FORVM, No. 91/92
Juli
1961

Das Sindbad-Spiel

Mit Illustrationen des Erfinders
Der weise Kunfutse mit der doppelten Denkerstirne.

Das Sindbad-Spiel basiert auf der Annahme, daß dieser berühmte Seefahrer mit einigen Weltreisenden in Bagdad Kaffee trinkt. Da sich nun jeder von ihnen rühmt, der bedeutendste aller Weltreisenden zu sein, schlägt ihnen Sindbad — ermüdet durch solche Prahlereien — vor, sich auf eine neue Weltreise zu begeben. Jenem, der ihm die meisten Schätze mit nach Hause bringt, verspricht er seinerseits einen Schatz: seine schönste Sklavin Fatima. Dem Nächsten macht er Hoffnung auf seine zweitschönste Sklavin, Suleima, und dem Dritten winkt der Trostpreis aller Trostpreise, eine gewisse Josephine Přistalek. Also angefeuert, machen sie sich auf den Weg, und wir können darüber nachdenken, wie dieses schöne Kind Böhmens in den Besitz Sindbads kam. Wir wissen es nicht, aber vielleicht war sie ursprünglich ein Postfräulein am österreichischen Postamt zu Trapezunt.

Der alles dies ersann, hieß Paul von Rittinger, wurde am 8. April 1879 in Oberhollabrunn geboren und studierte in Wien die Rechte, um schließlich seinen Doktor in Kunstgeschichte zu machen. Da er aber in Wirklichkeit Maler werden wollte, ging er nach Schweden in eine Malerkolonie. Einige Jahre später nach Österreich zurückgekehrt, begann er eine wissenschaftliche Arbeit über englische Rokoko-Landschafter, was ihn für zwei Jahre nach England führte. Er scheint meistens von seinen eigentlichen Zielen abgelenkt worden zu sein, jedenfalls war die Frucht seiner englischen Studien ein Buch, das er „Die Analyse der menschlichen Bewußtseinsinhalte“ nannte. Von da an lebte Rittinger in Innsbruck als Privatgelehrter, Musikforscher und Maler. Er starb am 23. Jänner 1953 und hinterließ ein reiches Œuvre an Aquarellen, die von bizarrer Thematik, oft großer Komik und manchmal von überraschend naivem Reiz sind. Wir können sicher sein, daß ihm im Reiche der Geister, Abteilung Österreich-Ungarn, neben Meister Herzmanovsky-Orlando und Großmeister Kubin ein bequemer Ofenplatz eingeräumt wurde.

Kalamitopolis, die trostlose Hauptstadt von Fabulistan.
Dies ist der unselige Ort, an dem sich alle Unglücksfälle, die von Freitagen, Unglückszahlen, umgestürzten Salzfässern etc. herrühren, wirklich und tatsächlich ereignen. Der Reisende zahlt zunächst drei Marken an die Kasse, dann wird er einmal übergangen und kann erst weiter, wenn er eine gerade Zahl wirft.

Nicht zuletzt hat er uns eben das Sindbad-Spiel hinterlassen. Für dieses erstaunliche Gesellschaftsspiel hat er 136 Spielfelder „des ordentlichen Weges“, 11 Felder des Abkürzungsweges und etwa 40 Spielfiguren gemalt. Es wird in der Art der bekannten Kinderwürfelspiele mit zwei Würfeln gespielt — „außer wo die Spielregeln es anders vorschreiben“, was sie ununterbrochen tun; und es wird angenommen, daß jeder Mitspieler seinen Weg mit einem Kapital von 10 Spielmarken beginnt — „außer wo was anderes festgesetzt ist“. Unnötig zu sagen, daß es meistens anders festgesetzt ist. Die von Rittinger aufgestellten Regeln sind in Wirklichkeit eine Aufzählung der Ausnahmen von denselben und derart kompliziert und umfangreich, daß ihr ungekürzter Abdruck ein Sonderheft dieser Zeitschrift beanspruchen würde. Wir müssen uns damit begnügen, zu sagen, daß jeder Reisende die Welt nach verschiedenen und ihm gemäßen Regeln durcheilt und daß ein reicher Strauß von Zwischenfällen, Abenteuern, Unglücksfällen, Liebeserlebnissen, Erkenntnissen und unerwarteten Begegnungen seiner harrt. Aus einigen Andeutungen über die Art der Mitspieler und einigen Auszügen aus den eigentlichen Spielregeln hoffen wir, dem Leser einen Eindruck des Ganzen zu geben.

Leicht wird Fräulein Přistalek gewiß nicht errungen, denn die Reise geht von Bagdad über den Balkan, Italien, Spanien, Frankreich, England, das Eismeer, Skandinavien, Deutschland, Österreich, Polen, Rußland, Sibirien, Japan, China, die hohe Tatarei, Tibet, Vorder- und Hinterindien, Fabulistan, Australien, Polynesien, den großen Ozean, Peru, Feuerland, Patagonien, Brasilien, Venezuela, Mexiko, die Vereinigten Staaten, Kanada, den Nord- und Südatlantik, Südafrika, Abessinien, Zentralafrika, „wo der furchtbare Gorilla haust“, Dahomey, die Sahara, Ägypten, Arabien, Kanaan und Mesopotamien wieder zurück nach Bagdad.

Mitten auf dem Atlantischen Ozean trifft man Max und Moritz,
welche soeben im Begriffe sind, den Meridian von Greenwich abzusägen. Man übergibt die beiden Übeltäter der Polizei und verhindert so ein Ereignis, dessen Folgen für die Menschheit unabsehbar wären. Hiefür erhält man zwei Marken aus der Kasse.

In einigen Fällen kann man über den pädagogischen Wert oder den praktischen Sinn des versprochenen Preises streiten, denn bei einem der Weltreisenden handelt es sich um einen durchgebrannten Gymnasiasten namens Hans Naseweis, der übrigens nur „ein Weltreisender in der Phantasie“ ist, bei einem weiteren um einen guten Missionar, von dem wir unter anderem hören, es hänge von seinem Belieben ab, ob er sich auf Feld 73 vom Magnetberg Kaf anziehen lassen wolle und der seinen Mitspielern stets gerne Hilfe leistet, allerdings nicht bei „Verhexung, Bestohlenwerden, Schwedensturm etc.“

Sir Humphrey Squabbles, dem englischen Globetrotter, stehen solch arabisch-böhmische Schönheiten schon eher zu. Er tut sich sowieso schwer, „weil der reisende Engländer bekanntlich überall, wo er hinkommt, gewurzt wird“ und er deshalb alles im Spiele doppelt zahlen muß.

Auch dem tapferen Wikinger ist der Erfolg zu gönnen. Allerdings hat er unter Umständen mit familiären Schwierigkeiten zu rechnen, denn sollte er während seiner Reise mit der Nixe Undine zusammentreffen (die mit von der Konkurrenz ist), so zwingen ihn die Spielregeln, dieselbe zu heiraten. Sie hat sich nämlich sterblich in ihn verliebt, „als er auf ihren Fluten dahinfuhr“, und Ehen bleiben strikt ungelöst, wie es ausdrücklich in den Regeln heißt. Übrigens ist der bedauernswerte Wikinger „durch seine sprichwörtliche Verwegenheit moralisch verpflichtet, den sehr gefährlichen Abkürzungsweg zu gehen“, der vom Pamirplateau über die „furchtbare, tränengetränkte sibirische Grenze“ zu den zauberischen Rosenhainen von Schiras und ans Kaspische Meer zu den dort lebenden Kopflosen führt, wo der Reisende unweigerlich selbst seinen Kopf verliert und ihn „schon aus ornamentalen Gründen“ um teures Geld zurückkaufen muß.

In Spanien wohnt das spanische Röhrl.
Dieser verdienstvolle Grande schenkt jedem staatserhaltenden Element eine Marke, nur dem Hans Naseweis und der Mitidika macht er einige einschlägige Bemerkungen, deren richtige Würdigung diese beiden Reisenden während des nächsten Wurfes auf diesem Felde festhält.

In den Händen der Zigeunerhexe und ihrer lieblichen Tochter Mitidika wollen wir unsere Josephine lieber nicht sehen. Handelt es sich doch bei der Tochter um eine unseriöse Person, welche bei zufälligem Zusammentreffen mit einem weiteren Mitreisenden, dem fahrenden Schüler, „mit demselben einen flüchtigen Herzensbund schließt“, ihm dabei aber Pretiosen raubt. Dabei reist dieser arme Mensch teilweise auf Universitätsstipendien.

Für Jiři Handrlak, einen böhmischen Hausierer, wird sie auch eher unpassend sein, denn dieser heiratet unterwegs auf der Prager Karlsbrücke seine alte Liebe Pepička und bekommt von ihr sogar Kinder, wofür er durch eine Art Kindergeld belohnt wird, indem seine Würfe dann dreifach gelten, ab dem zweiten Kind vierfach.

Gegen den Negersklaven Jumbo aber ist heutzutage nichts mehr einzuwenden. Dieser Mohr kann einen furchtbaren Dschin, der vor den Toren Bagdads steht, unter etwas komplizierten Umständen bewegen, daß er respektvoll zur Seite tritt und zur Gemahlin des Kalifen „Küß die Hand, Euer Gnaden“ sagt, was für den geprüften Mitspieler nicht unwichtig ist, weil er anders seine Weltreise nicht beenden kann.

Ein sehr merkwürdiges Paar sind die französische Gouvernante und der chinesische Kuli, die, „was die wenigsten von Ihnen glauben würden, beschlossen haben, diese Weltreise gemeinsam zu machen, ja auch ihre Kassen zu vereinen“.

Die Wüste der Thebais,
wo es von heiligen Einsiedlern buchstäblich wimmelt. Diese erbitten dem Reisenden die Gnade, daß seine nächsten drei Würfe nichts gelten, falls sie nicht gut sind.
Feuerland, das dürftigste und trostloseste Land des ganzen Erdballs.
Man schenkt der frierenden und hungernden Bevölkerung eine Marke, damit sie sich wenigstens den hinter ihr stehenden Pinguin kaufen kann.
Auf der Insel Kreta haust der Minotaurus,
der soeben eine athenische Jungfrau zur Schlachtbank führt. Man befreit dieselbe und erhält auf Grund ihres großen philologischen Wertes zum Danke dafür von der Gymnasialdirektion drei Marken aus der Kasse oder die Begleitung des Läufers von Marathon.

Könnten wir den elektrischen Funken als dritten Sieger begrüßen, ergäbe sich eine versöhnliche Situation. Dieser Mitspieler nämlich genießt anfangs wegen seiner natürlichen Schnelligkeit ziemliche Vorteile, aber sollte der Unglückliche beim fünften Wurf die Erde noch nicht umrundet haben, „dann bemerkt die enttäuschte Menschheit, daß er schließlich auch nichts weiter als ein lahmer Briefträger gewesen ist, in welchen er sich unter dem Druck der allgemeinen Enttäuschung sofort verwandelt“. Die Přistalek aber wäre, soferne unsere Vermutung hinsichtlich ihrer Vergangenheit stimmt, hiemit in die schützende Aura des Postwesens zurückgekehrt und könnte ihre Tage frei von Furcht und Sklaverei beschließen.

Eine Eigentümlichkeit des Spieles sind noch die sogenannten „Begleitfiguren“, die in obligatorische und nicht-obligatorische eingeteilt sind und mannigfache Funktionen haben. Sie hemmen den Reisenden oder helfen ihm weiter, und zwingen ihn zu komplizierten Überlegungen. Mit einem Wort, sie bemühen sich redlich, das Spiel noch mehr zu verwirren. Solche Figuren sind der Vielfraß Gargantua, „welcher auf Feld 14 im Salon der geistreichen Madame Pompadour erhältlich ist“, ferner ein weißer Rabe, der Läufer von Marathon (den man, ist das Glück günstig, dem Kalifen um fünf Spielmarken als „Komfortabelpferd“ verkaufen kann) und der Glücksgott Fukuroku, der einen aber beim geringsten Anzeichen eines Unglückes verläßt. Dazu kommt noch der weise Kunfutse, Old Shatterhand, „ein bedenkliches Brüderpaar“ namens „Jean qui pleure“ und „Jean qui rit“ und dergleichen Volk mehr.

Die bei den Illustrationen zu findenden Beschreibungen der „Felder des ordentlichen Weges“, gekürzte Auszüge aus dem Manuskript Rittingers, geben uns einige Aufklärung über die turbulenten Abenteuer des ganzen Unternehmens.

Sir Humphrey Squabbles im Normalzustand — Sir Humphrey Squabbles im verweichlichten Zustand.
Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)