FORVM, No. 100
April
1962

Der Krieg

Novelle

Milovan Djilas ist eine jener Persönlichkeiten, die in jeglichem Zeitalter sehen und darum desto repräsentativer sind, weil sie dem historisch gesinnten Betrachter sich als vollkommene Einheit von politischem Aktivismus und künstlerischer Bewußtheit darbieten. Der Weg, den der jugoslawische Politiker-Dichter in einsamer Selbständigkeit beschritten hat, führt in Richtung auf einen ragenden sozialistischen Humanismus, frei von allen Nebelbildungen der Ideologie. Wie weit Djilas auf diesem Weg gelangt ist, läßt sich mit aller wünschenswerten Deutlichkeit aus der nachfolgenden Novelle ermessen, die erstmals in der von Ignazio Silone redigierten römischen Zeitschrift „Tempo Presente“ erschienen ist. Die autorisierte Übertragung ins Deutsche besorgte Claus Gatterer.

Der von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang strömende große Fluß ergoß sich in einen noch größeren. Es ist immer so gewesen und es wird immer so sein, daß kleine Flüsse sich mit größeren vereinen. An den Ufern dieser Flüsse haben sich — wie an den Ufern aller Wasserläufe — Kriege und Schlachten zugetragen, ihnen entlang sind Grenzen verlaufen: denn durch die Flüsse strömt das Leben und sie trennen oder verbinden, je nach den Umständen.

Die Schlacht am großen Fluß war schon seit drei Monaten im Gang. Die Gegner waren gleich stark, keiner konnte den anderen aus seinen Stellungen werfen, zumal da der Winter sich mit großen Schritten näherte (der Winterkrieg erfordert mehr Menschen und mehr Mittel); so gruben sich die beiden Heere zwischen den beiden Flüssen an deren Ufern entlang ein, und sammelten die Kräfte, mit denen sie im Frühjahr, wenn das Eis zerrinnt und die Erde wieder grün wird, sich gegenseitig zu vernichten gedachten.

Die Kriegsfront verlief sodann quer über den großen Fluß. Alle Flüsse — und dieser nicht anders — bleiben gleichmütig angesichts der Tatsache, daß eine Kriegsfront sie mitten durchschneidet. Von dieser Stelle aus verlief die Front nach Süden und nach Nordosten, wo sich ihr Angelpunkt an einem noch größeren Fluß befand, und von dort aus nahm sie ihren weiteren Verlauf. Dem Fluß ist es einerlei, ob die Schlachten an seinen Ufern geschlagen werden oder anderswo.

Die Front hatte mit ihren Schützengräben, Unterständen und anderen verschiedenen Zwecken dienenden Grabungen einen Streifen Erde aufgewühlt, der nicht breiter war als etwa fünfzig Kilometer zwischen den beiden Flüssen, dem großen und dem noch größeren. Auch die Erde bleibt teilnahmslos, wenn sie durch eine Front geteilt wird. Die Äcker, Weinberge, Dörfer und Städte bleiben teilnahmslos.

Die Menschen aber, die an den Ufern der Flüsse lebten, konnten nicht teilnahmslos bleiben, obwohl auch sie keine Schuld am Krieg traf, den man da führte. Die Erde und die Sonne waren hier dem Leben der Menschen förderlich, und deswegen lebten die Menschen dort. Der Krieg ist Raub, er bedeutet die Unterjochung der Menschen und ihrer Lebensbedingungen, und es ist unmöglich, daß er, wohin immer er komme, das Leben der Menschen nicht aus der Bahn werfe. Er hätte das Leben dieser Menschen, sobald er sie erreicht hätte, auch dann aus der Bahn geworfen, wenn sich ihre Wohnstätten anderswo befunden hätten.

Da es im Krieg stets wenigstens zwei einander gegenüberstehende bewaffnete Lager geben muß (ohne diese könnte kein Krieg sein), bemühten sich die beiden Heere, alles zu zerstören, was dem anderen nützen könnte. Es gibt im Krieg kein Werk der menschlichen Hand oder des menschlichen Geistes, das dem Gegner nicht nützte, so daß die verläßlichste Art, dem Feind zu schaden, darin besteht, daß alles zerstört wird, was ihm in die Hände fallen könnte. Der Krieg ist bar jeder Vernunft. Man vermag nicht zu beurteilen, was unter bestimmten Umständen der Gegenseite nützlich sei; deshalb ist es am klügsten, alles schön der Reihe nach zu vernichten; Häuser und Saaten, Straßen und Vieh, Brücken und Museen, insbesondere aber die menschlichen Wesen und sämtliche Voraussetzungen für ihr Leben.

Auf dem Rückzug nach Westen hatten die feindlichen Truppen alle Brücken über die Flüsse zerstört und alle Boote zertrümmert, auch die kleinsten und für den Krieg völlig nutzlosen wie jene, die gerade noch Platz bieten für zwei Liebende, die sich, eben weil sie lieben, eng aneinanderschmiegen. Nirgendwo in der Nähe der Front, aber auch nicht in größerer Entfernung davon — denn die Front verläuft zwar heute noch hier, morgen aber kann sie schon anderswo sein — gab es nun eine Brücke oder eine Fähre oder ein Floß oder ein Boot.

Aber die Menschen müssen auch während des Krieges und trotz dem Krieg leben. Deswegen brauchten sie eine Fähre, aber es fehlten ihnen die Mittel dazu und obendrein wußten sie, daß jedes neue Boot oder Floß sofort der Requisition verfiele. Daher waren sie für ihren ganzen Verkehr auf die Hilfe einer militärischen Fähre angewiesen. Das Heer mußte die Möglichkeit haben, die Verbindung zwischen den beiden Ufern der Flusses herzustellen — und daher hatte es diese Möglichkeit auch. Das Heer ist im Krieg dazu da, um alles zu besitzen, was die übrigen Menschen nicht besitzen.

Die Soldaten an der Fähre waren gutmütige Leute — Soldaten sind immer gutmütige Leute, sobald sie nicht Soldaten sind, und sie sind es auch als Soldaten, sobald sie nicht gerade kämpfen. Sie setzten die Bevölkerung, deren Vieh und die vielen anderen Dinge gratis über den Fluß. Sie taten dies umso lieber, als sie selbst aus dieser Gegend stammten, in der nun der Krieg ausgetragen wurde. Doch beförderten sie die Zivilbevölkerung nur in jenen Stunden, in denen die Fähre nicht für den Krieg benötigt wurde. Das war begreiflich, denn sie waren ja des Krieges wegen da und taten, was sie taten, des Krieges wegen.

Die feindliche Luftwaffe griff vornehmlich tagsüber an, so daß die Fähre während der Nachtstunden für das Heer arbeitete und untertags für die Bevölkerung. Doch war auch die Bevölkerung, obschon sie nicht zum Heer zählte, schlau geworden. Sie drängte sich gegen Abend um das Gefährt, wenn der Feind aufgehört hatte, anzugreifen, und das Heer noch nicht mit dem Übersetzen zum anderen Ufer begonnen hatte, oder aber beim ersten Morgengrauen, wenn der Feind mit seinen Flügen noch nicht begonnen und das Heer aufgehört hatte, den Fluß zu überqueren.

An jenem Nachmittag, der grau, frostig und naß war wie viele Nachmittage im Winter und vor allem die Nachmittage im Krieg, hörte man die ganze Zeit über vom linken Ufer des Flusses, dort wo die Front war, die Totenklage. Die Soldaten und die drei Offiziere am Ufer — ein Major der Spionageabwehr, sein Adjutant im Hauptmannsrang und ein Leutnant, der den Verkehr auf der Fähre dirigierte — wußten, daß ein Bauer den Leichnam seines Bruders (oder Vaters oder Sohnes), der im Krieg gefallen war, von der Front nach Hause schaffen wollte. Nur die Bauern beweinen ihre Toten mit solcher Hartnäckigkeit, lärmend bis zum Stumpfsinn. Gern hätten die Offiziere die Fähre schon vor Sonnenuntergang fahren lassen, um die Unglücklichen ans andere Ufer zu bringen, aber sie mußten das Gefährt noch im Versteck halten, da feindliche Aufklärer jeden Augenblick aus den Wolken stachen, als genössen sie es, von oben den Fluß zu bewundern, der weder blau noch silbern, sondern schlammig war, flankiert von blattlosen, geschwärzten Weiden im dunklen, verfaulenden Sumpfgesträuch, das in der Ferne in den gleichfarbigen Himmel überging.

Mit schnarchendem Geräusch verließ die Fähre früher als üblich das Schilfdickicht. Die grauen Wolken hingen nun tief und berührten die Oberfläche des Wassers, auch die Dunkelheit war früher als sonst hereingebrochen, so daß die Offiziere annahmen, von den feindlichen Fliegern drohe keine Gefahr mehr.

Die zuerst tiefe und unartikulierte Totenklage erklang nun plötzlich laut und deutlich, als hätten die Klagenden nur darauf gewartet, daß der Motorenlärm nachließe. Das Floß legte am Ufer an. Samt ihrem Vich drängte sich eine Menge von Bauern auf das Gefährt, und inmitten dieser Menge versuchte ein alter Bauer mit borstigem Bart seine bockig gewordenen Pferde mit sanftem Zureden in Bewegung zu bringen. Es war seine gewohnte Art, mit den Pferden umzugehen, doch klangen seine Worte milder und trauriger als sonst, denn auf dem Wagen lag ein Sarg aus rohem Holz. Eine Bäuerin, auch sie alt und bis auf Nase und Augen mit einem Kopftuch verhüllt, hatte die knöcherne Hand auf den Deckel des Sarges gelegt; sie schien unfähig, sich davon zu lösen.

„Geht, ihr Schönen, geht — bringt mich mit meinem Kummer in mein leeres Haus!“, flüsterte der Bauer liebevoll, behutsam am Zaum ziehend, indes die Frau, bald schreiend, bald Worte stiller Trauer vor sich hinredend, den Sarg nun auch mit der anderen Hand betastete.

Der blonde und ein wenig vierschrötige Hauptmann (er hätte freilich auch anders aussehen können, da ja nur die Tatsache Bedeutung hatte, daß er Hauptmann war), der Hauptmann also rief beinahe zornig den sich dicht auf der Fähre drängenden Passagieren zu, sie sollten Platz machen für den Wagen. Dann sprang er ans Ufer, ergriff die Zügel und zog die Pferde kraftvoll zum Gefährt hin, indem er sagte: „Laß nur mich machen, Onkelchen. Ich bin mit den Pferden aufgewachsen. Und ihr dort hinten, macht Platz!“

Die Pferde fühlten sogleich die sichere Hand und folgten dem Hauptmann, die Ohren wendend und mit den Hufen die Festigkeit der Bretter prüfend. Der Bauer dankte dem Hauptmann; er überhäufte ihn und das Heer mit Segenswünschen aller Art. Dies schien den Hauptmann in eine gewisse Verlegenheit zu bringen; indem er sich die Hände rieb, als wollte er den Schmutz von ihnen entfernen (in der Tat war das Zaumzeug schmutzig), antwortete er zurückhaltend: „Nicht der Rede wert, Onkelchen. Es ist unsere Pflicht, dem Volk zu helfen. Dazu sind wir da. Sag mir lieber, wer es ist, den du da im Sarg hast?“

„Wer es ist?“ fragte seinerseits der Bauer, schmerzlich erstaunt. „Mein vernichtetes Leben bringe ich nach Hause, meinen einzigen Sohn. Zwei hab’ ich schon gegeben, nun ist auch er von uns gegangen. Jetzt weißt Du, wen ich im Sarg habe.“

Offensichtlich hätte der Hauptmann gern ein Wort des Trostes gesagt, ein Wort, das auch wie Anerkennung geklungen hätte, etwa: „Ja ja, die Freiheit muß man sich teuer erkaufen!“ aber er fand die richtigen Worte nicht, und vielleicht schien ihm auch alles unnütz angesichts der Trauer des Bauern und der Frau (sie war offenbar die Mutter des Toten). So schwieg er und seufzte nur. An seiner statt meldete sich, vom Steuer her, der Leutnant zu Wort (auch er war blond, aber hochgewachsen und hatte einen dünnen, blassen Schnurrbart, der das bartlose Kinn noch stärker hervortreten ließ; doch hätte auch er ganz anders aussehen können, da ja nur die Tatsache, daß er Leutnant war, Bedeutung hatte): „Krieg ist Krieg“, sagte er, „was wollt ihr dagegen tun. Jeden Tag sterben einige. An manchen Tagen transportieren wir mehr Tote als Lebende.“

Ein alter Bauer, lang, dürr und mit eingefallenem Gesicht, fragte den Alten: „Bist du es, der seinen Sohn von der Front heimbringt?“

Der Alte begann zu erzählen. Er war mit der Frau dorthin gefahren, wo die Kämpfe im Gang waren, um dem Sohn etwas zum Essen und frische Wäsche zu bringen (er war ja selbst im Krieg gewesen und wußte daher, was Soldaten nottut). Zwei Tage zuvor hatte der Feind im Morgengrauen einen Vorstoß unternommen, und das Unglück hatte es so gefügt, daß sein Sohn — jung und unerfahren (er war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt) — von einer Granate getroffen wurde. „Sie hat ihm alle Eingeweide aus dem Leib gerissen. Der Vater und die Mutter haben ihn nicht mehr lebend gesehen: sie haben nicht seine letzten Worte hören können.“ Der Bauer erzählte so, als spräche er nicht von sich und seiner Frau, und es schien deshalb umso verzweifelter zu klingen. Klagend fügte die Mutter hinzu: „Was soll man sagen: Es ist unser Ende — der Herd für immer erloschen ...“

Der dürre Bauer sagte, als hätte er die Worte der Unglücklichen garnicht gehört (beim Reden tanzte der Adamsapfel den langen Hals auf und ab): „Auch mein Sohn ist vor einem Monat gefallen, doch habe ich ihn nicht fortgeschafft. Er soll bei seinen Kameraden ruhen. Wie habt ihr es angestellt, an der Front einen Sarg aufzutreiben? Es gibt dort kein Holz und keinen Tischler und nichts.“

Der Vater fuhr fort zu klagen und überhörte die Frage des Dürren: „Ich weiß nicht, wohin wir ihn bringen sollen und wozu. Es ist gewiß nur die Stumpfheit von uns Bauern, daß wir uns gerade mit einem Grab trösten wollen.“

Der Hauptmann bestätigte, daß auch andere Bauern ihre Toten fortbrächten, wenn auch — um der Wahrheit die Ehre zu geben — ohne Sarg. „Das Militärkommando“, schloß er, „respektiert die Volksbräuche, obschon es richtiger wäre, daß ein Soldat an der Seite seiner gefallenen Kameraden ruht.“

In diesem Augenblick berührte die Fähre das andere Ufer. Die Pferde zogen ruckartig an. Der Hauptmann faßte wieder die Zügel und wiederum folgten ihm die Tiere willig, um festen Boden unter die Hufe zu bekommen.

Die Straße verlief, den Fluß entlang, auf einem Damm. Das Heer hatte quer durch den Sumpf einen Pfad angelegt, um die Straße mit dem Ufer zu verbinden. Auf diesem kurzen, schmalen Pfad, an dessen Rändern sich der von den Rädern gemahlene Schlamm häufte, bewegten sich die Passagiere im Gänsemarsch fort, bereit, dem Major, der sich in einer Baracke an der Straße befand, ihre Papiere zur Prüfung vorzulegen. Der Hauptmann führte die Pferde, ohne sich um die Menschenschlange zu kümmern. Die Leute wichen widerwillig zur Seite und stapften im Schlamm weiter. Sie protestierten nicht. Es galt, einem Toten den Weg freizumachen, der überdies von einem Mann in Uniform geführt wurde. Der dürre Bauer, der vor einem Monat seinen Sohn verloren hatte, lief, sich drehend und wendend und mit der Rechten den Stock schwingend, als könnte er sich auf diese Weise das Laufen leichter machen, zur Baracke, ohne jemanden zu beachten. Als ihn der Leutnant ermahnte, die Reihenfolge zu respektieren, wandte er sich nur kurz um und machte, immerzu laufend, eine ungeduldige Geste, indem er mit dem Stock auf die Baracke wies: „Ich habe dort eine dringende Angelegenheit zu erledigen.“

Es wurde still. Nur der Wagen mahlte quietschend im Schotter und die Füße wateten im Schlamm. Alle hatten sofort begriffen, daß der dürre Bauer dem Major in der Baracke etwas Wichtiges anvertrauen wollte. Der Bauer tat auch nichts, um diese seine Absicht zu verbergen.

Als der Wagen die Dammkrone erreicht hatte, stand schon der Major da und wartete. Mit einer Geste befahl er den Leuten, stehen zu bleiben, während der dürre Bauer, sich hinter ihm emporreckend, von einem Fuß auf den anderen tänzelte und — gleicherweise Neugier und Schläue im Gesicht — vor sich hin feixte. „Jaja“, brüstete er sich, „ich habe es wohl gehört: es ist etwas Lebendes im Sarg. Und Ihr, Herr Hauptmann, nehmt es mir nicht übel, daß ich Euch nichts gesagt habe. Ich fürchtete, sie würden den Sarg dann ins Wasser werfen. Ich habe gewartet, bis sie auf dieser Seite des Flusses: waren, da ist schließlich auch ein Mann von größerer Autorität. Und auch Ihr sollt es mir nicht übelnehmen“, fügte er, zu den Eltern gewandt, hinzu, „es ist unsere Pflicht, zu berichten, was wir an Verdächtigem sehen. Krieg ist Krieg.“

Der Vater und die Mutter erstarrten in stummer Verwirrung. Die Mutter erholte sich als erste wieder, sie verfluchte den Bauern wegen seiner Bösartigkeit und seiner Geschwätzigkeit, und flehte den Major an: „Sei gut! Laß uns ziehen mit unserem Toten, solang es noch Tag ist.“

Durch die Bitten seiner Frau ermutigt, stellte sich nun der Vater habtacht vor den Major hin und begann seinerseits zu bitten, wobei er dem weinerlich-klagenden Ton eine Note soldatischer Würde beifügte: „Haben Sie Einsicht, Herr Genosse Major! Wir sind die Eltern; dies ist unser Sohn und das Dorf ist fern.“

Der Major war ein braungebrannter Mann von jugendlichem Aussehen, mit mehr neugierigen als kalten Augen (auch er hätte ganz anders aussehen können, da ja nur Bedeutung hatte, daß er Major war). Er antwortete dem Bauern, aber so, als spräche er zu einer abwesenden Person, gegenüber welcher er dennoch, dem Reglement gemäß, einen höflichen Ton anschlug: „Macht Euch keine Sorgen. Wir werden alles den Vorschriften entsprechend regeln.“

Er trat an den Wagen heran, tippte mit dem Zeigefinger auf den Sarg und befahl, ihn aufzumachen.

Sogleich lösten die Soldaten die Seile und hoben den Sarg vom Wagen. Die Mutter stürzte sich mit dem Gesicht darauf und klagte mit leiser Stimme: „Mein Haus! Mein zerstörtes Haus ...!“ Die Soldaten hatten jedoch kein Gerät zur Hand, um die Nägel aus dem Sargdeckel zu ziehen. Das gab dem Vater neuen Mut und er begann aufs neue: „Verdammen Sie Ihre Seele nicht, Major — haben Sie ein wenig Einsehen!“

Der Major schien die Worte des Mannes nicht zu hören, und vielleicht hörte er sie wirklich nicht, da er ganz damit beschäftigt war, die Papiere der Reisenden zu prüfen. Immerhin sagte er zum Vater — oder vielleicht zu irgend einem Mann in der Reihe: „In Ordnung — in Ordnung — es wird alles in Ordnung sein.“

Ein Lastauto fuhr vorbei. Der Major hielt es an, indem er die Hand hob, in welcher ein paar Identitätskarten flatterten, die er gerade kontrollierte. Der Hauptmann verstand sofort, und ohne daß man ihm befohlen hätte, was zu tun sei, bat er den Chauffeur um Zange und Hammer. Sanft schob er die Mutter vom Sarg fort. Sie verharrte, völlig in sich zusammengesunken, in gebeugter Stellung, die Fäuste an die Wangen gepreßt, und verwünschte mit steigender Verzweiflung den erloschenen Herd und das eigene dunkle Geschick.

Im Nu hatten die Soldaten die Nägel aus dem Sargdeckel gezogen und der Major, der mit dem Kontrollieren der Papiere fertig war, befahl, ihn aufzuheben. Im Sarg lag ein junger Mann, bäuerlich gekleidet, mit einem Milchgesicht. Er wandte die Augen dahin und dorthin, wollte sich erheben, lächelte dann mit schamrotem Gesicht und blieb liegen.

„Ist das dein Sohn:“ fragte der Major.

„Mein Sohn, ja“, antwortete der Bauer. „Mein einziger Sohn. Die beiden anderen sind tot.“

„Ist er von der Front geflohen?“

„Nein, nicht geflohen. Ich wollte ihn retten. Ich wollte jemanden von meinem Blut erhalten. Was nützen mir das Haus und der Staat, wenn alles, was mein ist, erlischt?“ erwiderte mit Würde der Bauer.

Die übrigen Bauern beobachteten neugierig die Szene, aber der Major befahl den Soldaten, sie fortzuschicken. Vor den Gewehrläufen zogen sie sich sofort zurück. Auch der Chauffeur des Lastautos fuhr gleich wieder ab, nachdem man ihm das Werkzeug wiedergegeben hatte. Offenbar interessierten ihn die Vorgänge nicht oder er hatte wichtigere Dinge zu erledigen oder den Kopf voll eigener Sorgen. Nur der dürre Bauer blieb. Niemand hatte ihn gehen geheißen. Er erweckte durch seine Haltung den Eindruck, als habe er ein ganz besonderes Recht zu bleiben, wo er war. „Ich dachte, es wäre ein Spion oder etwas Ähnliches“, murmelte er vor sich hin. „Ich habe niemandem Leid antun wollen, so wahr es Gott gibt, so wahr es Gott gibt ...“

Neben dem Sarg kauernd, streichelte die Mutter dem Jüngling die schweißnassen Haare aus der Stirn und tröstete ihn: „Hab keine Angst, mein Glück. Er ist gut, ist gut. Er ist einer von unserer Regierung, von der Regierung des Volkes.“

Ermutigt setzte sich der Bursche im Sarg auf, aber der Major bedeutete ihm mit der Hand, sich wieder hinzulegen, und er streckte sich wie auf Befehl steif auf dem Boden aus.

„Hauptmann!“, befahl der Major, „tut Eure Pflicht!“

Behend nahm der Hauptmann den Revolver aus der Tasche, als hätte er nur auf den Befehl gewartet, und legte eine Patrone in den Lauf. Der Leutnant packte, ohne einen Befehl abzuwarten, die Mutter an den Schultern und trennte sie — kraftvoll zwar, aber ohne Roheit — vom Sohn. Er hieß sie aufstehen und führte sie abseits. Desgleichen drängte ein Soldat mit vorgehaltenem Gewehr den Vater an die Seite der Frau.

Dann ging der Hauptmann um den Sarg herum und schoß den Jüngling mit solcher Gewandtheit ins Herz, daß der Eindruck entstand, man habe das Echo des Schusses gchört, noch bevor der Lauf des Revolvers sich der Brust genähert hatte, rascher jedenfalls, als die versteinten Eltern erfassen konnten, was eben geschehen war.

Auch der Jüngling schien erst zu begreifen, als ihm die Kugel das Herz zerriß. Er stieß einen Schrei aus, beugte sich im Bogen aus dem Sarg, dann schlugen die Glieder und der Kopf leicht gegen das Holz, und sogleich streckte sich der ganze Körper, als wäre er leer.

Der Major sagte zornig: „Und nun schafft ihn fort.“ Doch fügte er gleich, ruhiger, hinzu: „Wir tun unsere Pflicht und werden sie immer tun.“

Die Eltern hörten nicht, was er sagte. Sie hatten sich über den Leichnam des Sohnes geneigt, schluchzten, schrien, und wanden sich in Krämpfen des Leids.

Entschlossen — aber ohne Brutalität — trennten sie die Soldaten vom Sarg, den sie dann behutsam auf den Wagen hoben und festbanden. Den Deckel legten sie an die Seite des Sarges, da sie weder die Geräte noch die Zeit hatten, ihn wieder festzunageln. Die Fähre mußte eiligst wieder abfahren. Es warteten schon in langer Reihe die Militär-Lastwagen auf der Straße.

Als die Soldaten den Sarg aufgeladen hatten, setzten sich die Pferde von selbst in Bewegung. Hinter dem Wagen schritten die Eltern. Der dürre Bauer sagte nur erstaunt zu sich selber: „Wie hätte ich das wissen sollen, wie hätte ich es wissen sollen ...“

Am Ende des Sarges war ein Ast aus dem Holz gesprungen und daraus rann das schwarze Blut. Die Mutter hielt die Hand auf dem Sarg und stieß unverständliche Klagelaute aus. Der Vater schritt neben den Pferden und vergaß diesmal darauf, ihnen ihre Kosenamen zu geben.

Der Leutnant sagte: „Sonderbare Leute, diese Bauern. Nun jammern und weinen sie wie vorher.“

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)