ZOOM 7/1997
November
1997

Das Land der offenen Fragen

Zwischen Massensterben und „Rest-Terrorismus“

Die internationale Gemeinschaft müsse „Mittel und Wege“ finden, um die Gewalt in Algerien zu beenden, meinte UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Hat ihm jemand zugehört?

Im bald sechsjährigen bewaffneten Konflikt Algeriens, dessen gebräuchliche Bezeichnung als „Bürgerkrieg“ zunehmend absurder wirkt, ist es doch recht eigentlich ein Krieg etablierter und subversiver Kräfte gegen die Bevölkerung, war der vergangene August bei weitem der schlimmste, der blutigste und barbarischste Monat. Aufgrund zuverlässiger Quellen und laut Augenzeugen starben in dieser Zeit rund 3.000 Menschen. Die Regierung nennt immerhin noch die Zahl von 1.000 Opfern, ohne eigene Verluste mitzurechnen: Die Zahl der getöteten Sicherheitskräfte wird stets verschwiegen. Die Leichen massakrierter DorfbewohnerInnen werden in aller Heimlichkeit auf Friedhöfen Algiers verscharrt.

Wer tötet wen?

Anfang 1992 wurde der demokratische Prozess von der Armee unter dem Oberbefehl des damaligen Verteidigungsministers, General Khaled Nezzar, abrupt unterbrochen. Danach begann die Jagd auf Mitglieder und AnhängerInnen des mittlerweile verbotenen Front Islamique du Salut (FIS), des absehbaren Siegers von Parlamentswahlen, deren zweiten Wahlgang das Militär gar nicht mehr zuliess. Mehr als 40.000 angebliche Islamisten wurden in Wüstenlagern im Süden des Landes eingesperrt. Diejenigen, welche fliehen konnten, griffen zu den Waffen und eröffneten in den größeren Städten des „Algérois“, der Region im Umkreis der Hauptstadt Algier, den Aufstand. Kämpfer der Armée Islamique du Salut (AIS), des auf etwa 20.000 Mann geschätzten bewaffneten Arms des FIS und des Groupe Islamique Armé (GIA), dem insgesamt rund 3.000 Mann angehören sollen, ermordeten Journalisten, Polizisten und andere Kader der Staatsverwaltung, sie entführten Diplomaten und erpressten „Revolutionssteuern“ von Händlern. Die Ordnungsmacht reagierte darauf mit der Verschleppung wirklicher oder vermeintlicher Islamisten, mit Folter und summarischen Hinrichtungen. Im Osten und Westen des Landes rief die AIS „befreite Zonen“ aus.

Ahmed Benaicha, AIS-Kommandant der westlichen Region und einer der meistgesuchten Männer Algeriens, für dessen Ergreifung das Regime eine Prämie von umgerechnet über 100.000 Franken ausgesetzt hat, empfing kürzlich einen Newsweek-Reporter in seinem Hauptquartier an der Mittelmeerküste und erklärte ihm mit der „heiteren Gelassenheit eines, der sich sicher fühlt“, wie der Reporter notierte: „Wir kontrollieren dieses Land, es ist das Militär, das Angst hat, nicht wir.“ Und in der Tat haben es die Sicherheitskräfte nach schweren Verlusten aufgegeben, das ganze Land kontrollieren zu wollen. Sie zogen sich in ihre Kasernen zurück und ziehen nur zu Strafexpeditionen gegen einzelne Dörfer aus, die als islamistische Hochburgen gelten. Um die Absenz der Ordnungskräfte wettzumachen, organisierte und bewaffnete das Regime sogenannte Selbstschutzmilizen, in der Regel Arbeitslose und Pensionäre. Ihr Sold entspricht ungefähr dem Lohn eines mittleren Verwaltungskaders. Mit diesen etwa 100.000 Milizionären wurde nicht nur der Krieg „privatisiert“, sondern auch die Gewaltspirale beschleunigt. Auf die Angriffe der GIA-Horden antworten die Milizen jetzt mit noch größerer Brutalität. Gewalt wird mit Gegengewalt beantwortet, auf den Terror folgt der Horror.

Ob der Terror immer allein von Islamisten ausgeht, ist gar nicht klar. Es gibt auch offensichtlich ökonomisch motivierte Attentate, die ihnen opportunerweise zugeschrieben werden und die eher die Handschrift einer den Import und Export kontrollierenden Mafia tragen. Sie setzt sich zusammen aus ehemals hochrangigen Militärs und Kadern der einstigen Staatspartei FLN (Front de Libération National), Exministern oder deren Strohmännern. Ihre Geschäfte machen sie auf den ganz überwiegend importabhängigen Märkten für Agrarprodukte, Nahrungsmittel (über sechzig Prozent des Bedarfs) und Pharmazeutika sowie mit Waffen. Zu ihren Opfern zählte beispielsweise ein Apotheker in Algier, der überglücklich war, noch am Leben zu sein, nachdem ein von ihm gekaufter Container mit Medikamenten im Hafen verschwunden war und man ihn telefonisch vor weiteren Medikamentenimporten gewarnt hatte. Oder der Besitzer einer großen Konfiserie in Blida, der sein Unternehmen aufgab, nachdem seine eine Woche zuvor entführte Tochter wieder freigelassen wurde.

Warum intervenieren die Ordnungskräfte nicht?

Die Armee ist lange nicht so eine kompakte Einheit, wie sie es glauben machen will. General Khaled Nezzar wurde offiziell in den Ruhestand versetzt, faktisch aber von der Macht verdrängt. Zwei Lager liegen miteinander im Streit und teilen sich vermutlich die Macht. Die Organisation und Effizienz des Militärs leidet entsprechend darunter. Es gibt keinen Verteidigungsminister (mehr), das Amt bekleidet in Personalunion der gegenwärtige Präsident der Republik, General Liamine Zéroual, der mit dem Etikett eines „Versöhnlers“ behaftet ist. Generalstabschef Maussade Lamari dagegen gilt als der „éradicateur“, der Vernichter, weil er gegen jegliche Verhandlung mit den Islamisten eintreten und deren totale Eliminierung vertreten soll. Ihm untersteht allerdings nicht die Staatspolizei, eine Eliteeinheit der besttrainierten und bestausgerüsteten Soldaten. An deren Spitze wurde erst im Sommer General Tayeb Derradji berufen, ein enger Verbündeter Zérouals. Er löste General Maussade Touati ab, einen Alliierten Lamaris, was in Militärkreisen gar nicht gern gesehen wurde. Denn Derradji gilt als „Politkopf“, und das heißt in diesem Fall als Befürworter von Verhandlungen mit den Islamisten.

Präsident General Liamine Zéroual

Die einfachen Soldaten sind hochgradig demoralisiert. Zum großen Teil werden die jungen Rekruten zwangsweise einberufen und müssen dann die Rache des Gegners fürchten. Diejenigen, welche sich der Einberufung entziehen oder desertieren konnten, müssen, einmal nach Hause zurückgekehrt, damit rechnen, von den Islamisten eingezogen zu werden. Die Offiziere kennen seit sechs Jahren nur noch das Kasernenleben, sie leben getrennt von ihren Angehörigen, die ihrerseits in den städtischen Quartieren unter stetiger Bedrohung stehen. Nur die hochrangigen Militärs und die Würdenträger des Regimes geniessen mit ihren Familien den Schutz der Bunker von Sidi Ferruch und des „Club des Pins“, den beiden Badeorten an der Küste, zwanzig Kilometer westlich von Algier.

Warum die Massaker im „Todesdreieck“?

Die Spaltung der Armee beruht nicht nur auf der Verhandlungsbereitschaft des einen und der Unversöhnlichkeit des anderen Lagers gegenüber den Islamisten. Widersprüche tun sich auch angesichts des nunmehr im Eiltempo vollzogenen IWF-Strukturanpassungsprogramms auf, mit dem unter anderem einer Staatsschuld begegnet werden soll, die seit Beginn des bewaffneten Konflikts von 27 Milliarden (1991) auf über 40 Milliarden Dollar angestiegen ist. Die Auflagen der Währungshüter betreffen vor allem das „Algérois“ mit dem zu schrecklicher Berühmtheit gekommenen „Todesdreieck“. Hier befindet sich sowohl die größte Konzentration von Militärs als auch von bewaffneten islamischen Gruppen. Und hier wird das Gros der Dorf-Massaker verübt, die das Regime nur allzu gern summarisch den „islamistischen Terroristen“ anlastet.

Dabei liegen dem Blutbad offensichtlich wirtschaftliche Faktoren zugrunde (siehe WoZ Nr. 36/97). Denn just in dieser Region, die die fruchtbarsten Zonen des Landes umfasst, sind gigantische Grundstücks- und Immobiliengeschäfte im Gange, deren Nutznießer wieder einmal diejenigen sein werden, die seit der algerischen Unabhängigkeit (1962) bereits riesige Vermögen angesammelt haben. Laut einem kürzlich bekanntgewordenen Regierungsprojekt sollen nämlich 2,8 Millionen Hektar dieses staatseigenen Kulturlandes privatisiert werden. Die Kleinbauern, die es bisher bewirtschafteten, konnten von den Erträgen knapp ihre Familien ernähren, haben aber schwerlich die Mittel, um demnächst ihren Boden zu kaufen. Noch sind sie den Grundstücksspekulanten im Weg. Aufgrund des herrschenden Terrors fliehen sie jedoch bereits in Scharen in die Städte, nur um sich dort in das Heer der Arbeitslosen einzureihen.

Warum wird die petrochemische Infrastruktur nicht angegriffen?

Erdöl und Erdgas sind Algeriens großer, praktisch einziger Reichtum, sie erbringen mehr als neunzig Prozent der Exporteinkünfte. Einer trotz steigender Erdölprofite rapid verelendenden Bevölkerung versprach Präsident Zéroual diesen Sommer die Investition eines Teils der Gewinne zur Schaffung von 1,2 Millionen Arbeitsplätzen (bei einer Arbeitslosenrate von fast dreißig Prozent) und zum Bau von 800.000 Wohnungen.

Die Erdölindustrie machte einen gewaltigen Sprung nach vorn, als 1986 ein Gesetz erlassen wurde, das der exklusiv mit der Ausbeutung von Rohstoffen beauftragten staatlichen Firma Sonotrach erlaubte, Verträge mit ausländischen Firmen zur gemeinsamen Förderung von Öl und Gas abzuschliessen. Dieses Gesetz wurde 1991 dahingehend erweitert, daß die Ausbeutung der Erdöl- und Erdgasvorkommen nun direkt den internationalen Multis überlassen werden kann.

Algeriens ausländische Partner, vorab die US-amerikanischen, französischen und britischen Firmen, welche sowohl in die Infrastruktur zur Förderung investierten als auch Verträge zum Kauf von Erdöl und -gas abschlossen, hatten bei Ausbruch des Konflikts allen Grund, beunruhigt zu sein: Weder die Förderanlagen noch das Personal waren nämlich ausreichend vor Sabotageaktionen der islamischen Guerilla geschützt. Doch äußerst diskret und effizient ist es den Unternehmen gelungen, das Sicherheitsproblem mittels politischer Entscheidungen zu entschärfen: Die USA applaudierten ostentativ der Schaffung einer „Parlamentarischen Delegation des FIS im Ausland“; Paris und London empfingen Abgeordnete der Heilsfront in allen Ehren. Solcher Goodwill gegenüber der islamischen Führung hat bestimmt dazu beigetragen, daß Sabotageaktionen des in der südlichen Sahara präsenten GIA verhindert und die Interessen ausländischer Firmen gewahrt werden konnten.

Gleichzeitig haben Firmen wie Texaco, Agip, Exxon und Total mit raffinierten Sicherheitsvorkehrungen ihre Firmengelände geschützt und das Personal in hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten Compounds untergebracht. Ausländische Söldner wurden für die Bewachung der Unterkünfte und des Betriebsgeländes angeheuert. Die Belegschaft fliegt auch schon längst nicht mehr via Algier nach Europa, sondern startet nunmehr in Hassi Messaoud, einem 800 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Ort, der zur Wirtschaftskapitale des Landes avanciert ist. Hier treffen sich die Chefs der Ölkonzerne; hier landet auf dem bestgeschützten Flugplatz des Landes regelmäßig der Privatjet des ehemaligen US-Präsidenten George Bush, der mit der Firma Bekter verbunden ist, die verantwortlich für Konzeption und Ausführung des „Gazoduc Maghreb-Europe“, der von Algerien über Marokko nach Spanien führenden Gasleitung, zeichnet.

Dennoch: Sieht man einmal von den heute schier unangreifbaren Firmengeländen ab, gibt es keine schlüssige Erklärung dafür, warum die Relaisstationen der durch unwegsame Wüstenzonen führenden Gaspipeline nicht zum Angriffsobjekt islamischer Gruppen werden und es bisher nur einen einzigen Anschlag, vor drei Jahren, gegen eine Pumpstation in der Nähe von Batna gegeben hat.

Demonstrantinnen mit Fotos ermordeter Angehöriger

Warum übt das Ausland keinen Druck auf Algerien aus?

Der algerische Krieg hat kein Gesicht, keine Augenzeugen, keine vor Ort recherchierenden Reporter. Seit das Fernsehen in den USA wesentlich zur Bewußtseinsbildung der Bevölkerung im Vietnamkrieg beitrug, haben die Industrienationen daraus ihre Lehren gezogen und die Information im Golfkrieg entsprechend zensuriert und gelenkt.

Auch das algerische Regime hat die Nachrichten monopolisiert. Die staatlichen Zensoren haben ihre Büros gleich in den Druckereien eingerichtet. Es gibt zwei staatliche-offizielle Medien im Land, das Fernsehen und die Nachrichtenagentur, die allein im Dienst der herrschenden Macht stehen und selbst die noch legalen Parteien ignorieren. Letztere erhalten allenfalls noch Unterstützung von den Privatmedien, die dabei allerdings mit der dauernden Drohung leben müssen, eingestellt zu werden. Nicht einmal die Befürworter von Verhandlungen mit Teilen der islamischen Opposition, zu denen immerhin der Präsident selbst gezählt wird, sind mit diesem Thema an den Zeitungskiosken präsent. Und für die Sicherheitsinformationen – das ist alles, was mit „Terrorismus“ zu tun hat – sind ohnehin spezielle Informationsabteilungen des Innen- und des Verteidigungsministeriums allein zuständig. Die paar wenigen öffentlich gemachten Informationen sind das zufällige Produkt von Manipulationen und des Disputs zwischen den einzelnen Macht-Clans, für die Journalisten eh nur Hampelmänner sind.

FIS-Führer Abassi Madani

Eine der Wahnideen der Junta ist eine Internationalisierung des Konflikts. Nicht einmal die UNO wird noch akzeptiert: Der persönliche Appell ihres Generalsekretärs Kofi Annan Ende August anlässlich des Dorfmassakers von Sidi Raïs mit vermutlich mehr als 200 Toten (Regierungsbilanz: 88 Tote) – die internationale Gemeinschaft müsse über „Worte des Bedauerns hinausgehen“ und „Mittel und Wege finden“, um ein Ende der Gewalt herbeizuführen, meinte er – wurde von Zéroual mit dem stereotypen Vorwurf der „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zurückgewiesen. Nur die Gegenseite reagierte: Unmittelbar nach Annans Intervention tat der FIS-Führer Abassi Madani seine Bereitschaft zur einseitigen Ausrufung eines Waffenstillstands kund, den er dann in der Tat ausrief. Übereinstimmend mit der vom FIS unterzeichneten „Plattform von Rom“ im Januar 1995 forderte Madani überdies die Einberufung einer sämtliche „gesellschaftlichen Kräfte einbeziehenden nationalen Versöhnungskonferenz“ sowie die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Freilassung politischer Gefangener und eine Generalamnestie. Im Gegenzug verpflichtete sich Madani ab dem 30. September zu einem Waffenstillstand. Hatte das Regime auf Madanis ersten Vorstoß noch mit Hausarrest reagiert, so wurde sein letzter Aufruf im staatlichen Radio und Fernsehen gesendet und wohlwollend kommentiert: Offensichtlich waren dem Waffenstillstand Verhandlungen mit dem Regime vorausgegangen, und offensichtlich war der Kontakt mit der islamischen Opposition – trotz des Fauxpas mit dem Hausarrest – aufrechterhalten worden. Und die europäischen Medien waren sich einig: Die „moderate“ Fraktion um Zéroual hatte die Oberhand behalten. Das Regime hat also indirekt zugegeben, daß sie dem „Rest-Terrorismus“ mit Waffen nicht beikommt.

Ob der Druck zum dauerhaften Einlenken aber international groß genug sein wird, wenn überhaupt, muß bezweifelt werden. Anfang Oktober erhielt die algerische Regierung nämlich Sukkurs von machtvoller Seite: Der scheidende US-Botschafter Ronald Neumann sicherte in seinem Abschiedsschreiben Präsident Zéroual die Unterstützung Washingtons zu und pries die „militärischen Maßnahmen, getroffen im Einklang mit dem Rechtsstaat, zum Schutz der Zivilbevölkerung“, sowie die „demokratisch beschlossenen ökonomischen und politischen Reformen“. – Einen besseren Freibrief kann man der algerischen Junta wohl nicht ausstellen.

Beitrag entnommen der Schweizer Wochenzeitung (40/1997). Wir danken Autor und WoZ für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

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