FORVM, No. 179-180
November
1968

Demontage des Wohlfahrtsstaates?

„In dem Umfang, in dem der Staat per Gesetz eine Veränderung und Neuaufstellung der Einkommenströme vornimmt, etwa dabei den Sektor des Sozial- und Alterskonsums durch Verwirklichung wohlfahrtsstaatlicher Vorstellungen begünstigt, wird der zur investiven Verwendung im Produktionssektor zur Verfügung stehende Kapitalfonds beeinträchtigt“, schreibt Universitätsprofessor Dr. Clemens-August Andreae in einem Artikel über „Probleme, Erfordernisse und Möglichkeiten der Industriepolitik in Österreich“ in den „Wirtschaftspolitischen Blättern“.

„Vor allen Dingen gilt es jedoch, die Sozialpolitik und die auf Konsuam und auf konsumtive Sozialinvestitionen ausgerichtete Strukturpolitik zu überdenken und in Hinblick auf höheres Sparvolumen und auf Erhöhung des Sparwillens des einzelnen abzuwandeln. Dabei sollte nicht etwa die soziale Sicherheit des Menschen gemindert werden; sie sollte, zumindest teilweise, der privaten Initiative des einzelnen wieder anheimgegeben und so der dabei angesammelte Sparbetrag der produktiven Nutzung in der Industrie zugeführt werden.“

800 Milliarden sparen?

Gedankengänge wie diese spielen in Österreich eine dominierende Rolle. Man trifft sie im Bereich der katholischen Soziallehre, der Prof. Andreae nahesteht, ebenso wie etwa in Enunziationen des Hauptverbandes der Sparkassen oder im sozialistischen Lager bei Generalrat Karl Ausch, dessen Standardthese, daß die „Familie Österreicher“ über ihre Verhältnisse lebe, von der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und der Vereinigung Österreichischer Industrieller gerne zitiert wird.

Der kritischen Überprüfung dieser Meinung kommt insofern besondere Aktualität zu, als die Verwirklichung des Primats der Industriepolitik das Ziel gleichermaßen des Koren-Planes wie des sozialistischen Entwurfes für ein Wirtschaftsprogramm trotz besten Intentionen auf große Widerstände und Hindernisse stieße, wenn ihr Preis, schlagwortartig ausgedrückt, ein Konsum- und Sozialstop wäre, wenn also Strukturverbesserung und Ausbau des Wohlfahrtsstaates einander ausschlössen.

Die Klärung dieser Frage hat daher nicht bloß theoretische, sondern auch eminent praktisch-politische Bedeutung, denn zumindest so weit ist das System der demokratischen Willensbildung in einer pluralistischen Gesellschaft effizient, daß es einer kleinen Elite ökonomischer Strategen auf die Dauer nicht gelingen würde, ihre Zielvorstellungen gegen die unmittelbaren und vorrangigen Interessen der zahlenmäßig größten Gruppen (Arbeiter, Angestellte und Pensionisten) durchzusetzen.

Die Transfereinkommen — in denen neben den Pensionen und sonstigen Leistungen der Sozialversicherungsträger freilich auch Familienbeihilfen und dergleichen enthalten sind — haben 1967 rund 40 Milliarden Schilling ausgemacht; das also ist der „Umfang, in dem der Staat per Gesetz eine Veränderung und Neuaufteilung der Einkommenströme vornimmt und dabei den Sektor des Sozial- und Alterskonsums durch Verwirklichung wohlfahrtsstaatlicher Vorstellungen begünstigt“. Das „Ersparnisäquivalent‘ dieser 40 Milliarden wäre — nur um die Größenordnung zu zeigen — bei einer fünfprozentigen Durchschnittsrendite ein Kapitalstock von 800 Milliarden Schilling, also mehr als 100.000 Schilling Ersparnisse je Kopf der Bevölkerung, vom Säugling bis zum Tattergreis. Zum Vergleich: die Summe der Spareinlagen beträgt derzeit etwa 90 Milliarden.

Eine andere Vergleichsrechnung: Das „Ersparnisäquivalent“, wieder zu fünf Prozent berechnet, einer nicht eben üppigen Pension von 3000 Schilling monatlich, 14mal im Jahr bezahlt, liegt bei 840.000 Schilling. Eine Pension von 3000 Schilling entspricht bei voller Beitragsdauer einem Aktivbezug von etwa 3850 Schilling brutto. Wie viele Menschen wären imstande und willens, von diesen brutto 3850 Schilling monatlich genau 1000 Schilling beiseite zu legen, damit sie nach 30 Jahren bei fünf Prozent Zinsen und Zinseszinsen jene 840.000 Schilling beisammenhaben, deren Zinsenertrag ihrem Pensionsanspruch entspricht?

Natürlich sind das Zahlenspielereien. Vielleicht beweisen sie aber eines: die Unmöglichkeit, ein System der sozialen Sicherheit auf die individuelle Ersparnisbildung aufzubauen (ganz abgesehen davon, daß es zumindest irreführend ist, die — notwendige und wünschenswerte — individuelle Vorsorge für Alter, Krankheit usw. unter den Begriff „soziale Sicherheit“ zu subsumieren).

Zumindest aber beweisen solche Zahlenspielereien, daß der individuellen Vorsorge, so erwünscht sie wegen der damit verbundenen Kapitalakkumulation auch sein mag, bestenfalls eine subsidiäre Rolle zufallen kann, etwa die einer eigenverantwortlichen Ergänzung der auf die „Basisversorgung“ beschränkten Sozialversicherung.

Auch dieses Konzept (das z.B. in der Bundesrepublik angestrebt wird und in der Schweiz verwirklicht ist) liefe aber in Österreich nicht auf einen „Sozialstop“ hinaus, denn selbst von einer „Basisversorgung“ sind wir noch weit entfernt, solange sowohl im Bereich des ASVG wie insbesondere der Selbständigenpension und der landwirtschaftlichen Zusatzrenten das Gros der tatsächlich erbrachten Leistungen in Ermangelung genügender Versicherungszeiten hart am physischen Existenzminimum oder auch noch darunter liegt. (Das gilt sowohl für Direkt- wie erst recht für Hinterbliebenenpensionen.)

In dieser Situation hinge über der gesamten Industriepolitik ein Damoklesschwert, wenn sie wirklich damit stünde und fiele, daß im Wege einer zumindest teilweisen, dem individuellen Sparwillen überlassenen Altersvorsorge das notwendige Kapital aufgebracht wird.

Konsumstop?

Das wird offensichtlich, wenn man sich vorstellt, was im Falle einer Kürzung der Sozialversicherungsleistungen geschähe: Soll dadurch der „Sozial- und Alterskonsum“ real nicht schrumpfen, müßte die Einbuße an Pension, Krankengeld usw. durch Entsparen wettgemacht werden; fürs erste würden also Sparbeträge nicht der produktiven Nutzung in der Industrie zugeführt, sondern dieser Nutzung entzogen.

Ein Einwand drängt sich auf: Eben diese Notwendigkeit, später auf eigene Ersparnisse zurückzugreifen, würde auf die Erwerbstätigen einen heilsamen Zwang ausüben, solche Ersparnisse in ausreichender Höhe anzusammeln. Das mag stimmen, ändert aber völlig die Zielrichtung der Kritik: Nicht der „Sozial- und Alterskonsum“ beeinträchtigt dann (angeblich) die Investitionstätigkeit, sondern der „Überkonsum“ der Erwerbstätigen, die durch die Sozialversicherung der Notwendigkeit enthoben sind (oder sich enthoben glauben), für ihr Alter durch Ersparnisbildung vorzusorgen.

Diese Änderung der Zielrichtung ist unvermeidlich, wenn man nicht die Behauptung aufstellen will (was immerhin etlichen Widerspruch auslösen würde), daß die heutigen Pensionen usw. unangemessen hoch seien, die Pensionisten also den Gürtel enger schnallen müßten. Damit wäre also das Privilegium odiosum, den Gürtel enger zu schnallen, bei den Erwerbstätigen gelandet und aus dem „Sozialstop“ ein „Konsumstop“ geworden.

Die These lautet also nunmehr: Damit für die investive Verwendung in der Produktion Kapitalfonds in ausreichendem Maß zur Verfügung steht, müssen die Erwerbstätigen einen höheren Konsumverzicht leisten; sofern darüber hinaus auch an eine Beschneidung des „Sozial- und Alterskonsums“ gedacht ist, hätte dies oder auch bloß die Ankündigung eines „Sozialstops“ pro futuro — nur die „pädagogische“ Aufgabe, dem Sparwillen Auftrieb zu geben (also die „freiwillige“ Ersparnisbildung indirekt zu erzwingen).

Richtig (und nicht mehr ernstlich umstritten) ist, daß eine Wachstumsbeschleunigung mit einem relativen Zurückbleiben der Konsumausgaben und der konsumbestimmten Masseneinkommen Hand in Hand zu gehen pflegt.

Richtig und unumstritten ist ferner, daß sich die „Industriepolitik“ (wie immer man sie ansonsten definieren mag) in einer Intensivierung der industriellen Investitionstätigkeit niederschlagen müßte.

Nicht folgt daraus aber, daß die Investitionsquote insgesamt wachsen müsse, die selbst im Rezessionsjahr 1967 mit 25 Prozent überdurchschnittlich hoch war und in keinem unmittelbaren Konnex zum Wachstumstempo steht, war sie doch in den „goldenen fünfziger Jahren“ weit niedriger gewesen, Offensichtlich ist die qualitative Zusammensetzung der Brutto-Investitionen wichtiger als ihre absolute Höhe.

Das mag auch für die Industrieinvestitionen im besonderen gelten, steht aber hier nicht zur Diskussion, weil allein die Wiederherstellung der 1960 erreichten Relation zwischen Industrie- und sonstigen Investitionen ausreichen würde, ohne jeden zusätzlichen Konsumverzicht die Investitionstätigkeit der Industrie annähernd zu verdoppeln.

Kapital nicht gefragt

Das ist die güterwirtschaftliche Seite. Die Geldseite bietet ein analoges Bild: Der Engpaß ist nicht das Kapitalangebot, sondern — von „Qualitätsunterschieden“ zwischen angebotenen und nachgefragten Mitteln einmal abgesehen — eindeutig die Kapitalnachfrage. Nach dem Stand von Ende Mai waren von insgesamt über 167 Milliarden Schilling an veranlagbaren Mitteln (Direkteinlagen, Emissionserlöse, aufgenommene Gelder, Auslandspassiva und Eigenkapital) 22½ Milliarden nicht oder im Ausland veranlagt; dieser Betrag würde ausreichen, die Kredite an die Industrie annähernd zu verdoppeln (denn Ende 1967 hafteten an die Industrie Kredite in der Gesamthöhe von 25 Milliarden aus).

Daß die industrielle Investitionstätigkeit seit 1962 stagniert und daß einer Zunahme des Nettoproduktionswertes der Industrie von 1963 bis 1967 um 17 Milliarden trotz stark schrumpfender Selbstfinanzierungsmöglichkeit nur eine halb so große Neuverschuldung gegenübersteht, läßt sich nicht mit einem ungenügenden Konsumverzicht erklären.

Eher trifft das Gegenteil zu: Die Zunahme der Nachfrage, soweit sie der inländischen Industrieproduktion zugute gekommen ist, hat im Verein mit einer ebenfalls gebremsten (und zu Preiskonzessionen zwingenden) Auslandsnachfrage nicht ausgereicht, starke Investitionsimpulse zu geben zumindest nicht Impulse für wachstumsbeschleunigende Erweiterungsinvestitionen (wogegen der zunehmende Kostendruck das Schwergewicht der insgesamt stagnierenden Investitionen zur Rationalisierung verlagert hat: von 1960 bis 1967 ist die Industrieproduktion um 30 Prozent gestiegen, obwohl per Saldo 10.000 Arbeitskräfte entlassen wurden).

Damit soll nicht der „expansiven Lohnpolitik“ das Wort geredet werden; die Dynamik sowohl der Investoren wie der Finançiers ist in Österreich offensichtlich zu gering, als daß sie einer solchen Herausforderung mit einer Forçierung der Investitionstätigkeit begegnen würden. Wenn es aber problematisch wäre, den Impuls für die „zweite Industrialisierungswelle“ von einer „Explosion“ der Lohn- oder der Sozialkosten zu erwarten (daß mit diesem Rezept das Wachstum eher abgewürgt wird, zeigt das Umverteilungsexperiment der sechziger Jahre), so wäre es kaum weniger problematisch, es mit dem gegenteiligen Rezept eines Konsum- und Sozialstops zu versuchen.

Irreale Askese

Selbst wenn nämlich diese Rezeptur theoretisch richtig wäre (und ich bezweifle ernstlich, daß sie weniger falsch ist als die Idee der „expansiven Lohnpolitik“), hieße das nach den Unternehmern die Arbeitnehmer überfordern: Hatten seit dem Beginn der sechziger Jahre die Unternehmer auf den wachsenden Lohndruck subjektiv verständlich, aber objektiv falsch — nämlich mit einer relativen Einschränkung der Investitionen — reagiert, würden mit Sicherheit die Arbeitnehmer auf den Versuch, durch einen Konsum- und Sozialstop dasselbe Ziel, nämlich eine Investitionswelle, zu erreichen, erst recht subjektiv verständlich, aber (im Sinne des Hayek-Modells) objektiv falsch reagieren: damit nämlich, durch Lohnforderungen den ihnen zugemuteten Konsumverzicht zu umgehen.

Das alles ist in meinen Augen freilich ein Streit um des Kaisers Bart: die hier kritisch untersuchte Vorstellung einer „Wachstumsaskese“ — die „erhungerte“ Industriepolitik — ist theoretisch anfechtbar und politisch nicht realisierbar.

Theoretisch anfechtbar ist sie, weil nur die „nichtkommerziellen“ Investitionen (Infrastruktur usw.) unabhängige Variable sind. Über das Ausmaß der industriellen Investitionen entscheidet — nach Ansicht mancher Autoren ausschließlich, nach anderen im Verein mit den Finanzierungsmöglichkeiten — die Investitionsbereitschaft der Unternehmer, und diese wieder ist teils vom Tempo des technischen Fortschritts, vor allem aber von den Absatz- und den Ertragserwartungen abhängig. Richtig ist, daß sich bei vielen Produkten dieser Erwartungshorizont auch auf ausländische Märkte erstreckt; etwa 70 Prozent der Industrieproduktion werden aber auf dem österreichischen Markt abgesetzt, und stagniert auf diesem dank einem Konsum- und Sozialstop die Nachfrage, bleiben nachhaltige Investitionsanreize aus, und für die angebotenen Kapitalfonds fehlt die investive Verwendungsmöglichkeit.

Wir stapeln tief

Auf die Gefahr hin, mich damit Angriffen von allen Seiten auszusetzen: Für die landläufige These, daß wir über unsere Verhältnisse leben, also zuviel konsumieren, fehlt jeder plausible Beweis.

Hingegen sprechen die Akkumulierung der — nach der Schweiz — relativ höchsten Gold- und Devisenvorräte unter allen OECD-Ländern sowie insbesondere der Umstand, daß die Wachstumsraten hinter den in den fünfziger Jahren mühelos erreichten hartnäckig zurückbleiben, für die Gegenthese, daß wir — wie schon in den zwanzig Jahren der Ersten Republik — unter unseren Verhältnissen leben, d.h. weder im Investitions- noch im Konsumbereich das reale Expansionspotential voll ausschöpfen.

Ist somit schon die theoretische Richtigkeit der Idee, die Investitionstätigkeit mit einem Konsum- und Sozialstop anzukurbeln, anfechtbar — durchaus reden ließe sich hingegen über den Versuch, einige Jahre lang zu trachten, die Brutto-Investitionen relativ stärker auszuweiten als den privaten Konsum und im besonderen die Transfereinkommen —, dürfte man sich vollends über die politische Realisierbarkeit eines solchen Konzepts keinen Illusionen hingeben:

Nicht ohne Arbeitnehmer

Was irgendwie zu „Industriepolitik“ zählt, wird in den nächsten Jahren so viele höchst unpopuläre Konsequenzen haben (Sperrung von Betrieben, Freisetzung von Arbeitskräften, Anforderungen an die berufliche und die regionale Mobilität, Verschärfung des Wettbewerbes als einkommenspolitisches Korrelat zur Abschirmung des Wachstums gegen übermäßige Lohnforderungen, Revision verschiedener regionalpolitischer Lieblingsvorstellungen usw.), daß die endlich als notwendig erkannte Totalreform der österreichischen Wirtschaftsstruktur, die ohne zumindest stillschweigende Zustimmung der Arbeitnehmervertretungen unmöglich ist, auf unüberwindbaren Widerstand stieße, würde man sie zum Vorwand nehmen für eine Demontage des Wohlfahrtsstaates.

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