FORVM, No. 150-151
Juni
1966

Das Mark der Kritik

In Sachen Literatur führt nichts so schnell zur vollständigen Barbarei wie die Ignoranz der Deuter.

Günther Busch (in: „Der rote Sündenbock Anmerkungen zu Georg von Lukács“)

Literaturkritik überall, sogar im unkritischen Österreich! — Vor so viel Praxis rühren sich ein paar Grundfragen, sie rühren sich und rumpeln herum im Schreiber dieser Zeilen, der das kritische Amt nie auszufüllen vermöchte, weil ihm dazu allzu vieles fehlt. Und doch möchte er Bemerkungen zur Literaturkritik vorbringen, also über etwas sich äußern, was er keineswegs kann. Indessen, er beruft sich auf Oscar Wilde, der gesagt hat, etwas zu tun sei leichter als darüber zu reden. Und er bekennt gleich in einem, daß er den höchsten Rang in der Literatur nur dem Kritiker zubilligt: hier sind wirkliche Probleme. In der Kunst gibt es bloß technische. Der Künstler arbeitet niedergeschlagenen Auges, auf jenes Technische sehend, auf seine Hände. Das Höhere ist für die anderen da. Die Kunst ist langweilig: des Künstlers Alltag.

Aber der Künstler, und besonders einer, der die Sprache zum Materiale erwählt hat, sieht mit Staunen auf den Kritiker, diesen seltsamen Mönch, der sich neben die Kunst stellt und mit dem gleichen Schritte schon ihre Mitte geworden ist. Diese Mitte ist leer. Sie ist erhellt von der Zentralsonne der Intelligenz. Um sie kreist alles, was Kunst ist, mit mehr oder weniger festen Bahnelementen. Ein einziger Kritiker genügt, um die Literatur einer ganzen Zeit zu orten. Wo die Bahnelemente nicht fest und stark genug sind, dort wird des Kritikers Wort zu direkt, zu subaltern aufgefaßt werden, dort wendet sich der Künstler zum Kritiker hin, gerät aus seiner Bahn, schießt in die Mitte ein und wird vernichtet. So sieht die literarische Kosmogonie aus; denn wir glauben ernstlich, daß ein gewaltiger Kritiker sogar die Talente hervorbringen und auf den Plan rufen würde, deren er bedarf, teils zum Fraße und zur Vernichtung, teils, um sie sichtbar zu machen und zu orten. Denn dieses letztere, beides, vermag einzig und allein er.

Da wäre er also, als Monumentalfigur, als stehender Typus errichtet.

Aber unsere Frage, die weiter rumort und rumpelt, ist eine andere.

Ist das derselbe Typus, der da über Werke der Sprachkunst schreibt, wie jener, der über die Hervorbringungen der sogenannten bildenden Künste — Malerei, Plastik und Baukunst — urteilt, oder über die Werke der Musik?

Wir glauben das nicht. Die Materiale sind zu verschieden; eine doppelte Anwendbarkeit, wie bei der Sprache, findet sich bei keinem anderen. Denn man kann die Sprache verwenden wie Farbe, Ton oder Stein: um darzustellen, also gestaltend. Und man kann sie gebrauchen, um einen Sachverhalt auseinanderzusetzen, über etwas zu sprechen, also zerlegend, zerlegungsweise, analytisch, wie es ja auch der Kritiker tut, wenn er ein Kunstwerk bespricht. Diese doppelte Anwendbarkeit verpflichtet aber auch schon zum doppelten Gebrauche. Wir sehen das etwa im Roman praktisch verwirklicht, wenn auch ein weiser Autor hier gut tun wird, das Gewicht mehr und mehr auf die Gestaltung zu verschieben, selten etwas über irgendwas direkt zu sagen, ja, eigentlich nur ganz gelegentlich, zum Einwinken des Lesers, als Leitwerk für diesen, als kleines Geländer an wenigen Stellen, damit er nicht in eine Abfolge von Mißverständnissen falle. Immerhin, das Gedankliche, das Zerlegungsweise wird doch mit einem Minimum als zweite Möglichkeit der Sprache stets vertreten sein.

Diese zweite Möglichkeit des Materials gibt es nicht in den bildenden Künsten und in der Musik. Der Kritiker aber, der sich solchen Werken gegenüberstellt, muß von der zerlegungsweisen Sprache Gebrauch machen. Er kann nicht über eine Gemäldeausstellung, die er kritisch zu behandeln hat, ein Bild malen oder sein Urteil über ein neues symphonisches Werk in Form eines Streichquartettes mitteilen. Immer bleibt er ins andere Material, ins sprachliche, gebannt.

Nur dem Werk der Sprachkunst tritt ein Kritiker gegenüber, der im gleichen Materiale arbeitet, in welchem das Kunstwerk steht.

So einfach dieser Unterschied ist, eine so tiefe Kluft reißt er auf zwischen der Literatur und allen anderen Künsten, zwischen dem Literaturkritiker und allen anderen Kunstrichtern.

Denn dieser Kritiker, im Besitz nur der einen, der zerlegungsweisen sprachlichen Hemisphäre, muß mit ihr die ganze Sphäre der Sprache umfassen. Dies insbesondere bei der Erfüllung seiner wichtigsten Aufgabe: der Charakterisierung. Denn ihm, der immer neu die mäanderartig geschlängelte, vorspringende und zurückweichende Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst befestigen und verteidigen will, geht das Unvergleichliche an einem Werke weit vor dessen Vergleichbarkeiten und Herleitungen, wie sie der Literarhistoriker liebt. Erst nach der Charakterisierung wird eine solche Ortung sein beiläufiges Interesse haben. Und sein Urteil wird davon nicht abhängen, sondern eben vom Unvergleichbaren: ob es unstreitig vorhanden ist; ob der Künstler den Mut hatte, dem auch zu folgen; und ob seine technischen Mittel dabei bis zum guten Ende sich bewährt haben. Der Kritiker will, vor allem anderen einmal, daß Kunst sei.

Die bisherigen Überlegungen nahmen ihren Ausgang in der Tat von einem Gespräche, das ich mit einem Literaturkritiker führte, und bei gleichsam vertauschten Rollen; denn ich bezog den Standpunkt, welchen er — meiner damaligen Meinung nach — hätte einzunehmen gehabt; er aber faßte, was ich gesagt hatte, in polemischer Absicht zusammen:

Du behauptest, alles in allem, die Literatur einer Zeit werde von den Kritikern hervorgebracht. Das ist ein Paradox. Jedermann glaubt doch, daß es die Schriftsteller seien, von denen die Literatur ausgeht.

Ausgeht vielleicht; aber nirgendwohin. Und so würde auch den Autoren bald die Literatur ausgehen. Hervorgebracht, also in den Vordergrund gebracht, hat noch kein Schriftsteller sein Werk. Der Autor ist eine Art Monade, die ihr Gesetz — das Wort Gesetz hier geistesmechanisch verstanden — in sich trägt. Auf ihn repliciert letzten Endes und in maximaler Form nur eine ebenso extreme Monade: der Kritiker. Aber in diesem lebt nicht, wie im Autor, ein individuelles, also zwar echtes und dichtes, aber dumpfes Geistes-Schicksal; sondern in ihm, in seiner konkreten Person, erscheint das Gesetz, welches alle umfassen wird, alle Literatur, bis an ihre äußersten Grenzen. Um eben diese aber geht es dem Kritiker: zu erweisen nämlich, was Literatur ist, und was nie Literatur werden kann: was außerhalb des Gesetzes steht. Der Kritiker ist die verkörperte ‚Gesetzes-Freude‘, wie die alten Israeliter sagten.

Aber wie schafft er die Literatur mit seiner ‚Gesetzes-Freude‘?

Weil er das Geheimnis des Maßes besitzt, und es manchmal lüftet. Die Wirkung davon ist faszinierend. Die immer in ungeheuren Mengen vorhandenen Talente werden dieses Maß umschwärmen wie die Nachtfalter den Leuchter. Wer sich die Flügel verbrennt, stürzt hinein. Wer des Maßes Meinung erfaßt, hält Distanz. Er konsolidiert die Elemente seiner kreisenden Bahn.

Du siehst ja den Kritiker rein als den Mittelpunkt des literarischen Kosmos!

Das ist er auch. Weil er ortet. Weil er die größte Gravitation hat. Weil in ihn, als in eine Zentral-Sonne der Intelligenz, einschießt, was seine Bahn nicht zu halten vermag.

Sogleich wich er zurück vor der ihm zugeschobenen Position, vielleicht auch aus Bescheidenheit, überfiel mich mit der Fülle der Schwierigkeiten seiner Praxis, die voll von Fußangeln sei — psychologischen in der eigenen Person, „kulturpolitischen“ und anderen in der äußeren Welt —, und verdächtigte mich schließlich einer normativen Ästhetik (wegen des „Maßes“). In einem Atem wies er jeden reinen Subjektivismus unzweideutig von sich, um im selben Satze zu behaupten, daß einem wirklichen Kritiker starke persönliche Sympathien und Antipathien eignen müßten.

Ich fühlte die Wahrheit (und auch seine reine Gesinnung) in der letzten widersprüchlichen Behauptung, die somit nicht richtig war. Jede Richtigkeit aber erschien mir damals wie eine äußerste gespannte Oberflächen-Schichte der Wahrheit, welche doch über dieser noch zusammenhalten muß. Durch die Richtigkeit erst, durch das Zutreffende, kann die Wahrheit unser praktisches Leben hautnah berühren und in ihm wirken. Antipathien und Sympathien, so mußte ich mir sagen, kann man auf sehr verschiedenen Ebenen haben: auf der physiologischen, dann auf der schon etwas mehr belichteten des Charakters im engeren Sinne, bis hinauf zu der Ebene der Personalität, welche sich vom Empirisch-Subjektiven wohl nährt, aber eine davon schon abgelöste Existenz hat. Im selben Augenblicke war mir klar, daß die Antipathien und Sympathien des Kritikers auf jener letzteren Ebene liegen, somit von rein physiognomischer Art sein mußten, als unentbehrliche Motoren für sein Urteil: und daß dieses nie ein Einzelphänomen für sich meine, sondern immer durchaus die ganze Kunst: so, wie der Künstler in seinem Gegenstande immer die ganze Natur meint, sehr zum Unterschiede vom gegenstandsverliebten Dilettanten. Der Kritiker will, vor allem anderen einmal, daß Kunst sei. Der Künstler will, vor allem anderen einmal, daß Natur sei. Der Kritiker ist, wie der Künstler, zunächst ein physiognomischer Geburts-Stand, freilich der unendlich viel seltenere Fall. Er wird sicher früher oder später sich selbst einholen, seinem verliehenen Stande bewußt beitreten, dem schon fliegenden Pfeil erst die Spitze aufsetzend, ein unumgänglicher Akt, durch den jedes Leben erst in Besitz genommen, durch den einer erst richtig belehnt werden kann mit dem, was er schon hat. Ähnlich wie beim Künstler, wo, von einem gewissen Punkte an, die Entschlußkraft weit Größeres wirkt als das Talent.

Er ist also, der Kritiker, Träger einer priorischen Personsverfassung gegenüber der Kunst, ganz ebenso wie der Künstler gegenüber der Natur.

Auch er „reift durch Vergleiche“ (Rilke) und bedarf deshalb einer umfassenden Fülle gehabter Kunsterlebnisse. Das ist seine „Fachbildung“, wenn man es so nennen will. Sie besteht freilich aus Wissen, nicht bloß aus Kenntnissen. Das Wissen ist selbstleuchtend, Fixstern, Sonne. Es geht aus Erlebnissen hervor. Die Kenntnisse aber sind nur unter Umständen und teilweise beleuchtet (wie er sie gerade braucht), Planeten des Wissens, um das ihre Schwärme kreisen, Satelliten und Trabanten.

Wenn er aber, der Kritiker, „durch Vergleiche reift“, dann gelangt er in die Nähe auch des Historikers der Kunst, mit welchem er doch nie eins zu werden vermag, weil sein Grenzkampf, sein polemisches Bemühen, im Vordergrunde steht und nicht, wie beim Gelehrten, die Einordnung der Erscheinungen in gewonnene Felder von Oberbegriffen.

Man sieht schon: die Systematik wird man von ihm gerade nicht erwarten dürfen, von dem Ersehnten und Heißbegehrten, dem Vater aller Literatur, dem Kritiker. Ungern auch wird er an die von der Literarhistorik gefundenen Kategorien anschließen. Ja, er wird sich oft so verhalten — sei’s auch fiktiv —, als gäbe es gar keine solchen, mindest, als seien sie für die Gegenwart noch nicht aufgefunden. Was er braucht, ist Getümmel, nicht ein geordnetes Feld; Getümmel, das über die Grenzen von Literatur und Nicht-Literatur (in die äußerste Finsternis mit ihr!) hin und her wogt: hier einzugreifen, in diesem Kampf am Walle, das macht seinen Eros aus, das reizt ihn. Er wird parteiisch in einem Grade sein, welcher den Literarhistoriker aufheben würde. Ja, durch Augenblicke und in voller Bewegung bietet er fast jenes Bild, das den politisch handelnden Menschen vom Geschichtsschreiber trennt.

Denn, wie liest man wohl kritisch? (Und auch wir alle, die ein so wesentliches Amt nicht auszeichnet, lesen kritisch, wenn auch bei trüberem Lichte; und schon gar der Künstler, der nur anzieht, was ihn nährt, und abstößt, was ihn stört!) Man liest eigentlich ängstlich; und man ist glücklich, wenn alles gut geht. Erst, wenn das fünfzehn- bis zwanzigmal wirklich nicht der Fall ist, beginnt man, sich zunächst defensiv zu verhalten: man sucht eine Formel für das Widrige, den Fehler. Geht’s arg oder noch schlimmer weiter, so drückt sich einem schließlich jene Formel als offensive Waffe in die Hand.

Der letzte Grund aller denkbaren Gleichgewichtsverluste des Kritikers aber liegt nicht in seiner Persönlichkeit, auch nicht in seiner jeweiligen Methode, sondern viel tiefer, nämlich in seinem Materiale überhaupt: der zerlegungsweisen Sprache. Dieser Hemi-Sphäre der Sprachlichkeit, mit welcher der Kritiker die ganze umgreifen muß, eignet nicht jenes stabile Gleichgewicht wie der Sprache des Künstlers, die in beiden Anwendungsarten sich bewegt, gestaltweise und zerlegungsweise, ausdrückend und aussagend: wie nimmermüde synchronisiert laufende Kolben tauchen jene zwei Möglichkeiten auf und ab. Sie balancieren einander aus. Eine idealische Romanprosa etwa ruht in sich selbst: sie ist das äußerste Gegenteil jedes Handelns.

Der Kritiker aber ist handelnd, schon aus der Natur seiner Sprache. Sie verbürgt ihm nicht das Gleichgewicht, wie es gewohnheitsmäßig der Künstler genießt, der aufs Handeln verzichtet hat: und das schon rein vom Materiale her.

Er aber, der Kritiker, der für die Literatur seiner Zeit allein Verantwortliche unter lauter blind vor sich hin funktionierenden Monaden (aber ohne praestabilierte Harmonie!) wird in einem einzigen Falle — den wir zuletzt noch kennenlernen wollen — das Glück solchen Gleichgewichts als Krönung seines Lebens erreichen.

Kritik heißt: das Maß einer Sache besitzen; das Unmaß sehen; und davon so sehr ergriffen werden, daß die aussagende Sprache zum stabilen Gleichgewichte, zur unabhängigen und selbständigen Einheit von Inhalt und Form gelangt: der Kritiker als Künstler, wie Oscar Wilde es meinte. Wohlan, ein Kritiker muß nun einmal auch Schlächter und Mörder sein: aber ein solcher, dem in seltenen Fällen vor der überwältigenden Schönheit des Opfers das Beil entsinkt: seine Sprache erhebt sich zum ebenbürtigen Gesange — eine Singstimme des Intellektes, möchte man sagen! —, wenn er jene Schönheit preist. Solches auch nur einmal erlebt zu haben, macht das Glück des Kritikers aus und seine höchste Bewährung und Bestätigung. „Der Essay ist die Novelle des puren Intellekts“, sagt A. P. Gütersloh. Der Essay ist die Kunstform des Kritikers.

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