FORVM, No. 339-341
Mai
1982

Das echte Geschlecht

Genus statt Sexus

Ivan Illich‚ österreichisch-amerikanischer Kulturphilosoph, Priester, Vorreiter alternativen Lebens und Wirtschaftens, hat ein neues Buch in Arbeit, worin er für das echte Geschlecht und gegen ökonomisch ausgebeuteten »Sex« eintritt. — Günther Nenning hat übersetzt, in erweiterter Fassung erscheint der Text im Rowohlt Verlag.

Die Frau, das Schoßhündchen

Ich kenne keine industrielle Gesellschaft, in der die Frauen den Männern ökonomisch gleich sind. Von allem was in der Wirtschaft meßbar ist, kriegen die Frauen weniger. Mit diesem ökonomischen Sexismus befaßt sich neuerdings eine Flut von Literatur. Sie dokumentiert die sexistische Ausbeutung, verurteilt sie als ungerecht, beschreibt sie meist als neue Form eines uralten Übels, schlägt zur Erklärung Theorien vor, worin Strategien zur Abhilfe bereits eingebaut sind. Durch institutionalisierte Förderung der Vereinten Nationen, des Weltkirchenrates, der Regierungen, der Universitäten blüht und gedeiht als jüngste Wachstumsindustrie jene der berufsmäßigen Reformer.

Erst waren die Proletarier, dann die Unterentwickelten, jetzt sind die Frauen die bevorzugten Schoßhündchen der »Engagierten«. Kaum sagt man etwas über Diskriminierung zwischen Mann und Frau, und schon glauben die Leute, man wolle sein Scherflein beitragen zur politischen Ökonomie: entweder als Befürworter einer »nichtsexistischen« oder als Verteidiger der bestehenden, sexistischen. Ich will weder das eine noch das andre, aber meine folgende Argumentation beruht auf den Fakten der Diskriminierung.

Für mich ist eine »nicht-sexistische« Ökonomie absurd, eine sexistische abscheulich.

Ich will klarstellen, daß die Nationalökonomie schon in ihrem Ausgangspunkt sexistisch ist, nämlich als Wissenschaft, deren Grundannahme die Knappheit der Güter ist. Solche Ökonomie führt zur Zerstörung des echten Geschlechtsunterschiedes (Genus) und zur Ausbeutung des scheinhaften (Sexus).

Ich will die ökonomische Apartheid und Unterordnung der Frauen untersuchen, ohne ins Fangeisen der Sozialbiologie oder des Strukturalismus zu geraten, die da behaupten, Diskriminierung der Frauen sei »natürlich« oder »kulturell«, daher unvermeidlich. Als Historiker will ich zurück zu den Ursprüngen ökonomischer Knechtschaft der Frau; als Anthropologe will ich herausfinden, wie diese historisch junge Abhängigheit der Frau vom Mann die Beziehungen zwischen ihnen verändert hat; und als Philosoph dient mir dieses ständig sich wiederholende Beziehungsmuster zur Enthüllung gängiger Weisheit, von denen auch unsre Universitäten und die dort betriebene Sozialwissenschaft zehren.

Es war nicht einfach, auszudrücken, was ich sagen wollte. Die Normalsprache des industriellen Zeitalters — dies wurde mir erst im Verlauf dieser Arbeit klar — ist geschlechtslos und sexistisch. So fand ich mich in einem doppelten linguistischen Ghetto: weder konnte ich Wörter benützen, in denen die traditionelle Geschlechtlichkeit wiederklang, noch paßten mir solche mit aktuell sexistischem Beigeschmack.

Was das für Probleme waren, merkte ich erstmals, als ich frühe Fassungen dieses Textes 1980/81 in meinen Vorlesungen verwenden wollte. Nie zuvor hatten so viele Kollegen und Freunde mir ein Thema auszureden versucht. Warum befaßte ich mich nicht, meinten die meisten, mit etwas weniger Trivialem, Zweideutigem, Anstößigem. In der gegenwärtigen Krise des Feminismus, insistierten andere, sollte von Frauenthemen ein Mann seine Finger lassen.

Ich hörte genau zu; die meisten meiner Gesprächspartner schienen sich zu ärgern, weil meine Argumentation ihre Träume störte: feministische Träume von einer geschlechtslosen Ökonomie ohne zwanghafte Rollenzuteilung; linke Träume von einer Politökonomie aus gleichen menschlichen Subjekten; futuristische Träume von einer modernen Gesellschaft aus Plastikmenschen, deren Berufswahl Respekt verdient, gleichgültig ob Zahnarzt, protestantisch, männlich oder Genmanipulator. Meine Schlußfolgerungen, all ihre Ökonomie bedeute Diskriminierung der Frau, traf jeden mit gleicher Wucht. Denn ihre Wunschträume waren insgesamt aus demselben Stoff: Unisex-Ökonomie.

Ausbuchtung der Blue Jeans

Industrielle Gesellschaft kann nicht bestehen ohne Aufzwingung bestimmter Unisex-Postulate:

  • daß Mann und Frau für die gleiche Arbeit geschaffen sind;
  • daß sie dieselbe Wirklichkeit wahrnehmen;
  • daß sie, mit gewissen kosmetischen Retuschen, dieselben Bedürfnisse haben.

Das Postulat der Knappheit, Fundament aller Nationalökonomie, ist logisch verknüpft mit obigen Unisex-Postulaten: Sie breiten sich aus, sobald akzeptiert ist, daß es Güterknappheit gibt. Jede moderne Institution, Schule wie Familie, Gewerkschaft wie Justiz, enthält in sich die Annahme der Knappheit und trägt so die dazugehörigen Unisex-Postulate quer durch die Gesellschaft.

Zum Beispiel: Männer und Frauen sind immer schon aufgewachsen; jetzt aber brauchen sie »Erziehung«, um aufzuwachsen. In traditionellen Gesellschaften reiften sie heran, ohne daß die Bedingungen hiefür als schwer erhältlich galten. Jetzt wird ihnen in den Erziehungsinstitutionen gelehrt, Kenntnisse und Fähigkeiten seien knappe Güter. So wird Erziehung ein andrer Name für: Wie lerne ich leben unter der Annahme, daß die hiezu nötigen Güter schwer zu kriegen sind.

Erziehung, als Beispiel für ein typisch modernes Bedürfnis, lehrt aber noch mehr, nämlich die Annahme der Knappheit eines Unisex-Gutes: Im Erziehungsprozeß wird beigebracht, daß Er oder Sie primär menschliche Wesen sind, die folglich eine geschlechtslose Erziehung nötig haben.

Von daher beruht dann Ökonomie überhaupt auf der Annahme, daß es Güter gibt, die nicht nur knapp, sondern geschlechtslos sind. So werden wir zu Wesen, die biologisch verschiedenen Geschlechtern angehören, aber ökonomische Neutra sind.

Erbarmungslos verwandeln die ökonomischen Institutionen Mann und Frau in etwas Neues: Als ökonomische Neutra unterscheiden sie sich durch nichts als durch Sexualität, die aus ihrer natürlichen Verankerung gerissen wurde. Eine charakteristische, aber unwichtige Ausbuchtung der Blue Jeans ist jetzt alles, was eine Art Arbeitnehmer von der anderen unterscheidet und privilegiert. Die ökonomische Benachteiligung der Frau kann nicht bestehen ohne diese Abschaffung des Geschlechts, ohne seine Abkoppelung vom übrigen Leben: das ist es, was ich zu zeigen versuche.

Wenn es wahr ist, daß ökonomisches Wachstum in seinem Wesenskern unheilbar verknüpft ist mit Zerstörung des natürlichen Geschlechtes und daher mit Sexismus, dann kann dieser nur abgebaut werden um den Preis ökonomischer Schrumpfung.

Abbau des Sexismus hat ferner zur nötigen, wenngleich unzureichenden Bedingung den Abbau der Geldwirtschaft und die Ausweitung von nichtmarktwirtschaftlichen, nicht-ökonomischen Formen der Lebenserhaltung.

Bisher gab es zwei Hauptmotive für die Forderung nach negativem Wirtschaftswachstum: Umweltzerstörung und die paradoxe Konterproduktivität der Wachstumsökonomie. Nun kommt ein drittes hinzu: Negativwachstum ist nötig zum Abbau des Sexismus.

Das ist hart für jene wohlmeinenden Kritiker, die mich von dieser Argumentation wegholen wollten; sie fürchteten, ich würde mich lächerlich machen oder ihre Träume zerstören von einem Wachstum in Gleichheit.

Ich glaube, daß es Zeit ist, die sozialen Strategien vom Kopf auf die Füße zu stellen: Friede zwischen Männern und Frauen, in welcher Form immer, beruht jedenfalls auf Schrumpfökonomie und nicht aus Wachstumsökonomie. Bisher haben weder guter Wille noch wilder Kampf, weder Gesetzgebung noch Technologie die sexistische Ausbeutung verringert, die für unsre Industriegesellschaft typisch ist.

Die ökonomische Entwürdigung der Frau ist nicht einfach eine Fortsetzung des Machismo mit den Mitteln der Marktwirtschaft: diese Theorie ist, wie ich zeigen werde, unhaltbar. Wo immer bisher gleiche Rechte für Mann und Frau gesetzlich verankert und erzwungen wurden; wo immer bisher die Partnerschaft von Mann und Frau modisch hochstilisiert wurde — diente dies nur als Erfolgserlebnis für die Eliten und ließ die Mehrheit der Frauen unberührt, oder sie waren schlechter dran als vorher.

Bunt gemischte Allianz

Die Idee der Unisex-Gesellschaft liegt freilich schon auf dem Totenbett, gemeinsam mit der Idee, Wachstum führe zur Angleichung der Bruttonationalprodukte von Norden und Süden unsrer Welt. Jetzt wird klar, daß es umgekehrt sein muß: statt des Traums vom nichtsexistischen Wachstum brauchen wir eine vernünftige Schrumpfökonomie — nur so kommen wir zu einer nicht oder doch weniger sexistischen Gesellschaft.

Industriewirtschaft ohne sexistische Hierarchie ist so unvorstellbar wie Stammesgesellschaft ohne Austausch der Frauen zwischen den Sippen. Das sind Träume beim Pfeifenrauchen, egal welchen Geschlechts die Träumenden sind. Was hingegen den Abbau der Geldwirtschaft betrifft, sowohl bei der Güterproduktion wie im Verhältnis zwischen Mann und Frau — so braucht dies nicht bloße Phantasie zu sein; erforderlich ist bloß die Umkehr unsrer alltäglichen Erwartungen und Gewohnheiten,die als Bestandteil der »menschlichen Natur« gelten.

Drum wird dieser Wandel vielfach für unmöglich gehalten, auch von Leuten, die wissen, daß Schrumpfwirtschaft die notwendige Alternative zur Apokalypse ist. Aber eine wachsende Zahl von erfahrenen Menschen, auch immer mehr Fachleute, überzeugte wie opportunistische — stimmen darin überein, daß Schrumpfung weise ist.

Lebenserhaltung durch Abkoppelung von der Geldwirtschaft ist heute eine Bedingung für Überleben: Ohne Negativwachstum kein ökologisches Gleichgewicht, keine Gerechtigkeit zwischen den Regionen der Welt, es stirbt alle Schönheit unter den Menschen.

Schrumpfwirtschaft ist in reichen Ländern viel nötiger als in armen: der beste Maßstab für das vernünftigerweise erreichbare Maximum wäre gleicher Zugang zu den rar gewordenen Rohstoffen für alle, aber auf dem Niveau, das derzeit für die ärmsten Länder typisch ist. Um einen solchen Vorschlag in konkrete Aktion umzusetzen, bedarf es einer bunt gemischten Allianz zahlreicher Gruppierungen und Interessen. Und gerade weil dies so ist, betone ich hier die Verknüpfung von Negativwachstum und Abbau des Sexismus.

In meiner Theorie stelle ich zwei Existenzweisen einander entgegen: echtes Geschlecht (Genus) und ökonomisches Geschlecht (Sexus). Damit ist schon angezeigt, daß beide Existenzweisen dualistisch sind, aber es handelt sich um sehr verschiedenartige Dualität:

  • Mit Genus meine ich eine Dualität, in der sich Mann und Frau unterscheiden unter Umständen und Bedingungen, die sie nicht dazu zwingen, »dasselbe« zu sagen, zu tun, zu wünschen, zu fühlen.
  • Mit Sexus meine ich eine Dualität, die abzielt auf die illusionäre Gleichheit zwischen Mann und Frau.

In einer Realität, die nach solcher Gleichheit strebt, ist die Dualität von Mann und Frau bloße Phantasie: Mein Essay ist ein Nachruf auf die Industriegesellschaft und ihre Chimären. Beim Schreiben wurde mir auf neue Weise klar — mehr noch als in »Selbstbegrenzung« (»Tools for Conviviality«, 1973) —, wieviel dieses Zeitalter unwiederbringlich bereits zerstört hat.

Drum weiß und sag ich nichts über die Zukunft.

Erfaßte Frauen

Die ökonomische Benachteiligung der Frau bedarf keines Beweises. Sie ist da. Anderthalb Jahrzehnte feministischer Analyse haben jeden Zweifel beseitigt. Zwei große Aufgaben bleiben jedoch übrig:

Erstens: es gibt in aller modernen Nationalökonomie drei voneinander getrennte Bereiche; indem ich diese klar unterscheide, zeige ich bisher unentdeckte Formen von Diskriminierung der Frau auf.

Zweitens: zwischen solcher Diskriminierung der Frau in allen Bereichen moderner Ökonomie und ihrer bloß relativen Degradierung in Gesellschaft ohne Geldökonomie gibt es einen Unterschied.

Hier geht es mir zunächst um die verschiedenen Formen von weiblicher Diskriminierung in der modernen Ökonomie — nicht um Abhilfe, sondern um Verstehen. Die verschiedenen Formen von Diskriminierung entsprechen jener Dreiteilung der Wirtschaft in fortgeschrittenen Industriegesellschaften: In jeder Ökonomie, die auf formellem Austausch zwischen Produzenten und Konsumenten von Gütern und/oder Dienstleistungen beruht, gibt es einen von der Statistik erfaßten und einen von ihr nicht erfaßten, drittens einen komplementären Sektor, wo »Schattenarbeit« geleistet wird.

In allen diesen Bereichen werden Frauen diskriminiert.

Im Lauf der Jahre wurde die Diskriminierung der Frau auf dem Sektor der bezahlten und besteuerten Arbeit qualitativ nicht schlimmer, aber quantitativ umfangreicher. Derzeit leisten 51 Prozent der amerikanischen Frauen Lohnarbeit, 1880 waren nur 5 Prozent außerhalb des Haushaltes beschäftigt. Heute sind in den USA 42 Prozent der Lohn- und Gehaltsempfänger Frauen, 1880 waren es 15 Prozent. Heute haben 50 Prozent der US-Ehefrauen ihr eigenes Einkommen aus Lohnarbeit, damals waren es 5 Prozent. Heute stehen den Frauen, von Gesetzes wegen, alle Jobs und alle Karrieren offen; 1880 waren ihnen viele verschlossen. Heute verbringen die Frauen durchschnittlich 28 Jahre ihres Lebens mit Lohnarbeit; damals waren es 5 Jahre.

Das alles klingt wie Fortschritt in Richtung Gleichheit der Frauen mit den Männern — außer man mißt mit dem einzig realen Maßstab: Der durchschnittliche Jahresverdienst der mit voller Arbeitszeit tätigen Frauen ist 59 Prozent des Durchschnittsverdienstes der vollbeschäftigten Männer — eine magische Ziffer, die seit hundert Jahren mit geringen Schwankungen gleich geblieben ist.

Weder verbesserte Ausbildung noch gerechtere Gesetze noch progressive Rhetorik über Politik, Technologie, Sexualität haben irgend etwas geändert am wirklichen Unterschied von Mann und Frau, nämlich am Einkommensunterschied.

Alle scheinbaren Schritte in Richtung Gleichheit brachten in Wahrheit bloß eines: die stillschweigende Integration von immer mehr Menschen in die Zahl jener, die auf ihrem Arbeitsplatz sexuell diskriminiert werden.

Derzeit verdient eine absolvierte, hochqualifizierte Akademikerin immer noch etwa ebensoviel — im lebenslangen Durchschnitt — wie ein Mann, der aus dem Studium ausgestiegen ist.

Schneller sterben ab 45

Konfrontiert mit diesen Ziffern konnte ich sie zunächst einmal nicht glauben. Es war die gleiche Reaktion wie vor Jahren, als ich an Hand von Statistiken die Wirksamkeit der etablierten Medizin untersuchte; damals konnte ich nicht glauben, daß seit 1880 die Lebenserwartung eines erwachsenen männlichen US-Bürgers im wesentlichen unverändert geblieben ist. 25mal höhere Ausgaben (in inflationsbereinigten Dollarsummen) für medizinische Betreuung, davon ein überdimensional großer Teil für Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten in der zweiten Hälfte des Lebens — haben zu keiner wesentlichen Erhöhung des Durchschnittsalters geführt. Es dauerte lange, bevor ich begriff, was das bedeutet. Enorm gestiegen ist die Überlebensrate der Jüngeren: mehr Menschen erreichen 45 Jahre; von Verkehrsunfällen zermanschte Körper werden aus Aluminium und Plastik neu gemacht; viele Infektionskrankheiten wurden beinahe zum Verschwinden gebracht. Aber die verbleibende Lebenszeit hinter der magischen Schwelle von 45 wurde nicht wesentlich erhöht.

Was es da an Zu- oder Abnahme gibt, hat mit medizinischem Fortschritt wenig zu tun. Daß Geld, Chirurgie, Chemie und guter Wille ohnmächtig sind im Kampf gegen den Tod — dieses Wissen wird in unsrer Gesellschaft beständig unterdrückt, scheinheilig negiert durch Rituale und Mythologeme. Auch die — hievon gänzlich verschiedene — ökonomische Diskriminierung der Frauen als Gruppe ist eine unverdauliche Realität für fast alle Zeitgenossen, außer für Zyniker. Verschwunden — wie Kinderlähmung und Diphtherie — ist die Ausschließung der Mädchen von Mittel- und Hochschulen. Gegen Verkehrsunfälle haben wir Gurten, gegen Vergewaltigung in den U-Bahnen TV-Monitore. Wir haben Spezialprogramme, um Unbemittelte medizinisch zu betreuen, und Spezialstipendien, um Frauen in Spitzenpositionen zu kriegen. Aber das sind die harten Tatsachen: keinerlei Maßnahmen haben etwas geändert an der Lebenserwartung der Erwachsenen oder an der Lohndifferenz zwischen Mann und Frau.

Die unveränderte Lebenserwartung der Erwachsenen ist nur ein Aspekt des Scheiterns von »Gesundheitspolitik«, die unveränderte Lohndifferenz zwischen Mann und Frau nur ein Aspekt der fortdauernden sexuellen Diskriminierung. Aber beides liefert entscheidende Argumente, und nicht nur wegen klarer Meßbarkeit. Man könnte ja behaupten, der ungeheure Aufwand der modernen Medizin habe tatsächlich die Lebenserwartung der Erwachsenen positiv beeinflußt: andernfalls sänke sie nämlich noch unter jene in der Dritten Welt. Ähnlich könnte man behaupten, die Lohndifferenz zwischen Mann und Frau würde sogar noch größer ohne den konzertierten Kampf von Gesetzgebern, Gewerkschaftern, Feministen und Idealisten.

Eine derart pessimistische Einstellung zu unsrer Industriegesellschaft — so könnte man argumentieren — sei durchaus angemessen. Es gibt gute Gründe dafür, daß die jüngst in der Sowjetunion festgestellte rapide Abnahme der Lebenserwartung aller Altersgruppen in den letzten zwanzig Jahren nur Vorbote ist für gleichartige Ergebnisse in den meisten Industrieländern.

Auch die Demontage vieler sogenannter Fortschritte in Richtung Chancengleichheit von Mann und Frau ist wohl keine bloße Episode, geschuldet der gegenwärtigen Beschäftigungskrise, sondern eine Entwicklung, die nicht umkehrbar sein dürfte.

Ob man diesbezüglich Optimist oder Pessimist spielt, eines ist empirisch bestens untermauert: die Lohndifferenz zwischen Mann und Frau scheint so unverrückbar wie die durchschnittliche Lebensspanne der Erwachsenen. Oder — argumentieren andere — so unverrückbar wie die Rate der Krebskranken.

In den sechziger Jahren befaßten sich Untersuchungen über die Frauenfrage vor allem mit zwei Themen: körperliche Gewalt gegen Frauen, begangen durch Vergewaltiger, Ehemänner, Ärzte; und Arbeitsbedingungen im Lohnverhältnis. Die Zusammenhänge, die hier aufgedeckt wurden, sind überall die gleichen und dementsprechend deprimierend: In jedem Land vermehren sich Gewalt und Diskriminierung proportional zum ökonomischen Wachstum.

Je mehr Geld verdient wird, desto mehr Frauen verdienen weniger als die Männer — und desto mehr Frauen werden vergewaltigt. Selten wurde ein sozialer Zusammenhang so heftig geleugnet wie dieser — und selten, ein Jahrzehnt später, so glatt hingenommen.

Schlaue Geschäfte, ungezählt

Es gibt viele Arten von wirtschaftlicher Tätigkeit, von denen Regierungen und die zugehörigen Nationalökonomen nichts berichten können oder jedenfalls nicht berichten. Über einige solcher Tätigkeiten kriegen sie keine Statistik zusammen, andere, selbst wenn sie davon Notiz nähmen, könnten sie nicht benennen oder messen.

Für jene Fülle von Betätigungen, die in der üblichen Wirtschaftsstatistik nicht vorkommen, gibt es eine Fülle von Namen. Die einen sprechen vom »informellen Sektor«, andere vom »quartären« oder »D-Sektor« — nach dem primären der Extraktion (Landwirtschaft, Bergbau), dem sekundären der Produktion (Industrie, Handwerk), dem tertiären der Dienstleistungen (Handel usw.).

Oder man spricht von »Haushalts-Ökonomie«, »modernem Tauschhandel«, »direktem Transfer von Gütern«, »nicht-monetärer Ökonomie«, »Eigenleistung«, »Selbsthilfe«, »Arbeit aus eigener Initiative«.

Nur Marxisten haben keine Probleme mit dem Etikett für diesen Sektor; sie nennen ihn »gesellschaftliche Reproduktion«. Dann teilen sie sich in Sekten, von denen jede am besten weiß, was damit gemeint sei. Um die Verwirrung komplett zu machen, wurde es in den siebziger Jahren feministische Mode, fast alle jene ökonomischen Aktivitäten den Frauen zuzurechnen — was einfach unrichtig ist.

Der Umfang des »inoffiziellen Sektors« der Ökonomie ist nicht einfach abzuschätzen. Er besteht aus einem Durcheinander von Erwerbstätigkeiten, für die kein legal anerkanntes Entgelt bezahlt wird und woraus keine Sozialversicherung resultiert. Dazu kommen Aktivitäten, die nicht mit Geld, sondern mit Gütern bezahlt werden. Vieles davon ist inoffizieller Handel, Austausch von Begünstigungen oder auch bare Zahlungen — aber dies alles auf eine Weise, die der Steuer wie der Statistik entgeht.

In Jugoslawien muß man dem verstaatlichten Doktor ein Huhn bringen, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. In Polen braucht man Eier, um vom zuständigen Beamten eine Heiratserlaubnis zu kriegen. In Rußland beziehen die privaten Haushalte Eier, Milch, Käse, frisches Gemüse zu mehr als ¾ vom schwarzen Markt. In den USA produzieren und vermarkten die kalifornischen Marihuana-Farmer eine Ernte im Barwert von mehreren Milliarden Dollar. Zur »inoffiziellen« US-Ökonomie gehören ebenso die Importeure von afghanischem Heroin: die Polizisten, die von ihnen bestochen werden; die Mexikaner, die zur Traubenernte illegal über die Grenze kommen; der Rechtsanwalt, dem du den Rasen mähst und der als Gegenleistung dein Haus ohne Baubewilligung durch die staatlichen Kontrollen schwindelt; der Automechaniker, der einen neuen Vergaser ins Auto des Buchhalters einbaut, der ihm dafür die Steuererklärung frisiert. Alle diese schlauen Geschäfte sind Tausch zwischen Vertragspartnern, Teil der »nicht erfaßten« Ökonomie, ob mit oder ohne Geld, legal oder kriminell, und über keines davon gibt es Aufzeichnungen für die Statistik. Bei manchen wird der »Käufer« mehr geschädigt als durch »offizielle« Dienstleistungen, bei manchen weit weniger. Für »Käufer« wie »Verkäufer« sind manche dieser »inoffiziellen« Aktivitäten vorteilhafter als die normalen bürokratisierten Abläufe, bei anderen handelt es sich um glatte Ausbeutung. Aber immer sind es Tauschvorgänge, die Produkte oder Geld involvieren, und es wäre berechtigt, hierfür einen »Schattenpreis« zugrunde zu legen.

Schwarz- und Grauarbeit überwiegen

Mancherlei Anstrengungen wurden unternommen, den Umfang dieser »Untergrundökonomie« zu messen, wenigstens im Vergleich zum Bruttonationalprodukt. Auf 7,5 Prozent des BNP schätzt die britische Regierung ihren Verlust an Lohn- und sonstigen Steuern im Bereich des »inoffiziellen« Marktes, von dem sie damit vermutlich nur einen Bruchteil in Rechnung stellt. Das Internal Revenue Service in Washington beziffert für 1976 das steuerlich nicht erfaßte Einkommen von Personen und Unternehmungen mit 135 Milliarden Dollar. Dabei handelt es sich um totale Steuerflucht, nicht etwa bloß um zweifelhaft erlangte Steuervorteile am Rande der Legalität durch Spesenverrechnung, fabrizierte Verlustziffern und ähnliches; daraus resultiert wahrscheinlich ein Steuerentgang in nochmals gleicher Größenordnung.

Jüngste Schätzungen lassen vermuten, daß in den USA diese »vergessene« Ökonomie viel schneller wächst als die offizielle, sogar schneller als die Inflationsrate. Addiert man den Geld- und geldlosen Sektor der »Untergrundökonomie«, kommt man sicherlich zu einem Wert, der dem gesamten offiziellen nicht-militärischen Markt entspricht und dies ist der Markt, den die Nationalökonomen mit all ihren Indexziffern, Prognosen und Rezepten ausschließlich in Betracht ziehen.

In der »offiziellen« steuerlich und statistisch erfaßten Ökonomie geht es um künstliche Schaffung von Pseudo-Arbeit, um Produktion von nutzlosen Gütern, unerwünschten Dienstleistungen, unwirksamen sozialen und ökonomischen Kontrollen. Demgegenüber arbeitet die »nicht erfaßte« Ökonomie im großen und ganzen viel effizienter.

Ein blühender Schwarzmarkt ist die Ursache, warum Länder wie Italien Jahr für Jahr überleben, während doch für jedes dieser Jahre die Nationalökonomen den sicheren Bankrott voraussagten. Aus dem gleichen Grund überstehen sozialistische Länder ein Maß von Mißwirtschaft, das theoretisch längst zu ihrem Untergang geführt hätte.

Eines ist dabei sicher: auch unter Ausschluß aller bloß lebenserhaltenden Arbeit wie aller Hausarbeit (weil beide nicht recht ins Marktmodell passen) wächst die »nicht erfaßte« Ökonomie relativ rascher als das »erfaßte« Bruttonationalprodukt — und enthält ein Maß an Diskriminierung der Frau, das bisher nur ganz beiläufig Beachtung gefunden hat.

Auf diesem Sektor der Marktökonomie, wo neue Jobs entstehen, gerade wenn die »offizielle« Arbeitslosigkeit steigt — sind Frauen womöglich noch schlechter dran als auf dem »offiziellen« Sektor, den das Datennetz der Nationalökonomen erfaßt und mißt. Hier gelten keine Gesetze gegen Diskriminierung und für Chancengleichheit. Auf dem »inoffiziellen« Markt bleibt den Frauen nur Prostitution, Kleinkriminalität, Bettelei, wo sich die Männer mit dem Einsammeln von Erpressungsgeldern, Drogenhandel, nächtlichen Überfällen befassen. Frauen, die in der Nacht was unternehmen wollen, tippen Manuskripte ab.

Die Chicagoer Schule der »New Home Economics« wie jüngste Untersuchungen über »nicht erfaßte« Ökonomie haben zumindest eines gemeinsam; sie anerkennen, daß unbesteuerte Schwarzarbeit und unbezahlte Hausarbeit wesentliche Beiträge zum Bruttonationalprodukt leisten. Anderseits stiften sie Verwirrung durch neu erfundene Kategorien und durch Gleichsetzung des weiten Spektrums der »nicht erfaßten« Ökonomie mit Haus- und Bettarbeit. Der Mangel an klaren Unterscheidungen ist eine Schwäche der neuen Theorien; die Chicago-Schule wird den Frauen gefährlich. Sie wissen, daß sie von der »nicht erfaßten« Ökonomie noch viel wirksamer ausgeschlossen sind als von der besteuerten Lohnarbeit; während umgekehrt bei der Hausarbeit ihre Diskriminierung gerade darin besteht, daß sie ihr nicht entrinnen können. Diese — den »Chicago Boys« vielleicht nicht erwünschte — Unterscheidung ist für Frauen unerläßlich.

Frauen sind Schattenarbeiterinnen

Mitte der siebziger Jahre änderte die ökonomisch relevante Forschung über Frauenfragen ihre Richtung. Einige Untersuchungen gelangten zu Ansätzen, die nicht mehr darstellbar waren in den üblichen Kategorien der Geschichte, Ökonomie, Ethno- und Anthropologie. Für diese Untersuchungen wurde zweitrangig, daß die Frauen vom Lohnkuchen die kleinere Schnitte kriegen. Wichtiger wurde ihnen eine ganz andere Frage: In jeder Industriegesellschaft sind die Frauen nicht nur in der Lohnarbeit benachteiligt; sobald sie ihren Job verlieren, werden sie einer neuen Kategorie ökonomisch notwendiger Arbeit unterworfen, diesmal überhaupt ohne Lohn.

Daß Frauen draufzahlen bei Bewerbungen, bei Vorrückungen, beim Versuch, sich ihren Arbeitsplatz zu erhalten — war jedermann bereits klar. Aber auBerhalb der Lohnarbeit, die im 19. Jahrhundert allgemein wurde, ist ein neuer Bereich ökonomischer Aktivität entstanden; hier werden Frauen mehr und anders zur Arbeit eingesetzt als Männer. Man entzog — und entzieht immer noch — den Frauen den gleichen Nutzen aus der Lohnarbeit, und bindet sie mit noch größerer Ungleichheit an eine neue Kategorie von Arbeit, die es vor der Lohnarbeit noch gar nicht gab.

Den besten Nachweis für diese neue »niedere Ökonomie« liefern die Historiker der Hausarbeit. Aus ihren Schriften wurde mir klar, daß es zwischen Hausarbeit einst und Hausarbeit heute einen Unterschied gibt, der sich nicht ausreichend beschreiben läßt in traditioneller Sprache oder im soziologischen Jargon. Die heutige Art von Hausarbeit kann man auf eine Hausfrau von einst gar nicht anwenden. Und umgekehrt kann eine moderne Hausfrau gar nicht glauben, daß ihre Vorgängerinnen keineswegs in jener »niederen Ökonomie« arbeiteten, die heute Hausarbeit ist.

Als ich mir genauer anschaute, was Anthropologen und Historiker als Hausarbeit beschreiben, dämmerte mir: der heutige Arbeitsmarkt, ob statistisch »erfaßt« oder »unerfaßt«, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das meiste an Mühsal, um die Spitze des Eisbergs oben zu halten, geschieht unter der Wasserlinie, ist »niedere Ökonomie«. Und wenn die verschiedenen Formen von Lohnarbeit zunehmen, nimmt auch die Unterwasser-Plackerei zu.

Moderne Hausarbeit ist von dieser »unteren« Realität ein typischer Teil, aber nicht der einzige; sie ist nicht nur statistisch unerfaßt, sondern überhaupt unerfaßbar für alle übliche Nationalökonomie. Da es bisher keine übereinstimmende Nomenklatur gibt, um die nötigen Unterscheidungen zu treffen, stelle ich neben die Arbeit in der »erfaßten« und »nichterfaßten« Ökonomie eine sie ergänzende »niedere Ökonomie« oder Schattenarbeit.

Hier geht es nicht um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Schattenarbeit wird geleistet von den Konsumenten, insbesondere im konsumierenden Haushalt. Schattenarbeit sind jene Tätigkeiten, durch die gekaufte Waren umgewandelt werden in nutzbare Sachen. Schattenarbeit umfaßt jene Zeit, Mühe und Anstrengung, die wir anwenden müssen, um zur gekauften Ware jenen zusätzlichen Wert zu fügen, ohne den wir sie nicht benützen können.

Eierbraten einst & jetzt

Schattenarbeit ist in jenem Ausmaß nötig, in dem die Leute ihre Bedürfnisse mittels Waren zu befriedigen suchen. Mit dem Begriff »Schattenarbeit« unterscheide ich zwischen dem Eierbraten in Vergangenheit und Gegenwart:

Die moderne Hausfrau geht auf den Markt, kauft die Eier, führt sie im Auto nach Hause, fährt mit dem Aufzug in den 7. Stock, schaltet den Herd ein, nimmt Butter aus dem Eiskasten und brät die Eier — mit jeder dieser Handlungen fügt sie Wert zur Ware.

Nichts dergleichen tat ihre Großmutter: Sie suchte sich die Eier im eigenen Hühnerstall zusammen, schnitt ein Stück vom Speck herunter, den sie selber geräuchert hatte, zündete das Holz an, das ihre Kinder gesammelt hatten, gab Salz dazu, das sie gekauft hatte.

Das Beispiel klingt romantisch, aber es zeigt den Unterschied. Beide Frauen braten Eier; aber nur die eine benützt auf den Markt gebrachte Ware und hochkapitalisierte Produktionsgüter: Auto, Aufzug, Elektroherd und Zubehör. Sie trägt die Bürde der Schattenarbeit; die Großmutter befaßte sich mit der geschlechtsspezifischen Aufgabe der Lebenserhaltung.

Die Veränderung der Hausarbeit reicht tief unter die Oberfläche. Wachsender Lebensstandard machte sie kapitalintensiv durch eine Unzahl von Maschinen und Maschinchen. Eine kanadische Durchschnittsfamilie — und ähnliches gilt in jeder modernen Industriegesellschaft — gibt für ihre Haushaltsgeräte einen Betrag aus, der höher ist als die durchschnittliche Investition pro Fabriksarbeitsplatz in zwei Drittel aller übrigen Länder.

Dadurch kann jetzt Hausarbeit hauptsächlich sitzend erledigt werden; es gibt weniger Krampfadern. Für eine Minderheit wird dadurch Zeit frei für interessante, gutbezahlte Teilzeit-Jobs oder für Bücherschreiben oder Fischen.

Aber die neue Hausarbeit ist eher einsam, fad, unpersönlich, Zeit-verpestend: Valiumverbrauch und Abhängigkeit von der TV-Droge liefern Maßeinheiten für den neuen verborgenen Streß.

Viel wesentlicher noch: Hausarbeit wurde zum Musterbeispiel für jene neue Ökonomie, die in einer Computer- und Mikroprozessoren-Gesellschaft »erfaßte« wie »nicht erfaßte« produktive Arbeit überflügelt.

Der Haushalt konnte sich mit Schattenarbeit erst füllen, sobald er die ökonomische Funktion übernahm, den dort benötigten Gütern zu höherem Wert zu verhelfen. Hausarbeit wurde auch erst Frauenarbeit, sobald Männerarbeit nicht mehr im Haus, sondern in der Fabrik oder im Büro verrichtet wurde. Seither mußte der Haushalt von dem bestritten werden, was durch Lohnarbeit hereinkam — der Ingenieur konnte dies allein leisten, beim Hilfsarbeiter mußte auch die Frau ans Fließband und die Tochter sich als Hausgehilfin verdingen.

Die unbezahlte Veredelung von Produkten der Lohnarbeit wurde nun zur Aufgabe der Frau; gemäß ihrer neuen Nutzung wurde sie neu definiert.

Ideologie der Küchenmaschine

Mit wachsender Industrialisierung wuchsen gleichläufig Lohn- und Schattenarbeit. Die beiden neuen Funktionen — Verdiener des Lebensunterhalts und von ihm Abhängige — zerteilten die Gesellschaft insgesamt. Er wurde identifizierbar mit Overall und Fabrik, sie mit Schürze und Küche. Soweit sie Lohnarbeit fand, wurde sie dafür bemitleidet und unterbezahlt.

Im 19. Jahrhundert revolutionierte die Technik alle Arbeit außerhalb des Haushalts; auf diesen selbst hatte sie wenig Einfluß — nur der Käfig, worin die Hausfrau saß, wurde enger. Die Wasserleitung nahm ihr das Schleppen der Krüge ab — und beendete ihren Kontakt mit Freundinnen am Brunnen. Als neue ökonomische Kategorie wurde Hausarbeit bereits zu etwas ohne Beispiel in der Geschichte, aber technisch ging sie vor sich wie immer. Noch um die Jahrhundertwende waren Wasserleitungen, Gas, Elektrizität im Haushalt bloße technologische Möglichkeiten; allgemein üblich wurden sie erst um 1920 in den großen amerikanischen Städten, in den kleinen erst um 1930.

Erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wandelt sich die materielle Wirklichkeit des Haushalts radikal; die Industrie erzeugt nun Maschinen für die Schattenarbeit — gleichzeitig ersetzen Radio und Fernsehen die gemeinschaftliche Unterhaltung.

Durch den technischen Fortschritt braucht die Lohnarbiet weniger Arbeiter, die Hausarbeit — ohne abzunehmen — um ein Vielfaches mehr Kapital.

Ökonomischer Fortschritt wird üblicherweise als ein Prozeß beschrieben, durch den Arbeitsplätze geschaffen werden. Durch den zunehmenden Ausstoß von Waren wächst aber auch die Schattenarbeit, die nötig ist, ehe wir diese Waren zur Befriedigung unsrer Bedürfnisse nutzen können.

Entwicklung wird üblicherweise als ein Prozeß beschrieben, in dessen Verlauf für die Produktion immer mehr Kapital gebraucht wird. Dadurch wächst aber auch die Kapitalintensität der Schattenarbeit, die nötig ist für ein Mindestmaß an Wohlbefinden.

Es ist sehr unwahrscheinlich, daß produktive Lohnarbeit irgendwann und irgendwo noch zunehmen wird. Auch werden in Zukunft auf jenem künstlichen Arbeitsmarkt, den man »Dienstleistungen« getauft hat, kaum so extravagante Preise erzielt werden wie bisher. Die Automatisierung wird das Gesamtmaß an Lohnarbeit senken; auf den Markt werden Güter gelangen, die nicht weniger, sondern mehr unbezahlte Mühsal dem Käufer/Nutzer abfordern. Es kommt zu einem Schattenwachstum: weniger Lohnarbeit, mehr Schattenarbeit — und dies wird, innerhalb dieser Schattenarbeit, zu neuer sexueller Diskriminierung führen.

Schattenarbeit ist keine ausschließliche Domäne der Frau. Sie ist ebenso »unisex« wie Lohnarbeit. Unbezahlte Plackerei zur Verbesserung der industriellen Produktion leisten auch Männer. Der Ehemann stuckt für die Prüfung in einem Fach, das ihm verhaßt ist — nur um in seiner Karriere weiterzukommen. Er fährt jeden Tag ins Büro und wieder zurück — auch das ist Schattenarbeit.

Allerdings konsumiert der Haushalt die meiste Schattenarbeit; Haushalt ist nur ein schöneres Wort für Schattenarbeit. Aber wenn nur Frauen in Schattenarbeit tätig wären, könnte es dort gar keine Benachteiligung für sie geben. Es gibt sie aber genau dort, und zwar stärker noch als in der Lohnarbeit: Weniger meßbar, aber desto massiver gibt es hier einen Unterschied in der Knechtung von Mann und Frau. Die Frauen leisten dort mehr Arbeit; verbringen mehr Zeit damit; haben weniger Möglichkeit, solcher Arbeit zu entgehen; die Arbeit wird nicht weniger, wenn sie berufstätig werden; und sie werden grausamer bestraft, wenn sie Schattenarbeit verweigern.

Frauen werden betrogen auf dem »erfaßten« wie »nicht erfaßten« Arbeitsmarkt; aber das ist nur ein Bruchteil des »Schattenpreises«, den wir ihnen schuldig bleiben für die gänzlich unbezahlte Hausarbeit.

Das Kind als Humankapital

Die Erziehung liefert ein gutes Beispiel: früher war ja Erwachsenwerden kein ökonomischer Prozeß; was ein Bub oder Mädchen daheim lernte, war keine knappe Ware. Jeder lernte seine eigene Muttersprache und die wesentlichen Fähigkeiten für sein eigenes Leben. Erwachsenwerden konnte — mit seltenen Ausnahmen — nicht beschrieben werden als Kapitaleinsatz zur Heranbildung von Arbeitskräften.

Heute ist das alles anders. Die Eltern sind bloße Gehilfen der Lehrkräfte im Erziehungssystem. Im Jargon der Ökonomie sind sie die Verantwortlichen für den primären Input von menschlichem Kapital zur Qualifizierung ihrer Nachkommen als »homo economicus«.

Begreiflicherweise zerbricht sich der Experte für »Edukationsökonomie« den Kopf, wie er die Mutter dahin kriegt, daß sie ihrem Kind einen möglichst großen Input an unbezahltem Kapital gibt. Der Experte schreibt:

Wenn die Kinder in die 1. Klasse gelangen, zeigen sie signifikante Unterschiede in ihrer verbalen und mathematischen Kompetenz. Dies widerspiegelt angeborene Fähigkeiten, aber auch das Maß an menschlichem Kapital, das bis zum 6. Lebensjahr in das Kind investiert wurde. Dieser Kapitalstock widerspiegelt wiederum die verschiedenen Inputs von Zeit und anderen Anstrengungen, eingebracht von Eltern, Lehrern, Geschwistern und Altersgenossen sowie vom Kind selbst. Der Prozeß des Erwerbs von vorschulischem Humankapital ist analog zum Erwerb von Humankapital durch Schule und Berufsausbildung.

(A. Leibowitz, Home Investment in Children, in: T. N. Schultz, Economics of the Family, Chicago 1974, S. 451).

Hier werden die unbezahlten Inputs der Mutter an Zeit und Mühe ökonomisch korrekt als erste Schichte in der Anhäufung von Humankapital definiert. Man mag das für grotesk halten, aber man muß zugeben: es ist wahr in einer Gesellschaft, die von der Grundannahme ausgeht, daß Fähigkeiten knappe Güter sind und daher ökonomisch produziert werden müssen.

Die Schattenarbeit der Mutter ist eine ökonomische Tätigkeit, von der alles weitere abhängt: Cash Flow, Löhne und Gehälter, Mehrwert; die gesamte Kapitalbildung.

Schattenarbeit wird nutzbar gemacht im Zentrum und in den Kolonien: diese neue Entwicklungsstrategie nennt man am besten »Kolonisierung des informellen Sektors«.

Lohn für Hausarbeit?

Schattenarbeit kann nicht in Geldeinheiten gemessen werden; aber es ist möglich, spezifische Tätigkeiten, die als Schattenarbeit abverlangt werden, umzuwandeln in Lohnarbeit: österreichische und vorher schon schwedische Gewerkschaften erzielten die Anerkennung der Fahrten zum und vom Arbeitsplatz als Teil der Arbeitszeit.

Das Pendeln zwischen Wohnung und Betrieb ist — so argumentierten sie — eine Mühe, die dem Arbeiter auferlegt ist, weil die Fabriken nicht dort stehen, wo er einfachen Zugang hat, sondern wo der Grund billig ist, die Zufahrtsstraßen günstig, die Villen der Manager leicht erreichbar. Pendeln ist Schattenarbeit: der Arbeiter verladet jeden Morgen seine eigene Arbeitskraft im eigenen Auto und spielt den Chauffeur zum Transport einer Ware, die sein Unternehmer für acht Stunden des Tages gemietet hat.

Transport der eigenen Arbeitskraft ist kapitalintensive Schattenarbeit: Ein wesentlicher Prozentsatz des Lohns geht auf für Kauf und Instandhaltung des Autos und für Steuern, mit denen Autostraßen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten gebaut werden. Pendeln bleibt Schattenarbeit, ob das Transportmittel ein Privatauto ist, ein Autobus oder ein Fahrrad.

Einige kleinere Gewerkschaften setzten sich durch; ihre Mitglieder sind jetzt Chauffeure ihrer eigenen Arbeitskraft, bezahlt vom Unternehmen. Wenn jedoch dies allgemein durchgesetzt würde und alle Arbeiter dafür Lohn kriegten, daß sie sich unentgeltlich selber kapitalisieren, unter anderem durch kostenlosen Transport ihrer eigenen Arbeitskraft — würde das Industriesystem zu funktionieren aufhören.

Auch Frauen könnten fordern, daß ihre Schattenarbeit bezahlt wird. Sobald man aber den »Schattenpreis«, der für die unbezahlte Arbeit zu leisten wäre, vergleicht mit den Kosten der Lohnarbeit, wird das Paradoxon sichtbar, das in der Schattenarbeit steckt: Zumindest im nicht-militärischen Sektor jeder modernen Ökonomie ist der Input an Schattenarbeit wahrscheinlich bereits höher als der Input an Lohnarbeit. Der gesamte Zeitaufwand für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, ob sie der Konsument nun wünscht oder ablehnt, ist heute z.B. wohl geringer als der gesamte Zeitaufwand, der nötig ist, um zum mangelhaften Wert dieser Produkte den entsprechenden Gebrauchswert hinzuzufügen.

Durch die neue Ökonomie der Selbstbedienung wird die Masse an Schattenarbeit dramatisch weiterwachsen. Lohn für Schattenarbeit kann nicht bezahlt werden, nicht weil sie keine Arbeit ist, sondern weil die Lohnsumme für Schattenarbeit wahrscheinlich höher wäre als das gesamte Bruttonationalprodukt.

Feministinnen fordern, die Frauen mögen dafür bezahlt werden, daß sie die mit dem Familieneinkommen eingekauften Waren für den Familienkonsum überhaupt erst nutzbar machen. Aber es ist ein Mißverständnis, wenn sie dafür Lohn verlangen. Das Beste, was sie erhoffen können, ist nicht der echte Schattenpreis für diese Arbeit, sondern ein Trostpreis.

Die kostenlose Schattenarbeit ist die Grundbedingung dafür, daß eine Familie vom Wareneinkauf leben kann. Auch wenn die nötigen Güter immer mehr von Robotern erzeugt werden, bleibt Schattenarbeit unentbehrlich. Sie verhält sich zum Geld wie das Neutron zum Elektron.

Selbsthilfe & Selbstbetrug

Schattenarbeit ist völlig unähnlich der produktiven Lohnarbeit, die Güter für andere herstellt; und sie ist auch völlig unähnlich der traditionellen Hauswirtschaft, die nicht für Geld geschieht und auch kaum Geld braucht. Schattenarbeit steckt hinter vielem, was heute unter dem Namen »Selbsthilfe« vor sich geht. Das ist eine moderne Etikette; früher einmal konnte man damit die Masturbation bezeichnen. Der Ausdruck wurde üblich, weil ihn US-Einrichtungen für internationale Hilfe so häufig gebrauchten. Durch den Begriff »Selbsthilfe« wird die traditionelle Zweiteilung aller ökonomischen Tätigkeiten in Produktion und Konsumtion (Reproduktion) in den Konsumenten selbst hineingetragen:

»Selbsthilfe« zerteilt das tätige Subjekt in zwei Hälften; die eine Hand wäscht die andere. Dem Konsumenten wird gelehrt, mit seiner rechten Hand selber zu produzieren, was seine linke angeblich braucht. Er soll soviel wie möglich selber tun und bekommt dafür so wenig wie möglich: er soll die mangelhaftesten Güter mit dem höchsten Einsatz eigener Schattenarbeit vervollständigen.

Immer neue Produkte werden für solche »Selbsthilfe«, nämlich maximale Schattenarbeit, entworfen. Mikroprozessoren übernehmen immer mehr die Produktion; immer mehr Menschen, die in der Lohnarbeit nutzlos sind, werden in die Schattenarbeit gestoßen. Sie ist nicht mehr Domäne der Frau, sondern wird offenkundig immer geschlechtsloser. Früher war sie die Arena für Unterdrückung der Frau; jetzt wird sie zur Arena ihrer Diskriminierung gegenüber den neu einströmenden Männern.

Mann in der Küche, die letzte Schlacht

Jetzt nehmen Mittelklasse-Väter immer mehr Anteil an Küchenarbeit und Kinderpflege für sich in Anspruch. Sie wollen die Steaks braten, wenn Gäste kommen; sie wollen ihr Stündchen mit den Kindern spielen. Unter dem Motto: Wir tragen unsern Teil der Hausarbeit — öffnen sie ein neues Feld der Konkurrenz und des Ressentiments zwischen den Geschlechtern.

Früher kämpften die Frauen um gleiche Rechte in der Lohnarbeit; jetzt kämpfen die Männer um gleiche Befriedigung in der Schattenarbeit des Haushalts. In den vergangenen zwanzig Jahren verbreitete sich die Benachteiligung der Frau auf immer mehr Berufe und wurde deutlicher als solche empfunden, weil die Frauen gesetzlichen Schutz Richtung Chancengleichheit bekamen. Jetzt, da immer mehr Männer in die Schattenarbeit verdrängt werden, weil Lohnarbeit immer rarer wird — verbreitet sich die Benachteiligung der Frau mitten in ihrem ureigensten Bereich, und dies wird immer peinlicher werden.

Dies ist das Bild, wie jüngste Studien es malen. Benachteiligung der Frau in Lohn- und Schattenarbeit ist weltweit. Das gleiche gilt wahrscheinlich, obgleich selten untersucht, für die Situation der Frau auf dem statistisch nicht erfaßten oder Untergrund-Arbeitsmarkt.

Diskriminierung in und außerhalb der Berufsarbeit verbreitet sich mit wachsendem Bruttonationalprodukt wie auch Streß, Verschmutzung und Frust. Kulturelle Tradition, Politik, Klima, Religion — ändern nichts an dieser Entwicklung. Untersuchungen über Diskriminierung der Frau zeigen dieselbe Tendenz wie die über Krebs der Brust und Gebärmutter: Zunahme proportional zum BNP pro Kopf.

Es gibt geographische Unterschiede in der Heftigkeit der Diskussion über diese Krankheiten, aber keine in ihrem Auftreten. Australische Frauen verfügen über erstklassige Statistiken, italienische Frauen über ätzenden Zynismus. Die Hindernisse für Frauen beim Aufstieg in privilegierte Jobs und die Fallen, mit denen man sie in die Küche zurücklockt, werden in Japan und der Sowjetunion verschieden erklärt, aber sie sind überall ähnlich arg.

Wieder liefert die Erziehung ein gutes Beispiel. Auch wenn sie gleich lang ist für Frauen wie Männer, auch wenn der Lehrplan derselbe ist — das Resultat ist überall: der lebenslange Gesamtlohn für Frauen ist niedriger als für Männer. Bessere Erziehung nagelt Frauen sogar besonders wirksam auf ihrem Arbeitsplatz fest: sie kriegen dann noch weniger Chancen für einen neuen Start auf einer anderen Berufslaufbahn.

Insoweit die Schlachten der siebziger Jahre Manager-Etagen für Frauen geöffnet und Falltüren Richtung Küche geschlossen haben — profitierten davon nur »Schwestern« aus privilegierten Schichten. Einige Frauen mehr hinter dem Operationstisch oder in der Fakultät, ein gelegentlicher Ehemann beim Geschirrspülen — diese raren Symbole vertiefen nur den Eindruck der unparteiischen Verteilung von Diskrimination unter den Frauen insgesamt, verstärken nur die schwere Anklage.

Und ist der Job weg, so verstärkt sich erst recht die Bitterkeit zwischen den Geschlechtern.

(II. Teil im nächsten Heft)

Bücher von Ivan Illich

  • Schulen helfen nicht (Rowohlt Sachbuch 6778)
  • Die Entschulung der Gesellschaft (Rowohlt Sachbuch 6828)
  • Die sogenannte Energiekrise oder Die Lähmung der Gesellschaft (Rowohlt aktuell 1763)
  • Selbstbegrenzung (Rowohlt aktuell 4629)
  • Die Nemesis der Medizin (Rowohlt aktuell 4834)
  • Vom Recht auf Gemeinheit (Rowohlt aktuell 4829)
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