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Oktober
1995

Der Nationalsozialismus im Philosophischen Institut

Jetzt heißt das Philosophische Institut Institut für Philosophie. Unter dem Nationalsozialismus hat es sich nicht wesentlich von anderen Universitätsinstituten der Philosophie in Österrreich und von anderen Instituten der Universität Wien unterschieden, weder vor dem Anschluß, noch während des Anschlusses, noch nach 1945. Ich bin keineswegs prädestiniert, über den Nationalsozialismus im Philosophischen Institut zu schreiben. Mit diesem Thema habe ich mich nur wenig beschäftigt. Als Zeitzeuge kann ich nicht gelten. Erst im Studienjahr 1954-55 war ich erstmalig (als Student damals) an der Universität. Doch wurde ich aufgefordert, zu diesem Thema zu schreiben und ich komme der Aufforderung gerne nach. Daß ich dazu aufgefordert wurde, hat wohl damit zu tun, daß ich dem Institut angehöre — ich bin Honorarprofessor und Lehrbeauftragter — und daß ich jüdischer Abstammung bin und ein jüdisches Schicksal habe. Ich möchte mich meiner Aufgabe entledigen, indem ich zuerst auf informative Quellen verweise und dann einige Bemerkungen anfüge.

Der von Franz M. Wimmer und mir herausgegebene Sammelband Der Geistige Anschluß, Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930-1950 (WUV-Universitätsverlag 1993) enthält relevante Beiträge, Dokumentationen und (auch kontroversielle) Hinweise und Diskussionen über die Ordinarien der Nachkriegszeit: Erich Heintel, Leo Gabriel und Friedrich Kainz. Die umfangreiche und penible Arbeit von Gernot Heiß (Institut für Geschichte) möchte ich als Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema Nationalsozialismus im Philosophischen Institut als unerläßliche Grundlage hervorheben. Unsere Vorbemerkung enthält eine Bibliographie von früher erschienenen Schriften zum Thema. Unter den angeführten Aufsätzen scheinen mir die von Rudolf Haller (für die Nachkriegszeit), von Reinhard Knoll (wegen der geheimnisvollen Referenz auf einen „Professor H.“, über den er Information aus dem Nachlaß seines Vaters, dem Vorsitzenden der Entnazifizierungskommission der Wiener Universität, Professor August Maria Knoll, besitzt) und von Friedrich Stadler (für die Zwischenkriegszeit von besonderer Wichtigkeit). Aufmerksam machen möchte ich auch noch auf den im FORVM vom 22. April 1994 (Nummer 481-484) erschienen Aufsatz von Georg Leaman über „Die Universitätsphilosophen der Ostmark“.

Meine Bemerkungen möchte ich als Problematisierung von einigen Standpunkten einbringen, die sich als Reaktionen auf des öfteren gestellten Fragen formulieren lassen. Weiter Forschung, weiteres Nachdenken und Diskussionen könnten zumindest zu einer Vertiefung der Problematik führen. Meine vorgeschlagenen Formulierungen dieser Fragen sind folgende:

Hat die deutsche Tradition der Philosophie, besonders als Deutscher Idealismus, die nationalsozialistische Weltanschauung vorbereitet oder ist sie mit dieser verwandt?

Wurden die schon im Ständestaat der Ersten Republik abgelehnten und aus dem Großdeutschen Reich (1938-1945) vertriebenen Logischen Positivisten (Empiristen) ihrer Lehrbefugnis entledigt, oder verfolgt, oder vernichtet, weil sie philosophisch unerwünscht waren oder weil sie Juden, Judenstämmlinge, oder „jüdisch versippt“ waren?

Sind die Vertreter des Positivismus (Analytische Philosophie) Anti-Nazis und schon durch ihre Philosophie demokratisch eingestellt?

Diese Fragen lassen sich nicht mit einem vereinfachenden „ja“ oder nein“ beantworten. Die Geschichte und Geistesgeschichte Deutschlands und Österreichs ist so stark vom Antisemitismus durchdrungen, daß der deutsche Idealismus schlecht (oder nicht allein) verantwortlich für nationalsozialistische Anschauungen gemacht werden kann. (Paul Lawrence Rose versucht eine die deutsche Geistesgeschichte durchgehend bestimmende antisemitische Tradition aufzuzeigen. Sein erster Band, Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner ist bereits erschienen.) Diese antisemitische Tendenz ist so stark, daß sie häufig im 19. und im ersten Drittel dieses Jahrhunderts auch bei deutschen Kulturträgern jüdischer Abstammung anzutreffen war. Das intellektuelle Element im Nationalsozialismus wird m.E. überschätzt, besonders von Angehörigen der Universität. Z.B. scheinen mir Überlegungen über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit nationalsozialistischer Rassentheorien irrelevant. Sie haben faktisch in der Motivation von Nazis keine Rolle gespielt. Theorie hat viel weniger eine Rolle gespielt als — sagen wir — phänomenologische Erfassung des jüdischen Wesens, bzw. Erfassung dessen, was für jüdisches Wesen gehalten wurde. Die naturalistische Basis des Nationalsozialismus und deren philosophische Verteidigung oder Ablehnung ist irrelevant dafür, ob jemand Nazi und/oder Antisemit war oder nicht. (Ich schreibe „und/oder“, weil einerseits der Antisemitismus bei einem Nazi stärker oder schwächer hervortreten kann, andererseits es Antisemiten gab und gibt, die keine Nazis waren bzw. sind).

Von einem logischen Standpunkt aus betrachtet kann ein (Logischer) Positivist, oder Sprachanalytiker sehr wohl ein Nazi sein. Wenn man eine Wertlehre des Emotivismus vertritt — eine historisch bedeutsame Preferenz bei Logischen Positivisten, bei Rudolf Carnap und Alfred Ayer nachzulesen, von dem Amerikaner C. L. Stevenson systematisch und detailliert ausgearbeitet — in welcher Werte letztendlich Ausdruck einer nicht weiter begründbaren Einstellung sind, dann kann die nationalsozialistische Weltanschauung und Einstellung (nationalistische Forderung nach Lebensraum, rassistische Ablehnung der Juden und Zigeuner) als „Stimme des Blutes“ vernommen und angenommen werden.

Die Nazis waren zu realistisch, um der Philosophie einen zu großen Wert im „Kampf um das völkische Dasein“ beizumessen. Sie hätten wohl Freud zugestimmt, der geschrieben hat: „... die Philosophie hat keinen unmittelbaren Einfluß auf die große Menge von Menschen, sie ist das Interesse einer geringen Anzahl selbst von der dünnen Oberschicht der Intellektuellen, für alle anderen kaum faßbar.“ Wenn sich jemand gegen die Nazis betätigte, versuchten sie ihn zu vernichten. Im Falle der Logischen Positivisten und besonders der Mitglieder des Wiener Kreises ging es darum, daß sie Juden waren durch Abstammung oder durch Heirat, in der Sprache der Nazis, „jüdisch versippt“.

Für das Nicht-Zurückholen emigrierter Universitätslehrer muß man wohl einerseits — was die Fakultätsmitglieder anbelangt — machtpolitische Motive angeben, niemand gibt gerne seinen Posten ab, den er bekommen hat oder bekommen könnte, andererseits philosophische. Selten wird jemand einen Philosophen auf einen Lehrstuhl ernenen wollen, dessen Philosophie er für falsch oder irreführend hält. Daß man als Theoretiker Vertreter weit entfernter Methoden und Theorien ablehnt, ist eine universale universitäre Einstellung, ja fast die Pflicht eines ernsten Gelehrten. Wo es um die Wahrheit geht, kann es keine Toleranz geben. In Deutschland war die Situation etwas anders als in Österreich: 1) Die Deutschen akzeptierten vielfach die Verantwortung für das Geschehene, und 2) manche zurückgeholte Emigranten vertreten eine dem bodenständigen Deutschen Idealismus verwandte Philosophie, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule.

Was die Situation an der Universität Wien, und in Österreich überhaupt kennzeichnete, war und ist aber, daß es eine bodenständige Tradition der Philosophie gegeben hat, von Bolzano und Brentano bis Wittgenstein und Popper, die vom Ständestaat aus vorwiegend weltanschaulichen (und vom Dritten Reich aus rassistischen Gründen) abgelehnt wurde. Man kann sich fragen, ob eine Tradition fortgesetzt werden muß. Meines Erachtens stirbt sie gewöhnlich später an Selbstmord; die österreichische Tradition an der Wiener Universität aber, die als eine das Jahrhundert dominierende Philosophie gelten kann, ist nicht an Selbstmord gestorben, sondern sozusagen ermordet worden. Sie wurde durch keinen Professor seit dem Tode Moritz Schlicks im Jahre 1936 vertreten. Dies muß als Schande gewertet werden. Noch schändlicher und skandalös ist aber, daß eine Universität, die einen Carnap und einen Gödel habilitiert hat, keinen Ordinarius für Logik und Philosophie hatte und hat, der die Tradition von Frege, Russel, Wittgenstein, Carnap und Quine vertritt, weiterführt oder sich mit ihr auch nur beschäftigt.