Grundrisse, Nummer 50
Mai
2014

„Das Kapital“ lesen: der erste Satz

Oder: Das Kapital beginnt mit dem Reichtum, nicht mit der Ware

Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung“, die einzelne Ware als seine Elementarform. (MEW 23; 49) [1]

Einführung

Nur wenige der vielen Kommentierungen von Marx‘ Werk „Das Kapital“ erwähnen überhaupt den ersten Satz des Buches. [3] Im Allgemeinen wird vertreten, dass die Ware den Ausgangspunkt für Marx’ Diskussion bildet. Der erste Satz wird deshalb eher als ein Einstieg betrachtet, anstatt ihm eine eigenständige Bedeutung zuzuschreiben: er führt uns einfach in das wichtige Thema ein, nämlich die Analyse der Ware. Wenn wir jedoch den ersten Satz lesen, sehen wir, dass Marx nicht mit der Ware beginnt, sondern dass er eine ganze Welt voller Fragen von grundlegender politischer und theoretischer Bedeutung eröffnet, noch bevor er überhaupt die Ware erwähnt.

Im Folgenden werde ich das Subjekt, das Objekt und das Prädikat des ersten Satzes untersuchen, um diese Welt der Fragen zu erforschen. Es ist nicht mein Anliegen, den „wahren Marx“ zu entdecken, sondern den Text zu analysieren und ihn daraufhin zu befragen, was er dem gegenwärtigen Kampf gegen den Kapitalismus anzubieten hat.

Das Subjekt

Nicht die Ware ist das Subjekt des ersten Satzes. Es ist „der Reichtum“ – „(d)er Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“. Dieser Reichtum „erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’“, aber wir werden uns zuerst auf das Subjekt, den Reichtum, konzentrieren.

Die Bedeutung des ersten Satzes wird genau wegen der in ihm vertretenen Behauptung leicht überlesen. Es ist eben der Umstand, dass uns, die wir in der kapitalistischen Gesellschaft leben, der Reichtum als eine Sammlung von Waren erscheint, der uns diese Erscheinung als gegeben hinnehmen lässt. Wir sind es gewohnt, den Reichtum auf diese Weise zu betrachten. Wenn wir an Reichtum denken, dann denken wir gemeinhin an materiellen Reichtum, an die Dinge, die eine Person hat, wahrscheinlich an Geld, das allgemeine Äquivalent der Waren. Wenn wir jemanden als reich bezeichnen, dann meinen wir im Allgemeinen, dass sie oder er sehr viel Geld haben und deshalb über eine gewaltige Anzahl von Waren verfügen können. Anders ausgedrückt führt die Form, in der der Reichtum erscheint, dazu, Reichtum und die ungeheure Warensammlung gleichzusetzen, sie als identisch zu behandeln. Wenn dies zuträfe, dann wäre es in der Tat richtig, den ersten Satz als Auftakt zu behandeln, als einen Satz dessen Bedeutung nur darin liegt uns zum zentralen Thema, die Ware, zu führen.

Die Formulierung „(d)er Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ fordert uns dazu auf zu fragen, wie der Reichtum in einer Gesellschaft aussehen würde, in der die kapitalistische Produktionsweise nicht herrschte? [4]] In den nur wenig früher verfassten Grundrissen beantwortet Marx unsere Frage unmittelbar:

„In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgendetwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist? In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck“ (MEW 42; 395-6).

Sobald wir in den Grundrissen [5] diese Beschreibung gelesen haben, leuchtet der erste Satz des Kapitals in viel lebendigeren Farben. Der Reichtum ist „die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen“. [6] Er ist kollektiv, er ist gesellschaftlich, das Produkt menschlicher Interaktion – die Fülle oder Reichhaltigkeit dessen, was häufig als das „Gemeinschaftliche“, „das Commons“ bezeichnet wird. [7] Er befindet sich in Bewegung: „Das absolute Herausarbeiten […der] schöpferischen Anlagen [der Menschheit]“, die „absolute Bewegung des Werdens“. [8] Er ist vielfältig: die „Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, […] zum Selbstzweck“. Reichtum, die Fülle einer mit verschiedenen Traditionen und Lebensstilen gefüllten Straße, die Vielfalt der jahreszeitlichen Veränderungen, der Reichtum einer zum Gesang erhobenen Stimme, sei sie die eines Menschen oder eines Vogels. Der potenziell unbegrenzte Reichtum von Reichtümern: dies ist das, was in unserer Gesellschaft als „ungeheure Warensammlung“ erscheint. [9] Dieser erste Satz ist kein unverfänglicher Einstieg. Marx eröffnet eine spannungsgeladene Welt. Er lädt unsere Empörung ein, unser Gefühl für die zerstörte Würde.

Diese Spannung ist nicht nur im Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat (Reichtum und Waren) manifest, sondern bereits innerhalb des Subjektes des ersten Satzes, „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“. Wir beginnen mit unserem unmittelbaren Ausgangspunkt: die kapitalistische Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise (vor-)herrscht. [10] Dies ist die Gesellschaft, in der wir leben, dies ist die Gesellschaft, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Das Subjekt des Satzes ist ein historisch spezifisches Subjekt, aber es ist ein Subjekt, das über seine eigene historische Spezifizität hinausdrängt. Die Bestimmung des Subjektes („Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“) ist eine Begrenzung, die auf ihre eigene Überwindung verweist: die Begrenzung des Reichtums setzt einen Reichtum als gegeben, der nicht so begrenzt ist. Indem das Subjekt derart begrenzt wird, verweisen wir bereits darauf, dass es etwas jenseits seiner Grenzen gibt, einen Reichtum, der, zumindest potenziell, nicht der Reichtum von Gesellschaften ist, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Reichtum ist unpassend: er wird nicht innerhalb der Grenzen „der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ gehalten, er fließt über.

Wie ist dieses Überfließen, dieses Überwinden der dem Reichtum auferlegten Grenzen zu verstehen? Dadurch dass Marx den Reichtum in diesem Satz als Subjekt und nicht als Objekt des Satzes konstituiert, weist er darauf hin, dass der Reichtum selbst die Quelle der Bewegung über seine eigenen Grenzen hinaus ist. Er kündigt an, dass die Geschichte, die er gleich erzählen wird, die Geschichte des menschlichen Reichtums (die Menschheit in der absoluten Bewegung ihres Werdens) ist, der sich gegen und über die Fesseln, die ihn gefangen halten, hinaus bewegt. In diesen allerersten Worten, verdeutlicht Marx, dass in diesem Buch keine Theorie der Herrschaft ausgeführt wird, sondern eine Theorie des Drängens gegen die Herrschaft und tatsächlich gegen alle Begrenzungen.

Der Reichtum, der das Subjekt dieses Satz bildet, ist keine ahistorische oder transhistorische Kategorie, sondern eine Kategorie, die über ihre eigene historische Spezifizierung hinausdrängt. Er steht nicht außerhalb des Prädikats, er ist der Sammlung von Waren nicht äußerlich, sondern er steht in-gegen-und-jenseits davon. Der Reichtum, an den wir mit diesen einführenden Worten herangeführt werden, [11] ist nicht der Reichtum eines ahistorischen Humanismus, sondern ein Reichtum, der in historisch spezifischer Revolte gegen seine eigene Begrenzung steht.

Reichtum, die Reichhaltigkeit der menschlichen Kreativität, steht also als Subjekt, als ruheloses, unbefriedigtes Subjekt. Als stolzes Subjekt, die ersten Worte des ersten Kapitels. Reichtum ist verwegen, Reichtum brüllt. Sicherlich voller Entrüstung, vielleicht mit Macht. Dies stellt einen Großteil des linken Denkens, das Armut und nicht den Reichtum als Ausgangspunkt nimmt, auf den Kopf. Der erste Satz des Kapitals bringt uns dazu, anders zu denken: wir kämpfen nicht weil wir arm sind, sondern weil wir reich sind. Nicht weil wir arm sind, kämpfen wir gegen den Kapitalismus, sondern weil die „absolute Entfaltung [unserer] kreativen Potentiale“ frustriert ist, weil „die absolute Bewegung unseres Werdens“ angeleint ist. Es ist unser Reichtum, der sein Haupt erhebt und brüllt, dass es seine Fesseln sprengen wird.

Das Prädikat

Reichtum, Reichhaltigkeit erscheint in kapitalistischen Gesellschaften als eine „ungeheure Warensammlung“. Zu Beginn des zweiten Paragraphen teilt uns Marx mit, dass die Ware „zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt [ist]” (MEW 23; 49). Die Ware ist ein uns äußerliches Objekt, ein Ding, das für den Verkauf produziert wurde.

Marx nimmt uns in die Enge eines Kerkers mit. In diesem erstem Satz gibt es einen dramatischen Übergang von einer Welt der Reichhaltigkeit (Menschheit „in der absoluten Bewegung des Werdens“) zu einer aus einer ungeheuren Sammlung uns äußerlicher Objekte zusammengesetzten Welt. Marx nimmt uns an der Hand und führt uns in die furchtbare Welt der Politischen Ökonomie. In dramatischer Form werden wir an den Untertitel des Buches erinnert: Eine Kritik der Politischen Ökonomie. Die Spannung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des ersten Satzes bildet die Grundlage der Kritik. Sobald wir einmal diesen schrecklichen Übergang vom Reichtum zu den Waren durchschritten haben, kann Marx in seinem zweiten Satz sagen: „Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Ware“ (MEW 23; 49). Aber dies macht die Ware nicht zum Ausgangspunkt von Marx’ Analyse. Es ist der Reichtum – jene Reichhaltigkeit, die in-gegen-und-jenseits der Welt der Waren steht – die den Ausgangspunkt bildet. Erst nachdem wir uns in die enge, dunkle Welt der politischen Ökonomie begeben haben, wird die Ware zum Ausgangspunkt. Wenn wir die Außenwelt, die Welt der Reichhaltigkeit vergessen, dann vergessen wir uns selbst, unsere Kritik, unsere Opposition, den wirklichen Ausgangspunkt.

Der Übergang im ersten Satz ist eine Verengung, eine Reduzierung der Reichhaltigkeit der Welt der politischen Ökonomie, der Waren. Marx wird häufig vorgeworfen, an dieser Verengung schuld zu sein, einen rein ökonomistischen Blick auf die Welt zu haben, die Reichhaltigkeit des Lebens und die Vielfalt von Unterdrückungsformen außer Betracht zu lassen. Aus dem ersten Satz geht hervor, dass nichts der Wahrheit ferner liegen könnte. Seine Kritik der politischen Ökonomie ist nicht nur eine Kritik der verschiedenen Theorien der Ökonomen, es ist eine Kritik der Ökonomie an sich, eine Kritik der Welt die die menschliche Reichhaltigkeit auf das Ökonomische reduziert. Dies ist genau der Punkt, um den es am Ende des oben aus den Grundrissen zitierten Abschnitts geht: „In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck“. [12] Nicht Marx reduziert alles auf das Ökonomische, das jenes das nicht in die Warenlogik passt, ausschließt, sondern es ist die Welt selbst, die dies hervorbringt.

Die Bewegung vom Reichtum zu den Waren ist eine Bewegung hin zu einer Welt, die durch Gesetze gebunden ist, eine Welt fest gefügter gesellschaftlicher Kohäsion, eine Welt, die als Totalität verstanden werden kann, eine Welt der Synthese. Es gibt keinen inhärenten Grund, warum die Produktion des Reichtums irgendwelchen Gesetzen folgen sollte. Die völlige Herausarbeitung unserer kreativen Potenziale kann in viele verschiedene Richtungen erfolgen, aus unterschiedlichen Motiven, mit verschiedenen Rhythmen. So verhält es sich nicht mit den Waren: sie werden für den Austausch produziert und die Notwendigkeit sie auszutauschen, erlegt die Notwendigkeit auf, sie mit der gesellschaftliche notwendigen Arbeitszeit zu produzieren und dies schafft eine ganze Welt funktionaler Notwendigkeiten, gesellschaftlicher Bestimmungen, die als von jeglicher bewusster Kontrolle unabhängige Gesetze funktionieren. Marx untersucht diese Gesetze im Kapital, tut dies jedoch aus einem Blickwinkel heraus, der sich gegen-und-jenseits dieser gesetzesgebundenen Totalität befindet.

Die Bewegung vom Reichtum hin zu den Waren ist also die Bewegung hin zu einer quantifizierbaren und quantifizierten Welt. Der kleine Zusatz zum Prädikat, „die einzelne Ware als seine Elementarform“ wird dabei bedeutsam. Wenn man sich Reichtum als die „absolute Herausarbeitung [menschlicher] kreativer Potenziale“ vorstellt, dann ergibt es überhaupt keinen Sinn, sich diesen als in einzelne Einheiten oder in individuelle Stücke Reichtum unterteilt vorzustellen. Nur wenn dieser Reichtum auf eine Sammlung uns äußerlicher Objekte reduziert wird, ist es möglich von seiner Unterteilung in Einheiten zu sprechen: tatsächlich wird es dadurch nicht nur möglich, sondern die Unterteilung dieses Reichtums in austauschbare Einheiten oder individuelle Waren ist ein essentieller Bestandteil des Übergangs vom Subjekt des Satzes zu seinem Prädikat. [13]

Das Verb

Der Reichtum erscheint als eine ungeheure Warensammlung. Was bedeutet „erscheint als“?

1. Die Erscheinung ist keine falsche Erscheinung: Marx sagt nicht, „der Reichtum scheint eine ungeheure Warensammlung zu sein, aber dies ist ein Fehler, in Wirklichkeit ist es etwas anderes“. [14] Solch eine Interpretation würde die Erscheinung von ihrem Substrat, ihrer Grundlage abtrennen, das heißt, von dem, was als solches erscheint und das Verhältnis zwischen Letzterem und Ersterem als zufälliges Ergebnis behandeln, wohingegen das Verhältnis zwischen Erscheinung und Substrat für Marx von zentraler Bedeutung ist. Die Erscheinung ist eine wirkliche Erscheinung, eine Erscheinung, welche allgemein gültig ist, eine gewisse Stabilität hat. Es ist keine Erscheinung, die verschwindet, sobald wir einmal hervorheben, dass es sich um einen Fehler handelt. Es ist eine Erscheinung, die von „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“, hervorgebracht wird.

Wir können auf die Stabilität oder Realität dieser Erscheinung hinweisen, indem wir sagen, dass Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften in der Form einer ungeheuren Warensammlung existiert. In diesem Zusammenhang kann der Begriff „Form“ als „Existenzweise“ [15] verstanden werden: die Existenzweise von Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften ist eine ungeheure Warensammlung.

2. Die Erscheinung ist also allgemeingültig. Marx sagt nicht: „Der Reichtum dieser Gesellschaften erscheint Adam Smith oder David Ricardo als ungeheure Warensammlung“. Er sagt ebenfall nicht: „Der Reichtum erscheint der Bourgeoisie als eine Masse an Waren, aber das Proletariat weiß, dass es nicht so ist“, [16] oder, „der Reichtum wird durch die bürgerliche Ideologie als ungeheure Warensammlung präsentiert“. Vielmehr sagt er, dass Reichtum in diesen Gesellschaften als Waren erscheint oder in der Form von Waren existiert. Es erscheint so den Mitgliedern dieser Gesellschaft und es erscheint so, weil es so ist, die Erscheinung ist real, Reichtum existiert wirklich in der Form einer ungeheuren Warensammlung. Dies ist wirklich die Art und Weise in der die Menschen mit dem Reichtum umgehen, dies ist die Kraft, die bestimmt, welcher Reichtum produziert wird und wie. Wir haben bereits dargelegt, dass die Macht dieser wirklichen Erscheinung den Schlüssel zum Verständnis dafür bietet, warum diesem ersten Satz in aller Regel keine tiefere Bedeutung beigemessen wird.

3. Dies bringt uns zu einem für die Lektüre des Kapitals zentralen Problem. Wenn Reichtum in dieser Form erscheint, was ermöglicht dann Marx, diesen Satz zu schreiben? Der Satz hätte nicht geschrieben werden können, wenn Marx nicht in der Lage gewesen wäre, diese Erscheinung in irgendeiner Weise zu transzendieren. Wie lässt sich dies erklären?

Dass der Grund in der Person des Autors liegt, wäre die offensichtlichste Erklärung. Marx war ein sehr schlauer Mensch und wir, die wir seine Einsicht teilen, sind auch sehr schlau, deshalb sind wir in der Lage die Erscheinungen zu brechen. Diese Erklärung ist aus zwei Gründen problematisch. Der erste ist, dass sie konträr zu Marx’ eigener Methode liegt. Für ihn ist die Erscheinung eine wirkliche Erscheinung, eine die über ein wirkliches Substrat, eine wirkliche, in der gegenwärtigen Organisationsform menschlicher Aktivität liegende, Grundlage verfügt. Die Grenzen des Denkens von Smith und Ricardo sind zum Beispiel nicht Ergebnis von Fehlern oder Mangel an Intelligenz, sondern Ergebnis der Tatsache, dass ihre Füße und Köpfe in den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus verortet waren.

Sie haben nicht bloß den Standpunkt der Bourgeoisie ergriffen, sondern ihre Ideen wurden durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie angehörten, ermöglicht und auch begrenzt. Das zweite Problem mit dieser Art der Erklärung ist, dass sie zu einer persönlichen Trennung führt, zwischen denen, die verstehen, dass Reichtum mehr bedeutet als Produktion, Besitz und Konsumtion von Waren und den Massen, die in einer Welt der Erscheinungen gefangen sind. In diesem Fall liegt es in der Verantwortung der erleuchteten Wenigen, den Massen Erleuchtung (oder Bewusstsein) zu bringen. Die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts zeigen jedoch, dass solch eine Vorstellung desaströse Folgen haben kann.

Damit Marx diesen Satz verfassen kann und wir ihn mit anderen teilen können, ist mehr als bloße Schläue, mehr als eine personifizierte Erklärung für dessen Entstehung erforderlich. Damit Marx die Erscheinung transzendieren kann und seinen Standpunkt jenseits von ihr einnehmen kann (wie er es in seinem ersten Satz tut), muss es eine nicht innerhalb der Erscheinung enthaltene Nicht-Erscheinung geben, ein Überfließen, ein Unpassendes, einen Rest. Damit Marx gedanklich über die Erscheinung hinausgehen kann, muss es in der Praxis einen Bruch mit der Erscheinung geben. Es ist die wirkliche Nicht-Erscheinung, die es uns erlaubt, den Blickwinkel einzunehmen, aus dem heraus wir sagen können, dass „Reichtum als Waren“ erscheint. Wenn wir diese Äußerung tätigen, sagen wir im selben Augenblick unvermeidlicherweise: „Aber diese Äußerung ist nicht die volle Wahrheit, denn das Einzige, das uns erlaubt, diese Äußerung zu tätigen, ist die Tatsache, dass es gleichfalls zutrifft, dass Reichtum nicht als Waren existiert, dass Reichtum in-gegen-und-jenseits-von Waren existiert“. In dem Satz schwingt notwendigerweise ein unausgesprochener Unterstrom mit, eine Nicht-Erscheinung. Die Erscheinung schließt das, was nicht erscheint, eine unsichtbare oder latente Grundlage aus unserer Sicht aus und es ist die wirkliche Existenz dieser Grundlage, dessen, „was nicht in Erscheinung tritt“, das es uns erlaubt, den ersten Satz zu verstehen und als unseren anzunehmen. Wir könnten sagen, dass die Hälfte des ersten Satzes mit unsichtbarer Tinte geschrieben wurde.

Hier leben wir Lesende des Kapitals und hier wollen wir leben: in der Welt, die nicht in der Erscheinung des Reichtums als Waren aufgeht. Wenn wir uns die Bewegung vom Reichtum zu Waren als den Übergang in einen Kerker der Dinge vorstellen, dann befinden wir, die Lesenden des Kapitals, uns auf der Seite des Reichtums, unsere Hacken in die Erde bohrend, schreiend, dass wir nicht in den Kerker gezogen werden möchten, dass wir nicht in der verzauberten Welt der Erscheinungen aufgehen möchten, die droht uns in Gänze zu verschlingen. Klar: warum sonst sollten wir das Kapital lesen?

Sobald wir einmal die Frage gestellt haben, wie diese Äußerung möglich ist (und es fällt schwer zu sehen, wie sie vermieden werden könnte), ändert sich das Kapital in Gänze. Von einer Geschichte, die beschreibt, wie die Sachen zusammenpassen, wird es zu einer Geschichte des Unpassendseins. Und dann stellen wir fest, dass unsere Freude beim Lesen daher kommt, dass wir auch Unpassende sind: wir leben in-gegen-und-jenseits dieses Systems, das wir zu verstehen versuchen.

4. Der erste Satz kann nur verfasst werden, weil das Verhältnis zwischen Reichtum und Waren nicht auf Identität beruht. Reichtum geht nicht rückstandslos in der Ware auf: es ist dieser Rückstand, der das Schreiben (und das Lesen) des Satzes möglich macht.

Das Verb „erscheint als“ ist kein Verweis auf Identität. Der Begriff „erscheint als“ wird von Marx nicht verwendet, um, grob gesprochen (wie wir es häufig tun), zu sagen, „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, ist eine ‚ungeheure Warensammlung‘“. Nichtsdestotrotz drückt das Verb einen Prozess der Identifizierung aus. In dieser Gesellschaft wird der Reichtum als eine Sammlung von Waren identifiziert. Es gibt einen Prozess des Identifzierens, aber der Prozess ist nicht abgeschlossen, denn er sieht sich mit einer Bewegung in die entgegengesetzte Richtung konfrontiert, einem Widerstand. Anders ausgedrückt ist das Verhältnis zwischen Erscheinung und Nicht-Erscheinung ein antagonistisches. Es gibt einen lebendigen Antagonismus zwischen dem Hineinziehen des Reichtums in die Warenform und den Kräften, die gegen-und-jenseits dieses Prozesses drängen. Auf der einen Seite die Bewegung des „Erscheinen als“, des Formens, Identifizierens; auf der anderen die Bewegung des Anti-Identifizierens, des Überfließens, des Nicht-Passendseins. Die Erscheinung, die Ware, stellt sich als nicht-antagonistisch dar, aber dahinter verbirgt sich der ihr zugrunde liegende Antagonismus. Der Reichtum dieser Gesellschaften erscheint als eine ungeheure Warensammlung: diese Erscheinung ist ein aktives Erscheinen, ein aktives Formieren oder Identifizieren, das sich aus dem Umstand ableitet, dass es gleichermaßen wahr ist, dass Reichtum nicht als eine Warensammlung erscheint, dass es über die Grenzen dieser Erscheinung fließt.

Das, was als fait accompli [17] erscheint (die Existenz von Reichtum in der Warenform) ist ein lebendiger Antagonismus. Wenn wir uns den Übergang vom Subjekt zum Prädikat des Satzes als ein Hineinziehen des Reichtums in den Kerker der Ware vorstellen, dann sagt uns das Überfließen, dass die Tür des Kerkers noch nicht scheppernd ins Schloss gefallen ist, dass das Hineinziehen noch anhält.

Weit davon entfernt, eine vollendete Tatsache zu sein, ist die Warenform ein beständiger Angriff auf ihre Grundlage, ein beständiger Kampf darum, sie in die Warenform zu zwingen und sie darin zu begrenzen und dieser Angriff sieht sich einem beständigen Drängen in die entgegengesetzte Richtung gegenüber, da das menschliche Schaffen des Reichtums sich dieser Begrenzung widersetzt und nach anderen Formen der Vergesellschaftung drängt. [18] Damit dieser Satz Sinn ergibt, müssen sowohl „Reichtum“ als auch „Ware“ eher als Verben denn als Substantive aufgefasst werden. Die Ware ist in Wirklichkeit eine Bewegung des Kommodifizierens und Reichtum ist eine Bewegung des Reichtum-Schaffens oder des Bereicherns, eine Bewegung gegen-und-jenseits der Warenform, ein Kommunisieren. Genauer gesagt bedeutet der Übergang vom Anfang bis zum Ende dieses ersten Satzes einen Übergang von einem aktiven Bereichern („Herausarbeitung … kreativer Potenziale“) zu einem Substantiv, das nicht nur das Bereichern verbirgt, sondern auch seine eigene Dynamik als eine Bewegung der Kommodifizierung. Die Erscheinung auf die sich der Ausdruck „erscheint als“ bezieht, ist beständig umkämpft.

Also eröffnet der Ausdruck „erscheint als“ einen Raum der Hoffnung. Wir leben in einer Welt, in der wir mit dem Reichtum in der Form von Waren oder Geld, dem allgemeinen Äquivalent der Waren konfrontiert sind. Wenn der erste Satz des Kapitals uns sagt, dass es sich hierbei um eine Erscheinung handelt, sagt er uns, dass es wahr ist, aber auch, dass es unwahr ist, dass Reichtum mehr ist als dies, dass es einen Reichtum gibt, der jenseits seiner Form drängt. Wenn die Existenz des Reichtums als Waren eine Welt der Fremdbestimmung, eine Welt, in der die Entwicklung des Reichtums der menschlichen Fähigkeiten durch den Wert der Waren bestimmt ist, aufzeigt, dann macht uns das einfache „erscheint als“ auf die gegenwärtige Realität eines Drängens zur Selbstbestimmung aufmerksam [19] (die Vorbedingung für das Verfassen des ersten Satzes).

In diesen Eröffnungsworten wird die Krise als Thema gesetzt. Der Ausdruck „erscheint als“ sagt uns, dass die furchterregende Existenz des Reichtums in der Form von Waren nicht (oder nicht notwendigerweise) auf ewig bestimmt sein muss. Es gibt eine Nicht-Ewigkeit, eine Instabilität in der Existenzform des Reichtums. Bereits in diesem ersten Satz ist das Läuten der Totenglocke des Kapitalismus, die explizit erst ca. 700 Seiten später angeführt wird, zu hören. Vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet stellt der Ausdruck „erscheint als“ eine Bedrohung dar. „Was ist dieses ‚erscheint als‘?“, schreien die Kapitalisten, „Reichtum ist Geld und Waren, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen“. In dem Ausdruck „erscheint als“, liegt eine Drohung, etwas jenseits ihres Horizontes, jenseits ihrer Kontrolle.

Das, was jenseits ihrer Kontrolle liegt, ist das, was latent ist, der Reichtum, der nicht „[als] erscheint“, der nicht in die Warenform fällt, oder nicht vollständig in ihr aufgeht. Dies ist die Bedrohung. Offensichtlich birgt der erste Satz keine vollentwickelte Krisentheorie, aber er weist uns in eine bestimmte Richtung. Er weist uns auf eine Krisentendenz hin, die sich aus dem, das nicht erscheint, ableitet, die uns den Standpunkt vermittelt, von dem aus wir die Wörter „erscheint als“ aussprechen können. Reichtum, die Reichhaltigkeit menschlicher Kreativität ist die Krise ihrer eigenen Begrenzung – der Reichtum, der aus seiner eigenen Begrenzung überfließt, der sich weigert, begrenzt zu werden, drängt jenseits zu einer anderen Art der gesellschaftlichen Kooperation, hin zu einer freien Assoziation der Erschaffenden. [20]

Die von dem Ausdruck „erscheint als“ angekündigte Krise ist eine Krise der Transformation des Reichtums in Waren. Reichtum erscheint jetzt als ungeheure Warensammlung, aber dies wird es nicht ewig tun. Es wird dies nicht ewig tun, weil die Behauptung bereits ihre eigene Unwahrheit beinhaltet. Es ist bereits wahr, dass es in der Bewegung der Kommodifizierung/Totalisierung/Synthese/Schließung des Reichtums ein Bewegen in die entgegengesetzte Richtung, eine Enttotalisierung, [21] ein Auseinanderreißen, eine Entkommodifzierung, ein Bereichern, ein Kommunisieren, das die Krise der Warenform konstituiert. Es ist die letztere Form, die später im Kapital als „gesellschaftliche Produktionskräfte“ auftaucht.

5. „Erscheint als“ positioniert uns im Zentrum all dieser Entwicklungen, in der Mitte des Schlachtfeldes. Es gibt kein Versteck.

Wir lesen den Satz dreimal. Beim ersten Lesen ist es wahrscheinlich (wie wir es gesehen haben), dass wir einfach drüber hinweggehen, dass wir den Satz als wenig bedeutungsvoll behandeln. Wir lesen, dass „der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, […] als eine ‚ungeheure Warensammlung‘ [erscheint]“, denken, „natürlich tut er das“, und fahren fort, um die Ware zu analysieren. Anders ausgedrückt, fallen wir auf die Erscheinungen herein, die wir zu kritisieren glauben. Schlimmer noch: indem wir dem ersten Satz keine Bedeutung beimessen, partizipieren wir wirklich an der Erscheinung von Reichtum als Ware.

Wenn wir den Satz ein zweites Mal lesen, schreien wir vor Entrüstung. Wir verstehen das Grauen dessen, was Marx sagt: dass der unbegrenzte Reichtum des menschlichen Werdens in die Form einer ungeheuren Warensammlung gezwungen wird.

Marx hat uns direkt zur Vorstellung von Wissenschaft als Kritik geführt. Noch bevor irgendetwas über die Ware gesagt wurde, hat er sie als Objekt der Kritik konstituiert. Indem er uns sagt, dass Reichtum als Ware erscheint, fordert er uns dazu auf, diese Erscheinung zu kritisieren, zu versuchen zu verstehen wo dies herkommt, welche Beziehung zu den Kräften besteht, die es [den Reichtum in Form von Waren; Anm.Red.grundrisse.] hervorbringen. Marx sagt tatsächlich: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware“. Im selben Atemzug setzt er den Reichtum als Standpunkt der Kritik: der Reichtum der als Warensammlung erscheint und nicht erscheint, der Reichtum, der jenseits seiner gegenwärtigen Existenzform drängt. Kritik ist also die Selbstentdeckung dessen, was durch die Erscheinung verborgen ist.

Wenn wir den Satz ein drittes Mal lesen, schreien wir erneut: nicht nur mit Empörung gegen die Welt, sondern mit gegen uns selbst gerichtetem Entsetzen. Wie war es uns möglich, den Satz ein erstes Mal zu lesen, ohne zu schreien? Wie konnten wir das Entsetzen über die Transformation menschlicher Reichtümer in eine ungeheure Warensammlung einfach so hinnehmen? Wie konnten wir gegenüber dem Leiden, das der Satz wiedergibt, so unsensibel sein? Wir können nicht anders, als uns zu fragen, ob dies die Unsensibilität ist, die Auschwitz ermöglichte, [22] die es verhindert, Guantanamo zu schließen und die all den Hunger und all die Zerstörung der Welt ermöglicht. Und wir wissen, die Antwort lautet: ja.

Kritik wird zur Selbstkritik. Aber es handelt sich nicht nur um eine persönliche Selbstkritik, denn wir wissen, dass dieses Lesen-ohne-Schreien das allgemeine Verständnis des ersten Satzes des Kapitals wiedergibt. Eben genau weil der Satz „erscheint als“ sich nicht auf eine falsche, sondern auf eine richtige Erscheinung bezieht, stellt er nicht nur für die kapitalistische Gesellschaft sondern auch für uns selbst eine Herausforderung dar. Da die Erscheinung in dieser Gesellschaft über eine allgemeine Validität verfügt, leben wir auch in ihr, egal wie schlau oder revolutionär wir uns gerne sähen. Unser Leben innerhalb der Erscheinung drückt sich in der Lektüre des ersten Satzes aus. Die Kritik wird also nicht nur gegen die Existenz des Reichtums in der Warenform gerichtet, sondern auch gegen unsere eigene Art des Denkens (und tatsächlich auch gegen unsere eigene Existenzform). Die Aussage, dass der Standpunkt unserer Kritik der Reichtum ist, der jenseits der Warenform drängt, befreit uns nicht von den Erscheinungen, die durch diese Form hervorgebracht werden. Um wissenschaftlich zu denken, müssen wir uns gegen uns selbst wenden. Wenn wir sagen, „der Reichtum in diesen Gesellschaften erscheint als Waren“, erkennen wir an, dass wir innerhalb dieser Erscheinungen leben und stellen uns gleichzeitig gegen-und-jenseits dieser Erscheinungen, als Kritik der Erscheinungen. Wir anerkennen, dass unserer Anwesenheit in dieser Gesellschaft uns als selbst-antagonistisch konstituiert, als schizophren im allgemeinen Sinne des „Selbst-Gespalteten“. Aus diesem Grund ist jegliche Vorstellung revolutionärer Reinheit oder theoretischer Korrektheit absurd.

Aber es sind nicht nur wir. Auch Sie, Herr Marx. Es muss so sein. Marx lebte ebenfalls in dieser Welt der Erscheinungen in der die Existenz menschlichen Reichtums als Warensammlung einfach hingenommen wird. So wie er das Entsetzen über das, was geschieht, hervorhebt, gibt es gleichzeitig Momente, in denen er es als gegeben hinzunehmen scheint, Momente, in denen er sich auf die Welt der Formen (Ware – Geld – Kapital) zu konzentrieren scheint und sein Stehen-gegen-und-jenseits dessen, was, angefangen mit den ersten Worten des Buches, seiner Analyse ihren kritischen Zugang gibt, vergisst. Es ist unmöglich, das Kapital zu lesen ohne mit der Frage konfrontiert zu sein, „welcher Marx, welche Lektüre“?

Die Eröffnungsworte (das „erscheint als“) künden von einer Spannung, die unvermeidlich sowohl Marx als auch uns alle durchläuft. Selbstverständlich gibt es zwei Marxe, so wie ebenfalls von uns jeweils zwei gibt, aber die Spannung besteht nicht zwischen dem jungen und dem alten Marx (wie Althusser behauptete) sondern zwischen einer Spannung, die sich aus dem Antagonismus zwischen der Erscheinung und ihrer Grundlage ableitet. Hätte Marx seinen ersten Satz ausgepackt, hätte er vielleicht geschrieben:

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’, und da diese Erscheinung nicht einfach ein Fehler ist, sondern durch das Wesen dieser Gesellschaften hervorgebracht wird, folgt daraus, dass unmöglich ist, diesen Erscheinungen vollständig zu entfliehen, solange es den Kapitalismus weiterhin gibt. Wenn wir also diese Erscheinungen kritisieren, was wir dadurch tun, das wir sie einfach als Erscheinungen aufzeigen, weisen wir auch auf eine in uns bestehende Spannung zwischen unserer Existenz innerhalb dieser Erscheinungen und unserer Kritik der Erscheinungen als Erscheinungen hin. Erwartet also nicht, einen wahren Marx oder die richtige Lesart zu finden, wenn ihr dieses Buch lest: nehmt den Text vielmehr als eine Anregung, die Teil Eurer eigenen widersprüchlichen Existenz werden kann“.

Er hätte dies vielleicht schreiben können, er tat es aber nicht.

Resonanzen

Die hier entwickelte Argumentation ist ganz einfach: Marx’ Kapital beginnt mit dem Reichtum, nicht mit der Ware und die theoretischen und politischen Implikationen dieser Unterscheidung sind enorm.

1. Hier wird entgegengesetzt zu den Hauptströmungen der Kommentare zum Kapital argumentiert. Relativ wenige Kommentierungen erwähnen den ersten Satz überhaupt und von denen, die es tun, zieht keiner die Schlussfolgerungen, die hier vorgeschlagen werden. Es ist nicht meine Absicht, die anderen KommentatorInnen zu kritisieren, aber kurze Anmerkungen zu den drei einflussreichsten und herausragendsten Kommentierungen werden helfen, die Unterscheidungsmerkmale der hier vorgelegten Argumentation hervorzuheben.

David Harveys Marx’ Kapital lesen zitiert den ersten Satz auf der ersten Seite des ersten Kapitels (2011: 26) und macht auf die Bedeutung des Begriffs „erscheint als“ aufmerksam, der „darauf […hinweist], dass hinter der oberflächlichen Erscheinung noch etwas anderes vor sich geht“ (2011: 26). Er interpretiert den ersten Satz dahingehend, dass „Marx ausschließlich die kapitalistische Produktionsweise behandelt“ (2011: 26), [23]] was sich ziemlich von der hier vorgeschlagenen Interpretation unterscheidet, nämlich, dass sich die Bedeutung des ersten Satzes aus dem Umstand ableitet, dass Marx seinen Blick nicht auf den Kapitalismus begrenzt, sondern darüber hinaus drängt. In Einklang damit widmet Harvey der Frage des Reichtums keine Aufmerksamkeit und bewegt sich unmittelbar auf das Ende des Satzes, die Ware, zu. Zehn Seiten später fasst er seine Sicht auf den Anfang des Kapitals so zusammen: „Bisher ist der Gedankengang in etwa folgender: Marx erklärt, er wolle entschlüsseln, wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert. Er beginnt mit dem Begriff der Ware …” (2011: 37).

Michael Heinrichs beeindruckend klare Einführung in das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie: eine Einführung (2004) [24] zitiert den ersten Satz zu Beginn seines Kapitels über „Wert, Arbeit, Geld“ und geht dann unmittelbar weiter zur Ware, wobei er darauf aufmerksam macht, dass die Ware nur im Kapitalismus die typische Form des Reichtums ist. In einem weiteren Buch Wie das Marxsche Kapital lesen? Leseanleitung und Kommentar zum Anfang des Kapitals (Heinrich 2008; 50-54) widmet derselbe Autor einen ganzen Abschnitt mehrerer Seiten dem ersten Absatz des Kapitals. Nachdem er hervorgehoben hat (so wie wir es hier getan haben), dass „Viele Leser und Leserinnen … sich bei diesem Absatz nicht lange aufhalten“ werden wollen (Heinrich 2008; 50) macht er auf die Bedeutung des Ausdrucks „erscheint als“ aufmerksam, indem er es sowohl von „ist“ als auch von „scheint“ unterscheidet. Er hebt hervor, dass hier eine implizite Kritik von Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen enthalten ist. „Smith spricht vom Reichtum ganz unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform, was ihm später erleichtert, kapitalistische Verhältnisse als ‚natürliche’ zu charakterisieren.“ (Heinrich 2008; 52) Danach fährt er mit einer Erörterung der Ware fort, wobei er die Bedeutung dieses ersten Absatzes auf eine Einführung in das zentrale Thema reduziert: „Im Grunde sagt der erste Absatz nur aus, dass Marx seine Darstellung mit der Ware beginnt und dass er glaubt, dafür gute Gründe zu haben.“ (Heinrich 2008; 53) Weder kommt hier das zentrale Thema unseres Artikels, nämlich die Spannung zwischen Reichtum und Ware zur Sprache, noch wird die Frage aufgeworfen, was es Marx erlaubte, diese Äußerung zu tun. Heinrich führt die Implikationen seines Verständnisses der Ware und der Werttheorie aus: „Mit der Werttheorie will Marx eine bestimmte gesellschaftliche Struktur aufdecken, der die Individuen folgen müssen, egal was sie sich dabei denken.“ (Heinrich 2004; 44, kursiv im Original)

Harry Cleavers wichtiges Buch Das Kapital politisch lesen (1979/2011) steht der hier entwickelten Interpretation näher. Er versteht die Logik der Warenform nicht als unausweichliche Struktur, sondern als Kampf: „Es gibt sicherlich gewisse Regelmäßigkeiten oder „Gesetze“ des Warentausches, ebenso wie es eine Logik in der Warenform selbst gibt, aber diese Logik und diese Gesetze sind nur diejenigen, deren Durchsetzung dem Kapital gelingt. Was Marx uns im Kapital zeigt, sind die vom Kapital festgelegten „Spielregeln“. (Cleaver 2011; 165) Obgleich er die Warenform als Kampf versteht, bleibt Cleaver jedoch der traditionellen Auffassung verhaftet, dass das Kapital mit der Ware beginnt. Er zitiert den ersten und den zweiten Satz (1979, 175) und fährt dann fort: „Er beginnt mit der Ware, weil sie die elementare Form des Reichtums in der kapitalistischen Gesellschaft ist. Wenn wir den Rest des Kapitals lesen, entdecken wir, warum der gesamte Reichtum in der bürgerlichen Gesellschaft die Warenform annimmt.“ (Cleaver 2011; 175) Obgleich also Cleaver die Bedeutung der Sichtweise betont, die Kategorien Wert, Geld, Kapital und so weiter als Kategorien des Kampfes zu sehen, bleibt doch der Kampf gegen diese Formen der Analyse des Kapitals rein äußerlich. Im Gegensatz dazu wird hier entwickelt, dass bereits die Eröffnungsworte „der Reichtum“ als Ankündigung des antikapitalistischen Kampfes angesehen werden müssen. Der Kampf ist kein Ergebnis des Aktivismus, der von außerhalb der Herrschaft kommt, sondern ist vielmehr bereits in die Herrschaftsbeziehung selbst eingeschrieben und wohnt unserer Alltagserfahrung inne. Die Kategorien selbst erzählen ihre Geschichte der Revolte. [25]

Es würde unserer Argumentation nicht helfen, dieser Diskussion noch weitere Autoren hinzuzufügen. Andere Kommentatoren des Kapitals nehmen die hier vorgelegte Perspektive nicht ein. Soweit mir bekannt, stellt niemand die Frage danach, was es Marx erlaubt hat, die von ihm analysierten Erscheinungen zu durchbrechen und niemand stellt das Verhältnis zwischen Reichtum und Ware als eines des aktiven Kampfes dar. Die praktisch universelle Position ist, dass Marx mit der Ware beginnt [26] und die allgemeine Sicht scheint die von Harvey artikulierte zu sein, nämlich, „Marx erklärt, er wolle entschlüsseln, wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert.“ (Harvey 2010; 37) Da diese Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom menschlichen Willen funktionieren, scheint daraus zu folgen, dass, wie Heinrich es ausdrückt, ihnen „die Individuen folgen müssen, egal was sie sich dabei denken.“ (Heinrich 2004; 44, kursiv im Original)

2. Es ist nicht das Ziel, die richtige Lesart von Marx herauszufinden oder zu entdecken, was er wirklich gemeint hat. Es ist von sekundärem Interesse, ob Marx sich aller Implikationen, dessen was er schrieb, bewusst war. Viel wichtiger ist, dass wir über einen Text sprechen, der einen ungeheuren Einfluss auf die Formung antikapitalistischen Kampfes ausgeübt hat. Da sich die Formen des Kampfes ändern, müssen wir seine anhaltende Bedeutung beständig hinterfragen und die Antwort auf diese Frage ist untrennbar mit dessen Interpretation verbunden. Es gibt keine ahistorische oder gar unpolitische Möglichkeit das Kapital zu lesen.

Zwischen der traditionellen Lesart des Kapitals (die annimmt, dass Marx mit der Ware beginnt und dass sich das Buch darum dreht, die „Gesetzmäßigkeiten“ des Systems zu erklären) und einem Begriff revolutionärer Veränderung, der die Revolution in der Zukunft verortet und sie mit der Übernahme der Staatsmacht und dem Ersatz eines Systems durch ein anderes assoziiert, hat es eine symbiotische Beziehung gegeben. Diese Sichtweise der Revolution ist durch die Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts und die Dringlichkeiten der Gegenwart in großen Misskredit geraten. In nur wenigen Ländern gibt es eine Partei, die auch nur entfernt über die Aussicht verfügt, die „zukünftige Revolution“ anzuführen.

Das zentrale Thema ist Schließung. Wenn wir mit der Ware beginnen, stellen wir uns bereits innerhalb des Systems, das wir kritisieren. Was sich daran anschließt, kann als machtvolle Analyse des Gefängnisses angesehen werden, innerhalb dessen wir gefangen sind. Dieses Gefängnis ist durch eine hochgradig strukturierte Kette gesellschaftlicher Formen konstituiert. Beginnend mit der Warenform (die Warenform als Form gesellschaftlicher Verhältnisse), führt uns Marx zu immer entwickelteren Formen der Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich voneinander ableiten: die Wertform aus der Warenform, die Geldform aus der Wertform, die Kapitalform aus der Geldform und so weiter. [27] Marx gibt sich große Mühe (insbesondere in seinen Kritiken an Proudhon), die Koppelungen zwischen den Formen zu erklären, wie etwa, dass es wenig Sinn ergibt, von einer Gesellschaft zu träumen, die auf dem Warentausch basiert, aber nicht über Geld verfügt, oder eine Gesellschaft mit Geld aber ohne Kapital. Die unterschiedlichen Formen hängen eng miteinander zusammen um eine Totalität zu bilden. Wenn wir da aufhören, dann haben wir eine Analyse, die darauf hindeutet, dass die einzige Art diese Totalität zu brechen, darin besteht, es als Ganzes zu tun, dass Versuche, bestimmte Aspekte zu brechen, aufgrund der integrierenden Macht des Ganzen von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind.

Wenn wir das Kapital als exakte Analyse eines geschlossenen Systems auffassen, kann uns das in zwei Richtungen führen. Die erste führt hin zur Partei, die die zukünftige Revolution anführen wird: die einzige Art und Weise die Totalität als Ganzes zu brechen besteht im Aufbau einer starken, vereinten revolutionären Partei. Alternativ, und ich denke, dass diese in den letzten Jahren die dominante Tendenz war, löst sich die Lesart des Kapitals zunehmend von jeder Erwägung der Revolution: da die Revolution total sein muss, es aber keine Partei gibt, die die Perspektive hat, sie auszuführen, wird die Lektüre des Kapitals einfach deswegen als wichtig angesehen, um zu verstehen, wie das System funktioniert. Eine exakte Lesart des Kapitals kann sehr leicht mit einem apolitischen Pessimismus einhergehen, der von der tatsächlichen Bewegung des antikapitalistischen Kampfes sehr weit entfernt ist. Die Lektüre des Kapitals und der antikapitalistische Kampf treiben einfach auseinander.

Der Widerspruch zur traditionellen Sichtweise, dass Marx mit der Ware beginnt, ist nicht nur politischer Natur. Es ist textlicher Natur. Es stimmt ganz einfach nicht, dass Marx mit der Ware beginnt: er beginnt mit dem Reichtum. Es handelt sich nicht darum, ihn dazu zu zwingen, dass er das sagt, was wir von ihm möchten. Dort steht es schwarz auf weiß. Marx beginnt mit dem Reichtum.

Marx beginnt nicht damit, dass er uns in das System versetzt, das wir kritisieren. Im Gegenteil, er beginnt mit einem Reichtum (Reichhaltigkeit), der nicht restlos in der Warenform aufgeht. Bevor er uns überhaupt in das engsitzende Gewebe kapitalistischer gesellschaftlicher Formen bringt, stellt er uns eine Kategorie vor, die unpassend ist und bezieht seinen Standpunkt auf ihr. Dies schwächt die Stärke der Ableitung der gesellschaftlichen Formen nicht, aber es lässt uns diese Formen als Prozesse verstehen, als Form-Prozesse, als Formierungsprozesse. [28] Die kapitalistische Totalität ist also ein Prozess der Totalisierung, ein beständiger Kampf, die reine Unruhe des Lebens [29] der Logik des Kapitals zu unterwerfen, jegliche menschliche Aktivität in eine enge gesellschaftliche Kohäsion einzubinden. Was wie ein eng gewebtes Gefängnis der Kapitallogik erscheint, muss vielmehr als machtvolle und kohärente Angriffsdynamik verstanden werden, aber ein Angriff, der seine eigene Krise in sich trägt, ein Angriff, den wir nur deshalb verstehen können, weil er nicht vollständig effektiv ist. Alle gesellschaftlichen Formen sind Prozesse des Formierens eines aufsässigen Inhalts und diese Inhalte passen sich einfach nicht ihren jeweiligen Formen an: Reichtum passt sich nicht der Warenform an, Gebrauchswert passt sich nicht der Wertform an, konkrete Arbeit passt sich nicht der abstrakten Arbeit, die Fähigkeit zu arbeiten, passt sich nicht der Ware Arbeitskraft an, die Produktionskräfte passen sich nicht der Kapitalform an und so weiter. [30] Diese Formen sind so viele Prokrustesbetten, aber Prokrustesbetten, die inhärent fehlerhaft sind, die unfähig sind, ihre Inhalte vollständig zu formen. [31] In jedem der Fälle fließt der Inhalt über die Form hinweg, existiert er nicht nur in sondern auch gegen und jenseits seiner Form.

Das Kapital, beginnend mit seinen Eröffnungsworten, ist eine Erzählung, die die Kräfte des Unpassendseins gegen die Kräfte einer unterdrückerischen gesellschaftlichen Kohäsion in Stellung bringt. Es beginnt mit der Würde der Rebellion, nicht mit dem Horror der Herrschaft. Reichtum, menschliche Kreativität, unsere absolute Bewegung des Werdens: dies ist sein Thema. Marx führt uns in eine Welt des Unpassenden, in der unsere Kreativität eingeschlossen ist, aber niemals vollständig eingeschlossen ist, innerhalb der Gesetze kapitalistischer Entwicklung, in der die gesellschaftlichen Formen, die uns in Ketten legen würden, ihre eigene Krise in sich tragen. Das Buch eröffnet eine Erkundung der Möglichkeiten und der Schwierigkeiten des Denkens und Erschaffens einer Revolution durch vielfältige Revolten dessen, was nicht in die kapitalistischen Formen passt, die vielzählige Perforation dieser Formen. Die Party ist vorbei, die zukünftige Revolution tot, das Brechen des Kapitals hier und jetzt mittels einer Million Risse ist eine verzweifelte Notwendigkeit und geschieht bereits. Deswegen ist so wichtig, das Kapital zu lesen. Beginnend mit dem ersten Satz.

Bibliographie

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  • De Angelis, Massimo (2007) The Beginning of History: Value Struggles and Global Capital, London
  • Gunn, Richard (1992) Against Historical Materialism: Marxism as a First-order Discourse, in Bonefeld, Werner, Richard Gunn and Kosmas Psychopedis (eds) (1992) Open Marxism, Vol. 2. Theory and Practice, London, Seite 1-45
  • Hardt, Michael and Antonio Negri (2010) Common Wealth: das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main
  • Harvey, David (2011) Marx’ Kapital lesen: ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger. Aus dem Amerikanischen von Christian Frings, Hamburg
  • Hegel, Georg W. F. (1966) Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main
  • Heinrich, Michael (2004) Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart
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  • Holloway, John (2002/ 2010) Change the World without taking Power, London, New edition 2005.
  • Holloway, John (2002) Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster
  • Holloway John (2010) Crack Capitalism, London
  • Lukács, Georg (1923) Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxistische Dialektik, Berlin
  • Marx, Karl (MEW 13) Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin, Seite 3 - 160
  • Marx, Karl (MEW 23) Das Kapital, Bd. 1, Berlin
  • Marx, Karl (MEW 42) Grundrisse, Berlin
  • Perelmann, Michael (2011) The Invisible Handcuffs of Capitalism, New York
  • Rozitcher, León (2003) Freud y los Problemas del Poder, Buenos Aires
  • Sohn-Rethel, Alfred (1972) Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, revidierte und ergänzte Ausgabe, Frankfurt am Main
  • Tischler, Sergio (2014) Detotalization and Subject. On zapatismo and critical theory, South Atlantic Quarterly, no. 113:2
  • Vaneigem, Raoul (2012) Lettre à mes Enfants et aux Enfants du Monde à Venir, Paris
  • Wright, Steve (2005) Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin und Hamburg

[1Auch der erste Satz des Werks „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, das 1859, acht Jahre vor der Erstausgabe des „Kapitals“, zum ersten Mal erschien, sollte beachtet werden: „Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein“ (MEW 13; 15).

[2Auch der erste Satz des Werks „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, das 1859, acht Jahre vor der Erstausgabe des „Kapitals“, zum ersten Mal erschien, sollte beachtet werden: „Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein“ (MEW 13; 15).

[3Weiter unten erörtere ich einige der Kommentare, die ihn erwähnen.

[4Dieser Frage geht folgender Absatz Holloways voraus: „Jedoch ist diese Vorstellung von Reichtum nicht zwingend. Für des Englischen Mächtige lässt sich dies vielleicht einfacher nachvollziehen, wenn wir uns auf den ursprünglich von Marx verwendeten Begriff, „Reichtum“, der statt mit „wealth“ genausogut mit „richness“ [Reichtum/Pracht/Großartigkeit/Fülle/Reichhaltigkeit oder ggf. Vielfalt; Anm.d.Ü.] hätte übersetzt werden können: Die Fülle/Reichhaltigkeit der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’. Es gibt im Englischen sicher keine scharfe Trennlinie zwischen den Begriffen Fülle/Reichhaltigkeit und Reichtum, aber beim Begriff Fülle/Reichhaltigkeit/Vielfalt fällt uns doch dessen breiteres Bedeutungsspektrum ins Auge: ein prächtiger Wandteppich, eine bereichernde Unterhaltung, ein erfülltes Leben oder eine bereichernde Erfahrung, eine Fülle verschiedener Farben.“ Sind auch im Deutschen die Bedeutungen der Begriffe zumeist enger und spezifischer gefasst, lässt sich hieran doch zumindest die Intention nachvollziehen: Reichtum ist, auch in Marxens Sprachgebrauch, nicht zu reduzieren auf die Gleichsetzung mit Geldbesitz, sondern umfasst auch Bedeutungen, die das Gemeinsame der menschlichen Spezies charakterisieren. Da zudem auch der Begriff Wohlstand heutzutage in erster Linie mit den materiellen Realisierungen des Sozialstaates verknüpft wird und nicht etwa mit Vorstellungen des Guten Lebens, des Buen Vivir, wie er in indigenen lateinamerikanischen Communities entwickelt wurde, bietet er sich für eine einfache Gegenüberstellung zum Begriff Reichtum, wie er hier gedacht ist, nicht an. [Anm.d.Ü.

[5Nach meiner Wahrnehmung sind die Grundrisse ein Rohentwurf, der uns hilft, Licht auf die Interpretation des Kapitals zu werfen. Die Veröffentlichung der Grundrisse spielte eine wichtige Rolle dabei, die traditionelle Lesart des Kapitals infragezustellen. Allerdings bin ich nicht der Meinung, dass man einen Widerspruch zwischen den „revolutionären“ Grundrissen und dem „weniger revolutionären“ Kapital ausmachen kann.

[6Es ist offensichtlich, dass Marx hierbei nicht an den Warentausch denkt. In einem sehr hilfreichen Kommentar zu einer früheren Version dieses Artikels hat Richard Gunn hervorgehoben, dass das deutsche Original dem „universellen Austausch“ einen größeren Stellenwert einräumt und schlägt deshalb vor, den „universellen Austausch“ als gegenseitige Anerkennung aufzufassen und damit entsprechend zu vertreten: „Reichtum IST gegenseitige Anerkennung“.

[7Es handelt sich in der Tat um einen gemeinsamen Reichtum („common wealth“). Diese Wortwahl stimmt mit dem Titel des dritten Buches von Hardt und Negris Trilogie überein (2010), aber die Ausformulierung der Idee führt sie in eine andere Richtung: sie stellen den im ersten Satz des Kapitals aufgeworfenen Widerspruch zwischen gemeinschaftlichem Reichtum („common wealth“) und der Warenform nicht in den Mittelpunkt.

[8Marx, Karl, „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW Bd. 42, S. 396.

[9Ähnlich formuliert Vaneigem 2012, 14: „Das beste Heilmittel gegen diesen Mangel an Leben, der die Krankheit des Überlebens ist, besteht in der Entdeckung des eigenen Reichtums an Freude, an Erschaffung, an Liebe, an Begehren, trunken davon sich von der Unterdrückung durch die Ware zu befreien“.

[10[Anm.d.Ü.: Holloway weist mit dieser Schreibweise auf den Unterschied zwischen herrschen (= to rule) und vorherrschen (= to prevail) hin: Der Begriff vorherrschen ermöglicht es, an eine friedliche Koexistenz mit anderen Produktionsformen zu denken, wohingegen der Begriff herrschen darauf hinweist, dass jegliche andere Produktionsform nur im Antagonismus zur kapitalistischen existieren kann. Letztere Version scheint mir exakter zu sein.]

[11Massimo De Angelis (2007) spricht von der Bedeutung anderer Werte im Gegensatz zum Wert der Waren, aber er schreibt dieses einer Externalität gegenüber dem kapitalistischen Wert zu. Ich begreife dieses Verhältnis vielmehr als ein inhärent antagonistisches. Die Ware existiert nicht einfach neben anderen Formen des Reichtums: sie ist vielmehr eine beständige Aggression, ein beständiger Antrieb alle anderen Formen des Reichtums aufzusaugen.

[12MEW 42, 396

[13Ich danke Richard Gunn dafür, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hat.

[14Siehe Heinrich (2008: 51) zur Diskussion über den Unterschied zwischen „erscheint“ und „scheint“ in diesem Zusammenhang.

[15Siehe Gunn (1992: 14) zum Begriff der Form als Existenzweise.

[16Dies ist das zentrale Thema in Lukács’ immer noch wundervollem, aber problematischem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein (1923).

[17Frz. Für: vollendete Tatsache (Anm.d.Ü).

[18Das Schlachtfeld des geistigen Eigentums ist gegenwärtig ganz offensichtlich. Allgemeiner ausgedrückt ist die Kommodifizierung der Reichhaltigkeit (oder die Einhegung der Allmende, wie sie auch häufig bezeichnet wird) eine erschreckend blutige Schlacht, die den Kern heutiger menschlicher Erfahrung ausmacht.

[19Ich danke meinem Freund Sergio Tischler für diese Formulierung.

[20Marx bezeichnet dies auch als „Produktionskräfte“, ein Begriff, der von der nachfolgenden Tradition des Marxismus in einen Ausdruck der Erstarrung verändert wurde, der aber besser als der Antrieb der Menschheit zur „absoluten Bewegung des Werdens“ verstanden werden sollte.

[21S. Tischler zur Frage der Enttotalisierung (2014).

[22Dies ist einfach nur eine Wiederholung von Adornos Diktum: „Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod.” (1966, 355)

[23Ich weiche hier von der deutschen Übersetzung ab, da das vorliegende Original folgendes Zitat vermerkt: „[…] Marx is exclusively concerned with the capitalist mode of production“ (2010:15). Dies wurde im Deutschen folgendermaßen wiedergegeben: „Es geht ihm nicht um antike Produktionsweisen, sozialistische Produktionsweisen oder gar Mischformen, sondern um die kapitalistische Produktionsweise in ihrer ziemlich reinen Form“ (2011: 26). [Anm.d.Ü.

[24Heinrichs Buch wurde von meinem Freund Werner Bonefeld (im Klappentext) als „die beste und umfassendste Einführung in das Marxsche Kapital, die es gibt“, gepriesen. Ich habe keinen Anlass, diese Beschreibung infragezustellen, denn die Ausführung über das Kapital sind extrem klar, aber ich teile die Interpretation, die Heinrich vorlegt, nicht.

[25Siehe meinen Kommentar zu Cleavers Ablehnung der konkreten Arbeit als Kategorie des Kampfes in Holloway (2002: 217-218).

[26Die herausragende Ausnahme, die einzige die ich finden konnte, ist ein Kapitel von León Rozitchner über Kooperation und den produktiven Körper bei Marx und Freud, wo er betont, dass Marx das Kapital nicht mit der Ware, sondern mit dem Reichtum beginnt und er bei dem Begriff des Reichtums explizit auf den Abschnitt der Grundrisse verweist, der hier zitiert wird (MEW 42; 88, 98). Er entwickelt daraus jedoch nicht den Antagonismus im Verhältnis zwischen Reichtum und Ware, der hier betont wurde. Ich danke Bruno Bosteels aufs Herzlichste dafür, dass er mich auf Rozitchners Arbeit aufmerksam gemacht hat.

[27Die von Autoren wie Reichelt, Backhaus, Postone und Heinrich vorgelegte „neue Marx-Lektüre“ ist wahrscheinlich die differenzierteste Entwicklung dieses Ansatzes. S. Bonefeld (2014).

[28S. Sohn-Rethel (1972), Holloway 1979/1991, 2002, 2010 zu Formen als Form-Prozessen.

[29S. Hegel zur „reinen Unruhe des Lebens“ (1966; 27).

[30Und, so könnte man hinzufügen: „Unsere Träume passen nicht in Eure Wahlurnen“.

[31Ich nehme zur Kenntnis, dass Michael Perelmann (2011) die Metapher des Prokrustesbett zur Beschreibung der ökonomischen Institutionen und Praxen einsetzt, die Menschen dazu zwingen, die Disziplin des Marktes zu akzeptieren. Entscheidend ist jedoch, dass Marx uns dieses Prokrustesbett (die Warenform) vermittelt durch dessen eigene Krise (der Reichtum, der nicht passt) vorstellt.

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