Hinter matt gewordenen Gründen der Vernunft erkennen wir die Gründe eines Herzens, Tugenden, Laster und die große Mühe, die die Menschen mit dem Leben haben. Sade gibt sich alle Mühe, uns zu fesseln, und es ist nur in Ordnung, wenn er uns empört ...

(Sartre, Was ist Literatur?, 1958, S. 22.)

Über diese Feststellung Jean-Paul Sartres aus den fünfziger Jahren ist die Sade-Diskussion in Frankreich längst hinausgegangen. Sie hat eine Intensität erreicht, die in den deutschsprachigen Ländern ihresgleichen erst noch suchen muß, was bei der heruntergekommenen, auf das Rezensionsritual zurückgebildeten Literaturkritik nicht weiter erstaunlich ist. Die französische Literaturkritik, die absolut modern sein wollte, mußte nicht nur die Resultate der Interpretation, sondern in eins damit auch den literarischen Gegenstandsbegriff und die Auffassung von der reproduzierenden Tätigkeit des Lesers von Grund auf verändern. Diese Kritik hat durch Essays von Pierre Klossowski (Sade mon prochain, Le philosophe scélérat, Roland Barthes (Sur Racine, Essays critiques, L’arbre de crime), Philippe Sollers (Logiques, Sade dans le texte), Hubert Damisch (L’écriture sans mesure), Michel Tort (L’effet Sade), Marcelin Pleynet (Sade lisible), aber auch durch die Diskussionen der von Pleynet und Sollers geleiteten Groupe d’études théoriques (im Mai 1968 gegründet) und die bei Seuil erscheinende Zeitschrift Tel Quel Gestalt angenommen. Nichts könnte ihrer Absicht schärfer widersprechen als die Sartresche Meinung:

Lesen scheint tatsächlich eine Synthese von Wahrnehmung und Schaffen zu sein; es setzt gleichzeitig das Wesentlichsein des Subjekts und das Wesentlichsein des Objekts voraus; das Objekt ist wesentlich, weil es unerbittlich transzendent ist, weil es seine eigene Struktur aufdrängt und weil man es erwarten und beobachten soll; das Subjekt aber ist auch wesentlich, weil es nicht nur notwendig ist, um das Objekt zu enthüllen ... sondern auch dafür, daß dieses Objekt eben da ist ...

(Sartre, Was ist Literatur?, 1958, S. 28.)

Denn dieses der idealistischen Erkenntnistheorie entliehene Subjekt-Objekt feiert verräterische Versöhnung im Kulturbetrieb als seiner Mediation. Es ist ausschließlich gültig für die naturalistische Literatur, über die die literarische Moderne längst ihr Diktum gefällt hat. Es enthüllt als Lektüre die verkitschte Mimesis, die nur das gegnerische Lager stärkt, und lastet in der zynischen Form der Synthese, von der Sartre spricht, der Literatur das Versagen des Lesers an. Daß Sade fesselt und zugleich empört, ist nicht seinem Werk oder dessen ausschließlich historischer Gültigkeit (als solches „Gegenstand“ der traditionellen Literaturtheorie) zuzuschreiben, sondern der sozialpsychischen Verfassung seiner „modernen“ Leser, die es nicht der Mühe wert finden, über den Zwiespalt ihrer Lektüre (die Sartresche Fesselung und Empörung) nachzudenken:

Wie kommt es, daß Sade gleichzeitig verboten und zugelassen ist, verboten als Fiktion (Schrift) und zugelassen als Realität; verboten als allgemeine Lektüre und zugelassen als psychologische oder physiologische Referenz? Vielleicht läßt sich darauf sofort eine Antwort geben: weil wir uns noch nicht entschlossen haben, Sade zu lesen, weil die Art, wie wir Sade lesen sollten, in dieser Gesellschaft und in dieser Kultur unbekannt ist; weil Sade auf radikale Weise die Art des Lesens, die wir im allgemeinen zu praktizieren und zu lehren uns befleißigen, entlarvt. Und dies in einem Maße, wie es sich bei ihm — noch verdeckt durch die Redeweise, aber doch schon ganz aktiv — um eine Beziehung zum Denken nicht als Ursache der Sprache, sondern zur Sprache ohne Ursache, zum Geschriebenen des Subjekts als Wirkung handelt. Denn was mit Sade in Erscheinung tritt, ist eine gewaltsame, integrale Veränderung der unaufhörlich durch das vergöttlichte Wort verdrängten Schreibweise. Was unter der wilden Maske der Perversion erscheint, ist genaugenommen das Negativ der Neurose, die durch die Zivilisation, welche auf der Vergöttlichung des Wortes beruht, eingeführt worden ist.

(Roland Barthes, L’arbre de crime)

Damit das „lieblose Spiel des seßhaften Menschen ein Ende nehme“ (Witold Wirpsza), muß der Sadesche Text den Habitus des „offenen Werkes“ annehmen (Umberto Eco, Opera aperta; Philippe Sollers, Dante et la traversée de l’écriture). Diese Offenheit spricht sich aus als die von der gesellschaftlichen Misere erzwungene Übersetzung des Textes in die Negation dieser Gesellschaft. Wenn es darum geht, den Sadeschen Text als Tendenz eindringlich zu machen, so ist es sinnlos, vom „verbrecherischen Philosophen“ (Klossowski) noch als einem libertinistischen, aufklärerischen, leidenschaftlichen oder gar sadistischen Autor zu sprechen. Damit würde Sades Werk in seinen geschichtlichen Kontext zurückgenommen und seine aktuelle Wirkung durch den Kniff der lustorisch-veristischen Methode annulliert. Gerade in dem Widerstand gegen die Geschichte, zu dem sich diese „neue“ Literaturkritik entschlossen hat (Roland Barthes, Kritik und Wahrheit), nimmt das Werk Sades eine zentrale Stellung ein.

In der Annäherung des Sadeschen Textes an die Logik des spekulativen Begriffs besteht zwar eine Parallele zur ideologischen Interpretationspraxis Sartres, aber das Werk Sades selbst verbietet jeden Optimismus. Als dialektisches Organon der bestimmten Negation, der integralen Ungeheuerlichkeit und als Wortkunstwerk erreicht es nicht die (positive) Mimesis (erst sie würde ein „naturalistisches“ Lesen ermöglichen), vielmehr ist es reflexives Moment der Semiosis: Die Perversion ist das Denken selbst. Noch als konkrete Tendenz bleibt das Sadesche Verbrechen ein geschriebenes Verbrechen; es stellt sich dar als vorgängiges Wissen, als Erfahrung der Möglichkeit. Dennoch resultiert aus der Tatsache, daß es die Sprache der Perversion nicht gibt („Darüber spricht man nicht“), weil sie mitsamt ihrem physiologisch-psychologischen Pendant neurotisch verdrängt worden ist, die Unmöglichkeit der Mitteilung der Perversion; aber sie ist zur Möglichkeit des Diskurses geworden:

Jenseits der Personen der Handlung, jenseits von Sade selbst, ist das Subjekt der Sadeschen Erotik niemand anderes als das Subjekt des Sadeschen Satzes, und nur dies kann es sein: die beiden Instanzen, die der Szene und die des Diskurses, haben denselben Brennpunkt, dasselbe Ego, denn die Szene ist nur Diskurs. Man versteht jetzt vielleicht besser, worauf Sades gesamte erotische Kombination beruht und wohin sie tendiert: ihr Ursprung und ihre Sanktionierung sind rhetorischer Natur.

(Barthes, L’arbre de crime)

Das Sadesche Werk bleibt notwendig, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ursachen seiner Entstehung, seiner Verdrängung und seiner unbewußten Zensierung (als ein Beispiel obszöner Literatur) sind, nicht verändert sind. Deren Veränderung die „neue“ Kritik, die im Falle Sade eine Spielart der ideologischen Kritik abzüglich des Optimismus ist, methodisch durch die transzendierte Transzendenz bereits vorgezeichnet hat.

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