FORVM, No. 198/I
Juni
1970

Der Metaphysiker Wittgenstein

II. Teil
voriger Teil: Wittgenstein war kein Positivist

Besonders in den Briefen an Engelmann gibt es Hinweise, was für Wittgenstein selbst der grundlegenden, uneinschränkbaren Dichotomie von Tatsache und Wert zugrunde gelegen haben mag. Wir können diesen Hinweisen in jede der beiden Richtungen folgen, der psychologischen und der soziologischen, indem wir uns einerseits Wittgensteins eigenstes Wesen, andererseits die historischen Gegebenheiten, in denen sich sein Geist formte, näher ansehen. Psychologisch gesprochen, kann man sicher so viel sagen: ob oder ob nicht Wittgenstein eine weitere prinzipielle Rechtfertigung für die Unvereinbarkeit der Bereiche der Tatsache, mit dem er Werte anzubieten gehabt hätte, war es ihm in seinem eigenen Leben nicht möglich, eine wirkungsvolle Verbindung zwischen ihnen herzustellen. In seinen Briefen an Engelmann berichtet er einige Male von Selbstmordgedanken. Er schreibt wiederholt im Ton der Selbstverachtung von seiner eigenen Unanständigkeit, und weist auf emotionelle Spannungen hin, die für ihn gleicherweise schwierig zu unterdrücken oder zu sublimieren waren. Am 11. Oktober 1920 schreibt er:

„Schließlich bin ich Hauptschullehrer geworden, und ich arbeite in einem schönen kleinen Ort, der Trattenbach heißt ... Ich bin mit meiner Arbeit in der Schule zufrieden, und ich brauche das sehr dringend, sonst würden alle Teufel der Hölle in mir losbrechen. Wie gern ich Sie sehen und mit Ihnen sprechen würde. Es ist viel geschehen. Ich mußte mich einigen Operationen unterziehen, die sehr schmerzhaft waren, aber gut verliefen. Das heißt, es kommt vor, daß ich von Zeit zu Zeit ein Glied vermisse, doch besser einige Glieder weniger, die restlichen aber gesund.“ Was auch immer der Grund war, 1922 kämpfte er noch immer mit sich. 1926 schreibt er wieder. „Jedenfalls bin ich nicht glücklich, und nicht, weil mich meine Schlechtigkeit quält, sondern die Ursache meiner Schlechtigkeit.“ Und sogar 1937 schreibt er von Trinity College, Cambridge: „Weiß Gott, was aus mir werden soll?“

Doch würde man zu einer Quelle von Wittgensteins tiefster intellektueller Haltung in seinem eigenen Temperament oder Wesen vordringen wollen, würde das wahrscheinlich zu unergiebigen und irrelevanten Spekulationen verleiten. (Wie er in einem Brief an Engelmann sagt, den er im Sommer 1925 aus England schreibt: „Wie kann ich von Ihnen erwarten, mich zu verstehen, wenn ich mich doch selbst kaum verstehe.“) Bei der Untersuchung von Wittgensteins Position stößt man auf viele Parallelen zwischen seiner Grundeinstellung und der seiner Wiener Vorgänger und Zeitgenossen. Einige Beispiele dafür hat Erich Heller in seinem Essay im „Encounter“ (September 1959) und in seinem Buch „The Disinherited Mind“ behandelt. Andere werden auftauchen, wenn die Studenten ihre Aufmerksamkeit auf das Wien der Jahre 1890 und 1900 richten werden.

Die vielschichtigen Zusammenhänge und Analogien, die Wittgensteins Gedanken mit denen von Hugo von Hofmannsthal und Karl Kraus, Weininger und Mauthner, Hertz und Boltzmann verbinden, um nur einige zu nennen, sind ein Thema, über das ich viel in Gesprächen mit Allen Janik erfahren habe. Das würde jedoch einen eigenen Essay, und zwar einen von einem Geistesgeschichtler, erfordern. Ich möchte aber, alle Fragen der Psychologie und Soziologie beiseite lassend, die Entwicklung des Wittgensteinschens Denkens von innen nach außen aufbauen und nachvollziehen. Akzeptieren wir das „wortlose Schicksal“, von dem Engelmann schreibt, als das Zentrum, um das herum sich alles andere gruppierte. Welche Bedeutung haben nun die verschiedenen Stadien, durch die Wittgenstein hindurchging, für die Entwicklung seiner Philosophie und seiner weiteren ethischen Ideen?

Wenn wir alle neuen Aspekte zusammenfügen, was für ein Bild taucht da von der geistigen Entwicklung Wittgensteins auf? Beginnen wir am Anfang seines Lebens: Es ist das Bild eines jungen Mannes, der nicht in den österreichisch-ungarischen Adel, sondern in das gehobene Bürgertum hineingeboren wurde. In seinem Fall in eine der führenden musikalischen und intellektuellen Familien Wiens. Er wuchs in einem Kreis von Menschen auf, für die literarische und philosophische Belange der Zeit Allgemeingut waren. Für die Wiener Intellektuellen der Jahrhundertwende spielte Schopenhauer die gleiche Rolle wie Sartre in den vierziger und fünfziger Jahren in Paris. Auch wenn es in Wittgensteins Schriften nicht so viele Hinweise auf Schopenhauer gäbe, könnte man deshalb „Die Welt als Wille und Vorstellung“ als Ausgangspunkt seiner Gedanken annehmen.

Es ist das Bild eines jungen Mannes mit scharfem intellektuellem Urteilsvermögen und großer Zurückhaltung, der hart um seine persönliche Integrität kämpft, sowohl angesichts der Hindernisse in sich selbst als auch der in einer sich auflösenden Gesellschaft. Das Bewußtsein, daß die Welt der Tatsachen keinen eigentlichen Wert besitzt, war ein Element des weitverbreiteten Pessimismus dieser Zeit — es taucht zum Beispiel in der Philosophie von Karl Jaspers und anderen Existentialisten auf. In Wittgensteins Fall wurde dieses Bewußtsein zur Besessenheit: Wenn es „da draußen“ keine Werte gab, in der Welt der Tatsachen, so schloß er, konnten sie nicht „abbildbar“ oder „sagbar“ sein. Auf diese Weise gab er der Tatsachen-Wert-Dichotomie wieder etwas von der Reinheit, die sie in den Schriften von Kierkegaard hat. (Viele englischsprachige Philosophen überrascht das Grundelement des „Nachkantschen Existentialismus“. Doch in vieler Hinsicht war Wittgenstein das echte Kind der Kultur, in der er heranwuchs. Wenn wir ihn zu sehr vor seinem späteren Hintergrund von Cambridge sehen — wenn wir zum Beispiel seine Ansichten mit denen von G. E. Moore und Russell vergleichen —, riskieren wir, diese Tatsache zu übersehen. Denn Russell, Frege und Moore übten Einfluß auf einen äußerst ernst zu nehmenden jungen Mann, dessen geistige Richtung größtenteils schon im Wien seiner Jugend geprägt worden war. Nur angesichts dieser Tatsache wird seine folgende Entwicklung deutlich.)

Wittgenstein hatte Physik und angewandte Mathematik studiert. Diese Ausbildung führte ihn nicht von seinen philosophischen Grundinteressen weg, sondern förderte seinen analytischen Scharfsinn und ermöglichte ihm, Schopenhauers Grundeinsichten auf eine genauer umrissene Basis zu stellen. Die Jahre zwischen 1890 und 1910 waren die Periode, in der das Problem der „Darstellung“ im Mittelpunkt des Denkens der theoretischen Physiker stand. Es war die Zeit von Duhem, Poincaré und Mach. Vor allem aber war es — zum besseren Verständnis Wittgensteins — die Zeit von Heinrich Hertz und Ludwig Boltzmann. In seinem Buch „Das Prinzip der Mechanik“ (1894) hatte sich Hertz wieder mit der gleichen Grundfrage auseinandergesetzt, die schon Kant hundert Jahre früher verwirrt hatte: „Wie ist überhaupt eine formale, axiomatische Naturtheorie (wie zum Beispiel Newtons Dynamik) möglich?“ Er antwortete, indem er zeigte, wie die Sprache der Newtonschen Dynamik zuerst in ein System gebracht wird, um dann als Mittel zur „Darstellung“ der Bewegungen materieller Körper angewendet zu werden. Boltzmann wendet dieses Ergebnis auf die ganze Physik an. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus war alles, was sinnvoll war, sprachliche „Abbildung“ der relevanten physikalischen Phänomene: für den Physiker sind die „Werte“, die man diesen Phänomenen zuordnet, für ihre „Abbildung“ nicht von Bedeutung.

Wittgenstein war mit diesen Ansichten sehr vertraut. Boltzmanns Selbstmord machte seine Hoffnung, bei ihm zu studieren, zunichte, doch ist der Tractatus voll von Phrasen wie: „logische Räume“, die „Gruppen von Möglichkeiten“ beinhalten, die ihren Ursprung in Boltzmanns Thermodynamik haben. Als nun Wittgenstein die neue symbolische Logik von Russell und Frege kennenlernte, war er bereits mitten in der Neuformulierung des „transzendentalen“ Problems von Kant und Schopenhauer, wobei er die genaueren Termini anwendet, die durch Hertz und Boltzmann möglich geworden waren. Seine offensichtliche Absicht war es, ihre Analyse zu erweitern, wieder, um die Sprache in ihrer Gesamtheit zu erfassen und dadurch mit größerer Genauigkeit auszudrücken, was Schopenhauer weniger formal gefaßt hatte: die Grenzen der Reichweite der sprachlichen „Darstellung“.

Dieses UNTERNEHMEN erforderte ein neues intellektuelles Hilfsmittel, das mit allgemeinen Termini die Beziehung, in der Hertz’ und Boltzmanns „Abbildungen“ einen Sonderfall darstellten, deutlich machen würde. (Wie aus einem Gespräch Wittgensteins mit Waismann hervorgeht, sollte diese allgemeine Beziehung die Verbindung der Sprache mit der Wirklichkeit sein.) Er fand dieses Instrument im Symbolismus des „logischen Kalküls erster Ordnung“, wie Russell und Frege sie entwickelte, und verwendet sie nicht nur, um die formale Logik um ihrer selbst willen zu verbessern, sondern als Mittel, das Problem des „Transzendentalen“ zu bewältigen. Der formale Symbolismus der mathematischen Logik sollte die Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit aufdecken, indem „wir uns Bilder von Tatsachen machen“.

Betrachtet man nun den Tractatus mit den Augen des Historikers, kann man sein Grundproblem folgendermaßen beschreiben: Lösung des „transzendentalen“ Problems mit Hilfe des Symbolismus des neuen „Kalküls“ in Erweiterung der Analyse der wissenschaftlichen Sprache von Hertz und Boltzmann, angewendet auf die Sprache als Ganzes. [1]

Von diesem Standpunkt aus gesehen, schloß der Tractatus anscheinend endgültig das philosophische Denken Wittgensteins ab. Danach konnte er nicht mehr philosophisch arbeiten, ebensowenig, wie Hugo von Hofmannsthal weiter Lyrik schreiben konnte. [2]

Und in den nächsten acht Jahren arbeitet er als Gärtner, Lehrer, Architekt, alles, nur nicht als Philosoph.

INZWISCHEN WAR der Tractatus in die Hände des Wiener Kreises gelangt und schnell zu einem „klassischen“ Werk des Positivismus geworden. Denn Moritz Schlick und dessen Anhänger hatten Wittgenstein ganz anders verstanden. Sie waren weniger vom Hertzschen Kantianismus und den transzendentalen Theorien Schopenhauers beeinflußt als vom kritischen Empirismus Machs und Avenarius’, ihre unrichtige Interpretation war ein entschuldbares Mißverständnis, das die ganz verschiedenen philosophischen Haltungen widerspiegelt, mit denen sie Russells und Freges neuen logischen Symbolismus betrachteten. Erst 1927 — nach einigen Jahren vergeblichen Bemühens — gelang es Schlick, eine Reihe von Zusammenkünften mit Wittgenstein zu organisieren. Erst da wurde es klar, wie radikal er gegen den „logischen Positivismus“ opponierte.

Diese Begegnungen haben einen leichten Hauch von Ironie. Nach dem ersten Zusammentreffen mit Schlick schreibt Wittgenstein an Engelmann: „Jeder muß den anderen für verrückt gehalten haben.“ Bei späteren Zusammenkünften lehnte es Wittgenstein ab, über Philosophie zu diskutieren, sondern bestand darauf, den Mitgliedern des Wiener Kreises Gedichte vorzulesen, besonders Gedichte von Rabindranath Tagore. Nur gelegentlich ließ er sich in eine offene philosophische Diskussion ein. Auch da konnte er sich leichter mit Schlick und Waismann verständigen als mit Carnap und den anderen, radikaler positivistischen Mitgliedern.

Die Unterschiede, die sie trennten, waren nun klar genug. Die Diskussionen auf dem Gebiet der philosophischen Mathematik verliefen in aufbauendem Geist, und auch die Gespräche, von denen Waismann berichtet, bewegten sich auf diesem allgemeinen Gebiet. Doch stieß man weiter vor, entstand Uneinigkeit. Wir merken zum Beispiel, daß Schlick einen empirizistischen Standpunkt über die Wahrnehmung in der Tradition von Locke, Hume und Mach einnahm. „Sie sagen, daß die Farben ein System bilden. Meinen Sie damit etwas Logisches oder Empirisches? Nehmen wir an, jemand ist sein Leben lang in ein rotes Zimmer gesperrt, in dem er nur Rot sehen konnte ... Würde er sagen: ‚Ich sehe nur Rot, doch es muß auch andere Farben geben.‘?“

Wittgensteins Antwort erinnert an die Antwort, die Kant Hume gab: nämlich, daß alle Wahrnehmungen die Bildung eines Urteils zur Folge haben: „Ich sehe nicht rot, sondern, daß die Azalee rot ist. Daher sehe ich auch, daß sie nicht blau ist ... Entweder es gibt eine Sachlage, die beschrieben werden kann, wobei die Farbe Rot ein Farbsystem voraussetzt, oder ‚rot‘ bedeutet etwas ganz anderes, und es wäre daher unsinnig, von einer Farbe zu sprechen.“ Bald wurde Wittgenstein die Ursache dieser Meinungsverschiedenheiten klar. Obwohl der logische Symbolismus der „Satz-Rechnung“ geeignet war, Mathematik zu diskutieren, lenkte der Erfolg auf diesem Gebiet von den Schwierigkeiten ab, die sich ergaben, wenn man sie auf den Rest der Sprache anwandte. So bemerkte er am 22. Dezember 1929: „Bei der Schaffung der logischen Symbolik hatten Frege, Peano und Russell nur ihre Anwendung auf die Mathematik im Auge und berücksichtigten nie die Darstellung wirklicher Sachverhalte.“

Wittgenstein selbst war jedoch im Tractatus mit einer formalen Analyse der Sprache als Darstellung nur allzu schnell zufrieden und hatte den Möglichkeiten der formulierten Darstellung, wie sie im Sprachgebrauch des täglichen Lebens angewendet wird, zu wenig Beachtung geschenkt. Selbst in der Physik kann (wie Hertz beweist) ein mathematisches System nur dann auf die reale Welt angewendet werden, wenn man durch die Heranziehung bestimmter Methoden die mathematischen Symbole mit den empirischen Maßen in Beziehung bringen kann. So war es also ein Irrtum, die Existenz einer selbsterklärenden universalen Verbindung der Sprache mit der Wirklichkeit für gegeben anzunehmen. Im Gegenteil, die Kernfrage stellte sich nun so: „Auf welche Weise schaffen die Menschen eine Verbindung zwischen Sprache und gegenständlicher Welt?“

UM ZU EINER Sprache zu kommen, mit der man „Sätze“ formen kann, müssen wir daher „Bilder von Tatsachen“ machen. Letzten Endes erhält die Sprache ihren Sinn durch die Art und Weise, in der wir unsere Ausdrücke innerhalb der Auseinandersetzung mit der Welt anwenden. Sie erhält ihn weder allein durch die innere Artikulation noch durch den rein „bildhaften“ Charakter der Ausdrücke selbst. So konnte Wittgenstein mit dem Schreiben des Tractatus sein Vorhaben nicht völlig befriedigend durchführen. Seine frühere Lösung des „transzendentalen“ Problems — die Darstellung der Sprachgrenze — war in Bildbeziehungen abgefaßt, die (wie er jetzt nur allzu deutlich sah) bestenfalls eine hilfreiche Metapher waren. Jetzt wurde er mit dem komplementären Problem konfrontiert, und zwar zu zeigen, daß jeder sprachliche Ausdruck, ob bildhaft oder nicht, nur dann sprachliche Bedeutung erhält, wenn er im menschlichen Leben Anwendung erhält.

DAS WAR DER Ausgangspunkt für Wittgensteins charakteristische Untersuchungen der späten Periode. Er beschäftigte sich nicht mehr mit der formalen „Struktur“ der Sprache oder mit irgendeiner angenommenen Ähnlichkeit des Aufbaues zwischen „Sätzen“ und „Tatsachen“. In der Physik kann es besondere Gründe geben, die eine direkte bildhafte Darstellung erfordern. Sonst gibt es kaum einen Grund, die „Sätze“ unserer Sprache als „Bilder“ von „Tatsachen“ zu betrachten. Von da an konzentrierte sich Wittgenstein auf die Sprache als Verhalten, auf die pragmatischen Regeln, die den Gebrauch der verschiedenen Ausdrücke bestimmen, auf die „Sprachspiele“, in denen diese Regeln wirksam sind, und auf die weitgefaßten „Lebensformen“, die schließlich diesen Sprachspielen ihre Bedeutung geben.

Der Kern des „transzendentalen“ Problems hörte auf, im formalen Charakter der sprachlichen Abbildung zu liegen, und wurde statt dessen ein Element „der natürlichen Geschichte des Menschen“. Anders als Kant, der sich konsequent gegen jede Tendenz wehrte, die die Philosophie in „bloße Anthropologie“ zu kehren drohte, gelangte Wittgenstein zu der Ansicht, das philosophische Streben sei ein menschliches Sichselbstverstehen — „die Sprache ist unsere Sprache“, wie er zu sagen pflegte ... Doch trotz der Verlagerung des Brennpunktes blieb die weitere Beschäftigung der späten Jahre die gleiche wie in seiner Jugend: die Gedanken Kants und Schopenhauers zu vervollständigen. Seine zentrale Aufgabe sah er noch immer darin, von innen heraus die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks zu erweitern, ebenso vor Augen zu führen, wohin das Streben, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, führen kann; entweder, wie bei Moore, in ein philosophisches Geschwätz, das begriffliche und empirische Fragen durcheinanderbringt, oder im Gegensatz dazu, wie bei Heidegger, zu dem religiösen Versuch, das an sich Unsagbare auszusprechen. Ich erinnere mich an eine Bemerkung, die er bei einem „At Homes“ machte: „Manchmal kommen wir in das Arbeitszimmer eines Mannes, in dem Bücher und Papiere über den ganzen Raum verstreut sind, und man sagt ohne zu zögern: ‚So ein Durcheinander, hier muß unbedingt aufgeräumt werden.‘ Ein anderes Mal kommen wir in ein Zimmer, in dem es wie im ersten aussieht, aber nachdem wir uns umgeschaut haben, wissen wir, daß alles so gelassen werden muß, wie es ist. Denn hier hat selbst der Staub seinen Platz.“

Der gleiche humanistische, kultivierte Wiener, der als junger Mann die Mechanik von Hertz und die Thermodynamik von Boltzmann beherrschte, der mit Zwanzig eine führende Rolle in der Entwicklung der symbolischen Logik spielte, der im Alter von dreißig die Philosophie aufgab und sich anderen Beschäftigungen zuwandte — eben dieser Mann empfiehlt mit fünfzig Jahren seinen Hörern, sich genauer damit auseinanderzusetzen, wie die Kinder die Standardverhaltensmuster lernen, in denen unsere Sprache eine praktische Funktion hat, aber auch mit der Möglichkeit einer metaphysischen Verwirrung, falls wir uns der praktischen Funktion unserer Sprache nicht ganz deutlich bewußt sind. Trotz all der scheinbaren Richtungsänderungen wurde diese lange intellektuelle Odyssee von einer konstanten, kompaßgleichen Haltung gesteuert. Ein Mensch kann dem Ausspruch Sokrates „Erkenne dich selbst“ nur dann folgen, wenn er die Reichweite und die Grenze des eigenen Verstehens kennt. Und das bedeutet vor allem — Verstehen der Reichweite und Grenze der Sprache, die das wichtigste Instrument der menschlichen Verständigung ist.

DIESE TIEFE Kontinuität in Wittgensteins Denken spiegelt sich in der Loyalität und Bewunderung für Heinrich Hertz wider, die zeit seines Lebens währte. Er erfuhr zuerst durch Hertz, wie man in der Lösung der „transzendentalen“ Frage weiterkommen könne. Es war auch Hertz, dem er sich in den späten vierziger Jahren zuwenden sollte, um seine klassische Beschreibung der philosophischen Schwierigkeiten zu geben: in einem Abschnitt in der Einleitung zu Hertz’ „Prinzipien der Mechanik“ beschreibt er die Verwirrung in den Debatten des neunzehnten Jahrhunderts, bei denen es um das Wesen von Kraft und Elektrizität ging:

Warum fragen die Leute nicht so: was ist das Wesen des Goldes, oder was ist das Wesen der Geschwindigkeit? Kennen wir das Wesen des Goldes besser als das der Kraft? Können wir mit Hilfe unseres Vorstellungsvermögens, durch unsere Worte überhaupt das Wesen irgendeiner Sache vollständig darstellen? Sicher nicht. Ich bilde mir ein, daß der Unterschied darin liegen muß: mit den Begriffen ‚Geschwindigkeit‘ und ‚Gold‘ verbinden wir eine große Anzahl von Beziehungen zu anderen Begriffen, und zwischen all diesen Beziehungen finden wir keine Widersprüche, die uns ärgern. Wir sind deshalb zufrieden und stellen keine weiteren Fragen. Doch rund um die Termini ‚Kraft‘ und ‚Elektrizität‘ haben wir mehr Beziehungen gehäuft, als zwischen ihnen möglich sind. Wir haben deshalb ein ungutes Gefühl und möchten die Dinge geklärt wissen. Unser wirrer Wunsch findet Ausdruck in der wirren Frage nach dem Wesen von Kraft und Elektrizität. Doch die Antwort, die wir wollen, ist nicht wirklich die Antwort auf diese Frage. Man kann sie nicht durch das Finden neuer vielfältiger Beziehungen und Zusammenhänge beantworten, sondern muß die Widersprüche in den Beziehungen, die wir bereits kennen, beseitigen, und das vielleicht durch die Reduzierung ihrer Zahl. Wenn diese unangenehmen Widersprüche beseitigt sind, wird die Frage nach dem Wesen der Kraft nicht beantwortet sein, doch unsere Gedanken werden keine illegitimen Fragen mehr stellen, wenn sie nicht mehr gequält werden.

Damit können wir die historische Analyse von Wittgensteins intellektueller Entwicklung abschließen. Ein vollständigerer und mehr technischer Bericht über seine Philosophie hätte sich mehr mit seinen spezifischen Argumenten befassen können: zum Beispiel mit seiner Methode der „Wahrheitstabellen“, seiner allgemeinen Theorie der „Satzfunktionen“ und seiner Behandlung wesentlicher Sätze als „Tautologien“, ebenso mit seiner späteren Analyse des Sinnvollen als „Gebrauch“, seiner Polemik gegen eine „Privatsprache“ und seinen Ansichten über die Beziehungen zwischen „Sprachspielen“ und „Lebensformen“. Meine Aufgabe war es aber nicht, einen vollständigen Bericht zu geben, sondern einen zusammenhängenden. Ich habe anschaulich zu rnachen versucht, daß diese detaillierten technischen Untersuchungen nicht isolierte, eigene, sich selbst genügende Übungen in symbolischer Logik oder angewandter Semantik waren, sondern die vielen selbstverständlichen Folgen einer einzigen, tiefen kontinuierlichen Auseinandersetzung. Wenn ich das sage, so nicht, um Wittgenstein einfach ohne Einschränkung als nachkantianischen Existentialisten abzustempeln. Das wäre genauso grotesk und karikierend, wie wenn man ihn einfach als mathematischen Logiker, logischen Positivisten oder Sprachanalytiker kennzeichnen wollte. Denn er hatte von all dem etwas, doch nichts ausschließlich. Er ist ein Ganzheitsphilosoph, und es ist daher unmöglich, ihn zu engstirnig einzuordnen, wie Leute mit Prokrustesdenken mit ihren Akademiekollegen verfahren. Selbst die kürzeste, aber tatsachengetreue Darstellung von Wittgensteins Position spiegelt nicht nur seine völlig verschiedenartigen technischen Beiträge zur Philosophie wider, sondern auch ihre Wechselbeziehung, die erklärt, warum diese Beiträge besonders kennzeichnend für ihn waren.

So kommt man zu folgender Zusammenfassung: Ludwig Wittgenstein begann sich aus intellektuellen und ethisch-religiösen Gründen mit der Philosophie zu beschäftigen: erstere hatten ihren Ursprung in den transzendentalen Fragen Kants und Schopenhauers, letztere wurden von Kierkegaard übernommen und durch Tolstois Werke lebendig erhalten. Beide Interessengebiete lenkten seine Aufmerksamkeit auf die Reichweite und Grenze des sprachlichen Ausdrucks. Seine Beschäftigung mit diesen Problemen fand ihren Ausdruck auf vier verschiedene Arten.

Zuerst, als Student der angewandten Mathematik, hoffte er das „transzendentale“ Problem zu lösen, indem er die Ideen von Hertz und Boltzmann allgemein anwandte. Dann fand er in der Logik von Russell und Frege ein Hilfsmittel (und ein System), mit dessen Hilfe man, wie er glaubte, Reichweite und Grenze der Sprache deutlich machen konnte. Das Ergebnis dieses Versuches war sein „Tractatus Logico-Philosophicus“.

Nach einigen Jahren der Unterbrechung zur Philosophie zurückgekehrt, betrachtete Wittgenstein seinen „Tractatus“ von einer anderen Seite. Selbst in der Mathematik verlangen die tieferen Probleme, nicht die innere Artikulation der mathematischen Rechnung zu betrachten, sondern das die Regel befolgende Verhalten, infolgedessen diese Rechnungen ihre äußere Bedeutung erhalten. (Das ist das Hauptthema der Gespräche mit Waismann und Schlick.) Schließlich in Cambridge, in einer von F. E. Moore beherrschten philosophischen Atmosphäre, erweiterte er seine Analyse noch mehr, indem er zu beweisen versucht, daß die Bedeutung, Reichweite und Grenze jeder symbolischen Darstellung, linguistischen wie mathematischen, von den Beziehungen abhängt, durch die der Mensch sie in einen größeren verhaltensmäßigen Zusammenhang stellt.

Für den späten Wittgenstein war die „Bedeutung“ jedes Ausdrucks daher durch die regelentsprechende symbolische Tätigkeit bestimmt („Sprachspiele“), innerhalb derer die fraglichen Ausdrücke konventionell gebraucht werden. Diese symbolischen Tätigkeiten bezogen ihre Bedeutung von dem übergeordneten Muster der Tätigkeiten oder Lebensformen, deren wesentliches Element sie waren. Die endgültige Lösung des für Wittgenstein wichtigsten, des transzendentalen Problems, bestand darin, die mannigfaltigen Möglichkeiten des Zusammenhanges zwischen Lebensform und Sprachspiel zu erforschen und ihrerseits Reichweite und Grenze des Sagbaren abzugrenzen.

DER WERT einer solchen Zusammenfassung ist der: sie ist die Bestätigung der Kontinuität im Denken Wittgensteins, angefangen von den Gesprächen im Salon seines Vaters in den Jahren 1890, bis herauf zu seinen letzten Vorlesungen und „At Homes“ in Cambridge in den Jahren 1946/47. Doch wirft sie erneut zwei Fragen auf, die eine historischer, die andere philosophischer Art. Ich möchte zuerst die philosophische behandeln.

1. Ganz zu Beginn habe ich behauptet, daß die zwei philosophischen Hauptinteressen Wittgensteins — „Abbildung“ und das Problem des „Ethischen“ — in Beziehung zueinander stünden, doch trennbar seien. Die Schlußfolgerungen des „Tractatus“ hatten den offensichtlichen Verdienst, beide Fragen zur selben Zeit zu befriedigen. Denn die symbolische Festlegung der Grenze der Sprache, die der „Tractatus“ deutlich erkennbar macht, stellt die Ethik, die Werte, das Höhere, jenseits der Grenze des Sagbaren, womit er die ursprüngliche Haltung Kierkegaards neu bestätigt. Ab 1930 nimmt er immer noch den gleichen ethischen Standpunkt ein, jedoch in einem neuen philosophischen Zusammenhang, und es ist zweifelhaft, ob die neue Betrachtungsweise der Sprache seinen ethischen Standpunkt weiter unterstützt. Er kritisiert zum Beispiel Schlicks „Fragen der Ethik“ so (17. Dezember 1930): „Schlick sagt, daß die theologische Ethik zwei Anschauungen über das Wesen Gottes hat. Nach der seichteren Interpretation ist Gott gut, denn Gott will es. Nach der tieferen Interpretation will Gott Gutes tun, weil es gut ist. Meiner Ansicht nach ist die erste Auffassung die tiefere: gut ist, was Gott befiehlt. Denn das sperrt den Weg für jede Erklärung, warum es gut ist. Während die zweite Anschauung die rationalisierte, seichtere ist, die so tut, als ob das, was gut ist, auf eine intellektuelle Basis gestellt werden könnte. Die erste Anschauung macht ganz deutlich, daß das Wesen des Guten nichts mit Tatsachen zu tun hat und daher nicht durch einen Satz erklärt werden kann.“ Wittgenstein fragt weiter: „Spielt die Frage eine entscheidende Rolle in der Religion?“ Es scheint, als nehme die Beantwortung dieser Frage seine spätere Anschauung von der „Sprache als Verhalten“ vorweg.

Ich kann mir sehr gut eine Religion ohne Doktrinen vorstellen, so daß nichts gesprochen werden muß. Es ist daher klar, daß die Essenz der Religion nichts mit dem zu tun haben muß, was gesagt wird; wird aber etwas gesagt, so ist es ein Bestandteil einer religiösen Handlung, aber keine Theorie ...

„Aha“, sind wir versucht zu sagen, „die religiösen Sprachspiele erhalten ihre Bedeutung aus den religiösen Lebensformen, von denen sie ein Teil sind.“

Hier taucht die große Schwierigkeit auf, denn Wittgenstein sagt weiter: „Die Frage, ob die verwendeten Worte wahr, falsch oder unsinnig sind, erhebt sich nicht. Religiöse Ausdrücke sind keine Gleichnisse, denn sonst müßten sie auch in der Alltagssprache ausgedrückt werden können.“

Der Begriff „Gleichnis“ wird hier eher im Rückblick auf eine „abbildende“ Sprachauffassung verwendet als im Hinblick auf die Verhaltenssemantik der „Philosophical Investigations“. Später warnt Wittgenstein davor, anzunehmen, alles in der Sprache sei wahr, falsch oder sinnvoll, weil es ein Gleichnis darstellt, er beweist hingegen, daß die Sprache sinnvoll ist, weil sie einen Bestandteil einer Handlung ausmacht. Wenn der endgültige Übergang vollzogen ist, wird er den Gegensatz von wörtlich beschreibendem Ausdruck (Sprache als Gleichnis) und rituell angewandter Sprache (Sprache als Handlung) aufgegeben haben. Mit diesem Schritt wird er den Unterschied zwischen dem „Sagbaren“, das von der Sprache erfaßt werden kann, und dem „Transzendentalen“, das, dem Wesen der Dinge entsprechend, unausdrückbar bleibt, abgebaut haben. Die daraus resultierende Problematik sieht folgendermaßen aus:

In dieser zweiten Phase gibt Wittgenstein zu verstehen, daß Ethik und Religion ihre eigenen Lebensformen haben, in denen ethische und religiöse Sprachspiele — auf ihre besondere Art — genauso aussprechbar, sinnvoll und sogar wahr oder falsch sein können wie alle anderen. War er daher durch seine späteren Argumente nicht gezwungen, die Dichotomie des Ausdrückbaren (oder Tatsächlichen) und des Transzendentalen (oder Ethischen) aufzugeben?

Aus den Gesprächen über religiösen Glauben, die in der Sammlung von Fr. Barrett enthalten sind, geht hervor, daß sich Wittgenstein nach wie vor nicht über den Charakter religiöser Gespräche im klaren ist. Die formellen Schriften der letzten Jahre berühren dieses Thema nur in einzelnen Aphorismen — seltsamen parenthetischen Wendungen, wie zum Beispiel „Theologie als Grammatik“. Sie geben keine genaue Antwort auf die zentrale Frage, ob auch das religiöse Gespräch ein legitimes System sinnvoller Sprachspiele enthält. Inzwischen gibt es eine Reihe modernistischer Theologien, die nur zu gerne bereit sind, Wittgensteins letzte Methode als Basis für einen theologischen Gegenangriff zu gebrauchen, und den religiösen Diskurs als Bestandteil der religiösen Handlung analysieren.

SOVIEL über die wichtigste philosophische Frage, die in den letzten Büchern Wittgensteins unbeantwortet bleibt.

Meine letzte, die historische Frage, beschäftigt sich mit den Quellen, aus denen Wittgenstein das Material für seine philosophischen Lehren der letzten Jahre bezog. Ich frage, wie kam er zu seiner letzten Ansicht über Semantik, als Teil der „natürlichen Geschichte des Menschen“? Man ist geneigt zu sagen: Warum sollte er das Material überhaupt von irgendwoher bezogen haben? Warum sollte er nicht selbst zu all diesen Überlegungen gekommen sein? Und werden nicht die Erfahrungen, die er als Lehrer in den zwanziger Jahren gemacht hat, seine Aufmerksamkeit auf das Sprachelernen als fruchtbare Quelle philosophischer Beispiele gelenkt haben? Hat es also anderer Quellen von außen für seine Ideen und Erläuterungen bedurft? Diese Frage ist soweit berechtigt. Überlegt man sich aber, wieviel man aus der Betrachtung des historischen Hintergrundes des „Tractatus“ erfahren hat, muß man nach möglichen historischen Quellen für das Material, das in „Zettel“ und den „Philosophical Investigations“ vorhanden ist, Ausschau halten.

Jedenfalls waren Wittgensteins spätere Gedankengänge nicht ohne zeitgenössische Parallelen. Durch Zufall habe ich gleichzeitig Wittgensteins eben erschienene „Zettel“ und C. S. Vygotskys Buch „Gedanken und Sprache“ — erstmals 1934 in Moskau erschienen — in die Hand bekommen. [3]

Beim abwechselnden Lesen der beiden Bücher war eines das Echo des anderen. Die theoretischen Parallelen, die allgemeine intellektuelle Haltung, sogar der Tonfall der beiden Männer waren so ähnlich und lagen zu eng beisammen, um völlig unabhängig voneinander zu sein. Obwohl Vygotsky sein Buch 1930 als Schüler von Pawlow in Rußland geschrieben hatte, konnte er oder kann ihn Wittgenstein wohl kaum persönlich gekannt haben. So möchte ich zum Abschluß dieses Essays die Aufmerksamkeit auf eine merkwürdige, unbeachtete Begebenheit lenken, die vielleicht gerade hier von gewisser historischer Bedeutung sein kann.

AN JENEM TAG im Frühjahr 1927, als Wittgensteins Schwester, Margaret (Mrs. Stonborough), endlich Schlick und Wittgenstein zusammenbrachte, waren auch zwei andere Gäste anwesend. Brian McGuiness, der Verleger der „Engelmannbriefe“ und der „Waismann-Aufzeichnungen“, erwähnte sie am Rande, fand es aber nicht der Mühe wert, über sie Erkundigungen einzuziehen, noch fand er im Index Platz für ihre Namen. So blieben sie einfach im Text, wie die anonyme „Person von Porlock“, die in Coleridges poetischer Phantasie über Xanadu auftaucht als „Professor Bühler, der Psychologe, und Frau Bühler“.

Wer waren also diese Bühlers? Die vollständige Beantwortung dieser Frage ergäbe einen neuen Essay. Denn Karl Bühler war nicht einer unter vielen Psychologen. Ganz im Gegenteil, er war einer der Hauptbegründer der Tradition moderner Entwicklungspsychologie: in der Forschung über Sprache und geistige Entwicklung, als deren spätere Exponenten Vygotsky und Jean Piaget angesehen wurden. (Vygotsky bezieht sich ausführlich auf K. Bühlers Buch „Die geistige Entwicklung des Kindes“, erschienen 1927.) Und noch weniger war Charlotte Bühler bloß Frau Professor. Sie war ebenfalls selbständige Psychologin, und manche hielten sie sogar für schöpferischer als ihren Mann. (Ihr Buch über soziologische und psychologische Studien des ersten Lebensjahres war ebenfalls 1927 erschienen.) Und schließlich war Karl Bühler auch einer der Hauptmitarbeiter an der modernen Sprachtheorie. In einer „Sprachtheorie“ (1934) analysiert er zum Beispiel den Prozeß der linguistischen Kommunikation mit großem Einfühlungsvermögen und Scharfsinn.

Jedem, der an den historischen Ursprüngen von Wittgensteins späten Gedanken interessiert ist, möchte ich sagen: „Übersehen Sie die Bühlers nicht!“ Für alle, die 1927 in Wien lebten und sich mit „der natürlichen Geschichte des Menschen“ beschäftigten und im speziellen mit der Rolle, die die Sprache in den weitergefaßten menschlichen Lebensformen spielt, war es ein Muß, die Gedanken von Karl und Charlotte Bühler über Psychologie und Sprache zu Rate zu ziehen. [4]

Obwohl es immerhin möglich wäre, daß Wittgenstein zu den Ergebnissen der „Philosophical Investigations“ und der „Zettel“ gelangt ist, ohne die Arbeiten der Freunde seiner Schwester gekannt zu haben, wäre dieser Zufall doch höchst erstaunlich gewesen. Nach all diesen Fakten fragt man sich, ob die Anwesenheit der Bühlers im Hause Margaret Wittgenstein-Stonboroughs an jenem Tag im Jahr 1927 wirklich nur ein Zufall war? Möglicherweise hat aber Wittgenstein die Bühlers auch persönlich gekannt, ihre Arbeiten studiert und — wie Vygotsky — Wichtiges für seine späteren Arbeiten aus ihrem Beitrag zur Entwicklung der Psychologie und Sprachtheorie erfahren.

[1Ich bin näher auf die Beziehung zwischen Wittgenstein und Hertz in einem Aufsatz mit dem Titel „From Logical Analysis to Conceptual History“ eingegangen, der in einer Sammlung von Aufsätzen über das Thema: „The Legacy of Logical Positivism for the Philosophy of Science“, herausgegeben von Stephen Barker und Peter Achinstein, Johns Hokpins Press, erscheint.

[2Ich möchte Allen Janik danken, der mich auf den Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal (1902) aufmerksam machte, ein Beitrag, der ebenfalls den Hintergrund der Entstehung des „Tractatus“ beleuchtet. Dieser Brief enthält ebenfalls Gedanken zum Problem der Sprachgrenze.

[3Siehe englische Übersetzung: L. S. Vygotsky „Thought and Language“ (M.I.T. Press 1962). Zwischen Vygotskys Auseinandersetzung mit der Beziehung von Gedanke und innerer Sprache und den Bemerkungen zu einigen Hauptfragen in „Zettel“, besteht eine starke Parallele, paras. 100 ff. Einige Aphorismen Vygotskys haben den strengen Wittgensteinschen Ton. Zum Beispiel: „Das Wort ist der Mikrokosmos des menschlichen Bewußtseins“ und „Der Gedanke ist wie eine Wolke, die einen Regen von Worten ausschüttet.“

[4In einem Gespräch hat Professor Theodore Mischel von der Colgate-Universität die Bedeutung von Karl Bühlers Werk für das Verständnis des späten Wittgenstein bestätigt. Die ganze Kontroverse, in die die Psychologen der Würzburger Schule über „bildlose Gedanken“ vor und nach dem Ersten Weltkrieg verwickelt waren, veranlaßte Bühler, sich genau auf diese Gedanken zu konzentrieren — die Sprache als Träger der Absichtlichkeit, womit er das Bewußtsein von Regeln, an Stelle von Bildern, meint —, eine Theorie, die Wittgenstein später so vortrefflich in der Philosophie angewendet hat. Wenn ich hier Bühler hervorhebe, um einen Aspekt deutlich zu machen, setze ich — wie allgemein anerkannt — die Beziehung des späten Wittgenstein zu Jasirow, Kafka und Spranger voraus. Wie Robert Vogelin von der Universität Yale betont, hat Eduard Spranger bereits 1914 ein sehr erfolgreiches Buch in der Neo-Kantschen Tradition über „Charakterologie“ herausgebracht, das den Titel „Lebensformen“ trägt. Bis 1930 hatte dieses Buch seine siebente Auflage erreicht und 28.000 Stück waren verkauft, so daß es fast ausgeschlossen ist, daß Wittgenstein von der Existenz dieses Buches nichts gewußt haben sollte, als er dessen Titel für seine eigenen Zwecke übernahm.

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