FORVM, No. 460/461
Mai
1992

Der Osten war roth

Die neue Ausgabe der Werke von Joseph Roth, die Fritz Hackert und Klaus Westermann bei Kiepenheuer & Witsch herausgebracht haben, ist nach Art und Umfang beträchtlicher als jede alte. Der Zuwachs erklärt sich vor allem daraus, daß erstmals Roths vielfältige journalistische Arbeiten uneingeschränkt einbezogen wurden; sie füllen drei der sechs Bände, mehr als 3000 Seiten, und belegen, wie produktiv Roth als Journalist war. Die Annahme, damit liege das journalistische Werk Joseph Roth’s geschlossen vor, auch wenn, wie die Herausgeber es ausdrücken, „immer wieder ein weiterer Artikel“ entdeckt werden sollte, wäre jedoch irrig. Was im Tagblatt-Archiv gesammelt aufliegt, in besonderem Maße: Was Reiner-Joachim Siegel, der Roths Bibliographie schreibt, an unbekannten Arbeiten gefunden hat, ergäbe alles in allem einen weiteren dickleibigen Band. In ihn gehörte das hier abgedruckte Feuilleton des eben 24jährigen Joseph Roth, das Anfang 1919 in Max Winters »A.Z. am Abend« erschienen ist. E.F.

Die Wiener Boulvardzeitung »Der Abend« wurde 1915 gegründet. Herausgeber waren der Reihe nach Carl Colbert, ab 1.1.1929 sein Sohn Ernst, ab 28.11.1933 Siegfried Klausner. Die erste Ausgabe erschien am 14.6.1915, die letzte am 16.2.1934, als der beherzte, was die Führung anlangt, halbherzig unternommene Versuch sozialistischer und kommunistischer Abwehrkämpfer, die Demokratie in Österreich zu retten, mit Waffengewalt vereitelt worden war.

»Der Abend« war parteipolitisch zumeist unabhängig, nach Kriegsende eher kommunistisch, dann mehr sozialdemokratisch, stets linksradikal. „Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite der Schwächeren“ lautete die Parole, die Blatt und Herausgeber im Kopfe hatten.

Zu den gelegentlichen Mitarbeitern gehörte, so heißt es, [1] am Anfang seiner literarischen Karriere Joseph Roth. Er habe dort „Feuilletons“, [2] „Gedichte und Artikel“, [3] zumindest eine „Reportage“ [4] veröffentlicht. Belegt wird, belegbar ist davon wenig oder nichts; es handelte sich wohl in der Hauptsache um „kleine, nicht signierte“ Beiträge. [5] Wie immer Roths publizistische Tätigkeit beim »Abend« beschaffen gewesen sein mag, angesichts der trüben Quellenlage ist nur eines klar: Die diversen Zeitungen, für die er während des Krieges und darüber hinaus schrieb, wählte er nicht nach ideologischen Kriterien aus; Zufall und Gelegenheit bestimmten die Auswahl weitgehend, nur bedingt politische Absicht, vielmehr das Bestreben, schreibend an die Öffentlichkeit zu treten. [6] Wäre es anders gewesen, Roth hätte die bürgerliche gemieden und sich damit begnügt, in der Arbeiterpresse präsent zu sein.

Diesem Urteil vermag selbst die unbestreitbare Tatsache nichts anzuhaben, daß Joseph Roth insgesamt drei Gedichte im Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, der »Arbeiter-Zeitung«, [7] zwei Feuilltons in der »A.Z. am Abend« veröffentlicht hat, ferner einem ihrer hervorragenden Männer, dem Sozialreporter, langjährigen Reichsratabgeordneten und damaligen Vizebürgermeister von Wien, Max Winter, „Drei Sonette eines Proletariers“ handschriftlich zugeeignet hat; [8] denn wie alle Verse, die er in jungen Jahren veröffentlicht hat, lassen auch diese keinerlei parteipolitisches Mißverständnis zu. Daß sich in ihnen ein Prolet zu Wort meldet, wird niemand behaupten; wann wäre es einem solchem eingefallen — oder einem, dem es ernstlich darum zu tun war, die Arbeitersache zur eigenen zu machen —, Sätze zu schreiben wie:

Aus allen Straßen bricht nun Tag hervor,
wie sonnenreife Frucht, die Gott selbst säte —
und allen Menschen jubelt Klang im Ohr — [9]

Oder:

Da es noch Tag war, kannte ich dich nicht: —
Nun, da es Nacht, liebkos’ ich deine Nähe
und sinke in die Knie und rufe: wehe!
daß ich nicht sehen kann dein Angesicht! ...
 
Ich drückte kaum zum Gruße dir die Hand,
wir waren zungenfremde Weggenossen,
nun unser Blut vereint die Flur durchflossen,
weiß ich: Du bist mir nah und blutsverwandt.
 
Weil du mich schlugst, besitzest du mich ganz:
Um dich zu lieben, mußt’ ich dich erst morden!
O Bruder Mensch! vergib, daß ich erlag!
 
Doch bis vollendet dieser Höllentanz
Ist Licht in uns und Licht um uns geworden —
Sieh, Bruder Mensch: Durch Nebel wuchtet schon der Tag! ... [10]

Keine Frage: Hier wie allerorten im Frühwerk Joseph Roths müht sich ein angehender Schriftsteller, merklich befangen in vorgegebenen, konventionellen oder expressionistischen Sprachvorstellungen, seinen Ton zu finden; einen klassenkämpferischen stimmt er nirgendwo an. An proletarischem Bewußtsein fehlt es durchaus, wo einer, statt „im Angesicht der steinernen Paläste“ [11] aufzubegehren und sie für diejenigen zu fordern, die sie errichtet haben, „demutsvoll“ verharrt, „voll Bettlerscheu“ erstarrt und, ohne auf den Gedanken zu verfallen, die unterdrückten und gedemütigten Massen könnten den Klassenfeind bekämpfen, sich bis zu allumfassender Menschenverbrüderung versteigt. [12] Zweifellos haben Roths Gedichte über Krieg und Tod, etwa »Marschkompagnie«, [13] oder der Zug der »Mütter«, [14] die um ihre gefallenen Söhne trauern, in der »Arbeiter-Zeitung«, getragen von der Unerbittlichkeit, mit der dort, wenigstens in einigen Spalten, der Krieg „im Krieg gegen den Krieg“ [15] entbrannte, ihren angemessenen Platz gefunden; andererseits sind sie ohne weiteres austauschbar, hätten zwar nicht überall, doch ebensogut in liberalen bürgerlichen Blättern erscheinen können, ohne als klassenspezifisch oder parteilich zu befremden. In der Tat wurde eines der Sonette eines Proletariers, »O Bruder Mensch!«, im »Prager Tagblatt« veröffentlicht; [16] manch anderes, zum Beispiel das Gedicht »Soldaten«, das ebenda erschienen ist, [17] hätte wegen des pazifistischen Tons, auf den es gestimmt ist, in die »Arbeiter-Zeitung« gepaßt. Was hier wie dort als „pretiös melodische Vers- und Reimkunst“ [18] hervortritt, entsprang nicht kämpferischem Sozialismus, sondern „eher passivem“, nicht selten mystisch-religiösem „Empfinden“. [19] Über Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge verfügte der junge Schriftsteller nicht; in politischer Hinsicht war er naiv, kein braver Sänger der Partei wie zur selben Zeit Josef Luitpold Stern oder, im Roten Wien, Fritz Brügel, sondern ein unsicherer Kantonist, der seine Lektion erst lernen mußte.

Joseph Roth ging beim »Neuen Tag« in die journalistische Lehre. Er absolvierte sie mit bekanntem Erfolg, der ihn nach Berlin trug. Das Gesellenstück, das er mit seiner Arbeit über den »Neuen Hofpark« [20] ablegte, war ein starkes, entsprach jedoch nach polemischer Art und politischem Inhalt der Linie des Blattes. Um es zu begreifen, muß zweierlei als bekannt vorausgesetzt werden: daß Benno Karpeles, der Chefredakteur, viele Jahre Sozialist und verdienstvoller Genossenschaftsfunktionär gewesen war, als er nach dem Tod Viktor Adlers (November 1918) die Partei verließ; ferner, daß der »Neue Tag«, dessen Leitung er 1919 übernahm, zum Elbemühlkonzern gehörte und dem »Fremdenblatt« folgte, das als Sprachrohr des k.u.k. Außenministeriums in der Republik unmöglich geworden war.

Finanziell wurde das Blatt von Banken und Industrie ausgehalten; obwohl redaktionell unabhängig, stand es von Anfang an im Verdacht, auch politisch von den Geldgebern [21] beeinflußt zu werden. Die »Arbeiter-Zeitung« nährte ihn nach Kräften. [22] Benno Karpeles und seine Mitarbeiter setzten sich zur Wehr; sie gingen zum Gegenangriff über. Eines ihrer Ziele war Karl Renner, der Staatskanzler der Republik und — neben Otto Bauer — einer der maßgeblichen Führer der SDAP.

Anlaß und Vorwurf wurden der christlichsozialen »Reichspost« entnommen; er lautete, Renner habe trotz drängender Kohlennot „in einer Zeit, wo die Wiener an kalten Herden hungern“, [23] der „Wienerwald“ abgeholzt und „verheizt“ [24] werde, einen Sonderzug beansprucht, um eine private Reise zu machen — was sich im wesentlichen als wahr herausstellte, aber dementiert wurde; in seiner Replik, die in der »Arbeiter-Zeitung« veröffentlicht wurde, bestritt „Genosse Renner“, Amtsmißbrauch begangen zu haben. Er habe wie „jeder Volksbeauftragte“ lediglich das Recht verlangt, „daß ihm die Republik alle die Hilfsmittel, die er zur ordnungsgemäßen und rechtzeitigen Leistung seines Dienstes benötigt“, bereitstelle. Im übrigen sei er in einem normalen Zug gefahren, „der Hofzug“, den „das frühere Staatsoberhaupt benützt“ habe, wäre „außer Gebrauch“. [25]

Die Frage, ob sich die Leser auf Bericht und Gegendarstellung hin „ihren Reim“ [26] machten, ist unerheblich; festzuhalten, daß der »Neue Tag« die Gelegenheit benutzt hat, [27] um den sozialistischen Kanzler ans Ungereimte zu führen. Nicht zum ersten Mal; denn wenige Wochen zuvor hatte ihn bereits ein strebsamer junger Mitarbeiter, Joseph Roth, der Lächerlichkeit überantwortet. [28] Er unterstellte Renner kaiserliches Gehabe, weil er eine Wiese hinter seiner „Residenz“ hatte einzäunen lassen, empfahl ihm, dem Arbeiterführer, am Eingang seines „Hofparks“ eine Tafel anzubringen und mit den Worten zu versehen: „Odi profanum vulgus“ [29] und gab der »Arbeiter-Zeitung« nicht ohne Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung Ratschläge, wie sie es künftig mit der Hofberichterstattung halten solle.

Da von der Parteizugehörigkeit Renners schwerlich abgesehen werden kann, gab sich Joseph Roth außer als linientreuer Journalist auch als scharfzüngiger Kritiker zumindest der „rechten“ Sozialdemokratie zu erkennen, deren Repräsentant Renner war; so hatte er sie sich nicht vorgestellt. Der Fortschritt, den sozialistische Mitglieder der Koalitionsregierung bewirkten, das bleibende Verdienst, das sie sich erwarben, galt da gleichviel. Roth ignorierte die Abschaffung von Kinderarbeit und Arbeitsbüchern ebenso wie die Einführung des Achtstundentages, die Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe, des Ladenschlusses, von Arbeiterurlaub und Arbeitslosenversicherung. Betriebsräte, deren wichtige Aufgaben im Mai 1919 gesetzlich bestimmt worden waren, ließ er sozusagen links liegen; stattdessen kritisierte er ungerechtfertigte Privilegien der Arbeiterräte. [30]

Bei aller Kritik, die Roth an großen oder kleinen sozialistischen Funktionären übte — obwohl er sich nicht damit begnügte, sondern zahlreiche Reportagen über Arm und Reich verfaßte, die Sympathien für Verdammte dieser Erde bezeugen, gegen Unterund Obertanen schrieb, klerikale, völkische und monarchistische Reaktionäre, gegen Kriegsgewinner, Schieber, Spekulanten, und die „Umwertung aller Werte in — Börsenwerte“ [31] entschieden ablehnte: zum Agitator für die sozialistische Sache warf er sich in keinem seiner Beiträge für den »Neuen Tag« auf. Die Behauptung, er sei damals „in der Nähe des ‚linken‘ Flügels der ohnehin radikalen ‚Sozialistischen Partei Österreichs‘“ [32] gestanden, bleibt selbst da unerweislich, wo er sich offen zum proletarischen Klassenziel zu bekennen schien.

Ein „einziges Mal“, heißt es, in seinem Artikel über »Versuchsklassen«, habe Joseph Roth „ausdrücklich“ die „Position einer“, der sozialistischen „Partei“ eingenommen. [33] Das ist die Frage; keine, daß er für die von Otto Glöckel betriebene Schulreform mit Wärme eintrat. Aber bewies er damit „starkes sozialistisches Engagement“? [34]

Abgesehen davon, daß Glöckel politisch, nicht theoretisch, sondern praktisch, erst als Unterstaatssekretär für Unterricht, dann als Präsident des Wiener Stadtschulrates sozialistische Absichten verfolgte, also keineswegs „einer der führenden Theoretiker des Austromarxismus“ [35] war, schon gar nicht „einer der ‚Schöpfer‘ des ‚Austromarxismus‘“: [36] Zustimmung fand der fällige Versuch, das österreichische Schulwesen zu reformieren und den Bedürfnissen eines demokratischen Staates anzupassen, [37] auch im bürgerlichen Lager, zum Beispiel in der strikt antimarxistischen »Neuen Freien Presse«. [38]

Was Joseph Roth trug, ist politisch unbestimmt; er hoffte, das neue Schulsystem werde „ganz neue Menschen hervorbringen“; eine „Jugend“, die „nicht blindgehorsam und blutberauscht für Popanze in Kriege ziehen“ würde.

Sie wird das Leben lieben und die Arbeit und ein Geschlecht zeugen, das fern von hirnverbrannter Ideologie und hohlem Kitsch, haßwütigem Nationalismus und sklavischer Götzenverehrung, mitten im Tag stehend, Grenzen überbrückend und weltvereinigend, die Emporentwicklung der Menschheit sichern wird. [39]

Die Zuversicht die diesen Worten zu entnehmen ist, beansprucht ein weites Feld, das weltanschaulich nicht eingegrenzt werden kann. Ihr hoffnungsloses Gegenstück heißt Realität. Zur selben Zeit, da sich die Hoffnung hervorwagte, es könnte künftig besser werden und gut, machte sich Joseph Roth keine Illusionen, wie „die deutsche Jugend“, die österreichische eingeschlossen, in Wirklichkeit geartet war: „Revolutionsfeindlich, monarchistisch, ‚völkisch‘, säbelsehnsüchtig, purpurverlangend“. [40] Mit solchen Menschen war Staat, keine Republik zu machen.

Die Republik verhieß anfangs viel, aber der große Moment hatte ein kleines, Joseph Roth zufolge „das erbärmlichste“ [41] Geschlecht gefunden. Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Monarchie stellte er nüchtern fest, daß die Revolution keine „Erneuerung“, nur unbedeutende „Neuerungen“ [42] gebracht habe. Die Monarchie hatte den Namen gewechselt; sie hieß jetzt „Republik“. [43] Der Kaiser war gegangen, ein Volk von Untertanen geblieben, die kaiserlose eine fürchterliche Zeit. [44] Noch bedauerte es Joseph Roth nur ironisch, daß Österreich-Ungarn, will sagen: das alte Bruck-Kiralyhida den Bindestrich verloren hatte, zerfallen war. [45]

Sollte Roth, wie guter Glaube annimmt, „im Laufe seiner Tätigkeit am »Neuen Tag« den Weg „zum Sozialismus“ [46] eingeschlagen haben, in dessen Geist äußerte er sich, selten genug, erst in Berlin. Doch was besagt das; was besagt es, wenn er dort den Proletarier parteikonform ein „Opfer der herrschenden Klasse“ [47] nannte oder am Tag der Arbeit diese kurz und gut sozialdemokratisch als einen „Segen für die Arbeitgeber“ [48] begriff? War sich Joseph Roth, als er es schrieb, seines eigenen Klassencharakters bewußt, bewußt der klassenbedingten Natur seiner journalistischen Arbeit, die er einerseits für »Vorwärts«, »Lachen Links« und »Drache«, andererseits für die bürgerliche »Frankfurter«, die »Neue Berliner Zeitung« und den »Börsen-Courier« leistete?

Als der »Neue Tag« im Oktober 1919 den Finanzier wechselte, nahm die »Arbeiter-Zeitung« dies zum Anlaß, „die anständigen Leute“ in der Redaktion, namentlich „Herr(n) Alfred Polgar“ zu fragen, wie sich sich dazu stellten, „daß sie sozusagen mit Haut und Haaren and das Bankhaus Kola verkauft“ worden seien.

„Bäumt sich“, hieß es abschließend, „ihr Ehrgefühl nicht dagegen auf, Hörige von Jobbern zu werden?“ [49] Wie Polgar darauf reagierte, ist unbekannt. Als eine späte Antwort auf peinliche Befragung lesen sich Joseph Roths Verse über die Natur, die der Wiener »Abend« am 5.2.1924 brachte.

Das Gedicht stellt „die segensreiche Ordnung dieser Welt“ ironisch in Frage; „leibeigene Eichkätzchen“ springen da herum, „als wären sie unabhängig vom Kapital“, ohne zu wissen, daß die Förster schon „auf hinterlistigen Pfaden“ unterwegs sind, um sie abzuknallen. Nicht minder ahnungslos tun die Schriftsteller; auch sie fallen am Ende dem kapitalistischen Moloch zum Ofer. Sie „wandern umher und werden Wunder gewahr/und schreiben Gedichte, Skizzen und Romane“, wie Roth es getan; „sie leben in ihrem göttlichen Wahne,/und sterben vom menschlichen Honorar.“

Eine Einsicht, die derart entschieden vorgebracht wird, hätte gewiß der erste Weg zur Besserung sein können; tatsächlich war Joseph Roth nicht erst 1924, sondern schon 1922 dunkel bewußt, daß es seinen „Sozialismus verleugnen“ hieß, wollte er „die Rücksichten auf ein bürgerliches Publikum teilen und dessen Sonntagsplauderer bleiben.“ [50] Wie wenig er damit Partei ergriff und Gesinnung bewies, erhellt aus dem unmittelbar folgenden Satz, mit dem er den eben eingenommenen Standpunkt sogleich wieder verließ; denn bei besserer Bezahlung und mehr Anerkennung wäre er, so schreibt er, bereit gewesen, seine „Überzeugung zurückzudrängen“. [51] Wo der Sozialismus so bereitwillig preisgegeben wird, gerät selbst der „rote Joseph“ ins Zwielicht, so daß nicht länger auszumachen ist, ob er je ein politisches Programm bot oder nur ein Wortspiel, das der Name ermöglichte und aus Gründen der Opportunität, dem Streben nach Geltung und Geld, gemacht wurde. Das einzige, was Roth in jungen Jahren mit der Sozialdemokratie verband, war der Abscheu vor klerikalen, monarchistischen, besonders völkischen Reaktionären, deren Treiben er von Anfang an wahrlich nicht unterschätzt hat. [52] Im Programmatischen sind kaum Gemeinsamkeiten erkennbar, wenige in der journalistischen Praxis.

Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb, kehrte Joseph Roth im Frühsommer 1923 nach Wien zurück. Die »Arbeiter-Zeitung« veröffentlichte den ersten Roman des „jungen deutschen Autors“. [53] Gleichzeitig, vorher und nachher, versorgte Roth außer dem »Prager« das „Neue Wiener Tag-« und »Abend-« sowie das »Neue 8 Uhr-Blatt« mit Feuilletons; [54] ausgewiesen als Sonderberichterstatter dieser, mit sozialistischen Augen betrachtet, kapitalistischen Zeitungen, fuhr er alsbald nach Deutschland.

Am Beispiel Karl Tschuppiks, der im »Neuen Tag« und im »Prager Tagblatt« zu ein und demselben Thema konträr Stellung genommen hatte, [55] tat Friedrich Austerlitz, der Chefredakteur der »Arbeiter-Zeitung«, 1919 dar, was er von „Überschleichern“, Überläufern „zu der kapitalistischen Welt“ hielt; nicht viel. Sie reden „der Spießbürgerwelt nach dem Munde“; geben vor, die „armselige Republik“ habe sie enttäuscht, in Wahrheit passe ihnen die „ganze Richtung“ nicht, „und ihre ‚Geistigkeit‘“ sei „nur Draperie“, Ihr „Haß auf die Sozialdemokratie“ sei typisch für die gesamte bürgerliche Intellektualität.

Man zeige uns doch in Österreich die Intellektuellen, die mit dem Herzen bei der Republik sind, die ihre schmerzlichen Wehen mitfühlend begleiten und die dem Sozialismus gegenüber gerecht sind.

Ausgenommen Karl Kraus, „der auch hier einzig und unvergleichlich“ sei „und dessen große Seele sich von Kleinlichkeiten nicht bestimmen“ lasse, seien „sie doch alle nur sinnlos vor Wut über die vertrackte Zeit“, in der „so dreiste Ansprüche“ an sie gestellt würden. [56]

Es sind harte Worte, die hier fallen. Treffen sie Joseph Roth, sprechen sie Karl Kraus auf Dauer frei? Roth wandte sich spätestens 1925 von der Sozialdemokratie völlig ab. Die ungeteilte Verachtung für die neue Spezies der „Spieß-Proleten“, [57] die seinen Briefen über den Internationalen Sozialistischen Kongreß in Marseille und den Reiseberichten aus der UdSSR zu entnehmen ist, [58] entsprach dem barschen „Weg damit!“, mit dem Karl Kraus ein Jahr später sozialdemokratische „Pfründner des Fortschritts“ abtat, „vom Bürgergift berauschte Parvenüs“, [59] „vom Machtfraß Vollgefressene, ins Bürokratische Eingespielte“. [60] Kraus stellte sich mit diesen Worten in die Nähe der Kommunisten, was diese wohlgefällig zur Kenntnis nahmen; Roth bezog sie in sein Verdikt ein. Er konnte der Presse entnehmen, wie es in der ungarischen Räterepublik zuging; über den gescheiterten Putschversuch der österreichischen Kommunisten im Juni 1919 berichtete er für den »Neuen Tag« aus eigener Anschauung, distanziert, spöttisch und mit äußerster Ironie.

Nein, revolutionärer Umtriebe war Roth nicht verdächtig. Was er über den „Schauspieler-Kommunisten“ Alexander Moissi dachte, gilt wohl auch für ihn:

Er ist nichts anderes, als ein Künstler, der Herz und Sinn hat für den leidenden Teil der Menschheit, der den Spießbürger haßt, wie ihn die Künstler aller Zeiten gehaßt haben, und der die graue Nivellierung der Menschheit ebenso fürchtet wie jeder andere Nicht-Kommunist. Der prinzipielle Unterschied liegt nur in der göttlichen Ungenauigkeit des Künstlerwesens, das keine scharfen politischen Grenzen kennt und dem die Nuancierung der Parteien Hekuba ist. Was so viele Künstler unserer Tage zu angeblichen Kommunisten macht, ist der tief in ihnen wurzelnde Haß gegen die Heiligkeit des Geldsackes, gegen das Graltum der feuerfesten Schränke, gegen das Banausentum der Kleinbürgerlichkeit, die Tartüfferie des Greislertums und die Philistrosität der Kaffeehausstuhlquatscher und Tarockspieler. [61]

Je länger er in Rußland sei, schreibt Roth im September 1926, desto unwahrscheinlicher komme ihm eine Revolution im Westen vor. Immer mehr glaube er, „daß Marx verschiedene allerwichtigste Faktoren mitzurechnen einfach vergessen hat. Daß eine Zeit kommen könnte, in der dank der Zivilisation alle Menschen Kapitalisten oder wenigstens psychisch Kapitalisten, ich meine Bürger werden könnten — hat er es bedacht?“ [62] Eine Frage rhetorischer Art, die er kurz darauf bündig und unmißverständlich beantwortet hat:

Rußland strebt nach Amerika, dort wo es am evangelischsten und provinziellsten ist. Maschinen und Moral nach amerikanischem Muster. Das bleibt zurück vom großen Feuer, dessen Widerschein wie eine Morgenröte war. [63]

Soweit Joseph Roth 1926. 1919 las man’s anders. Wer das Feuilleton gelesen hat, das im folgenden wiedergegeben wird, wird berührt sein, mit welcher Inbrunst er wenige Jahre zuvor Aurora beschwor. Klar ist, daß er damals das Herz auf dem rechten Fleck hatte; es schlug links und zwar heftig. Bei Anbruch des neuen, republikanischen Tags besang er Freiheit und allumfassende Menschenbrüderlichkeit in emphatischem Überschwang. Noch kannte er die Sowjetunion nicht; als er sie kennenlernte, sagte er sich sogleich von ihr „endgültig“ los. „Das Licht kommt vielleicht vom Osten, aber Tag ist nur im Westen“, [64] schrieb er nun, die frühere Gefühlsregung in Frage stellend, ins Tagebuch.

Kürzel:

  • W1 und 2: Joseph Roth, Das journalistische Werk. 1915-1923 bzw. 1924-1928, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1989 bzw. 1990
  • B: Joseph Roth, Briefe 1911-1939, hrsg. von Hermann Kesten, Köln-Berlin 1970

[11 David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974, 159

[2Fritz Hackert, Joseph Roth. Zur Biographie, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Heft 1, 1969, 164

[3Klaus Westermann, Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939, 20

[4Wie Anm. 1

[5Bronsen (Anm. 1), 186

[6Vgl. Bronsen (Anm. 1), 142 ff

[7Zwei Gedichte, »Marschkompanie« und »Lied der Glocken« wurden in die neue Werkausgabe aufgenommen (W1, 1102 f); das dritte, »Mütter« überschrieben, erschien in der Arbeiter-Zeitung vom 26.5.1917. Siehe Eckart Früh, Joseph-Roth-Gedichte in der AZ wiederentdeckt! In: AZ, 21.3.1980, Beilage. Der Titel stammt nicht vom glücklichen Finder.

[8Vgl. Eckart Früh, »Durch Nebel wuchtet schon ein Tag!« Gedichte von Joseph Roth, in: Neue Zürcher Zeitung, 28./29.9.1985

[9»Morgen« (vgl. Anm. 8)

[10»O Bruder Mensch«; W1, 1104

[11»Die Straße«; vgl. Anm. 8

[12Wie Anm. 8

[13W1, 1102

[14Arbeiter-Zeitung, 26.5.1917 (Anm. 7)

[15Die Fackel, Nr. 876, 29

[16Wie Anm. 10

[17W1, 1105

[18Ingeborg Sültemeyer, Das Frühwerk Joseph Roths 1915-1926. Studien und Texte, Wien-Freiburg-Basel 1976, 25

[19B, 35

[20W1, 155 f

[21Geldgeber waren Richard Schoeller, ab 1919 Richard Rola und andere.

[22Vgl. etwa: Meinungsfreiheit von Schoellers Gnaden, in: Arbeiter-Zeitung, 21.3.1919

[23Im Extrazug. Eine Reise des Staatskanzlers, in: Reichspost, 30.11.1919

[24Ein paar Worte, in: Der Neue Tag, 4.12.1919

[25Im Extrazug, in: Arbeiter-Zeitung, 7.12.1919

[26Wie Anm. 23

[27Siehe auch: Ein paar Worte, in: Der Neue Tag, 13.12.1919

[28Wie Anm. 20

[29Zu diesem Wort wird sich Joseph Roth 1930, in seinem Geburtstagsbrief an Gustav Kiepenheuer, bekennen (B, 165)

[30Vgl. W1, 43 f und 141 f

[31W1, 188

[32Sültemeyer (Anm. 18), 64

[33Westermann (Anm. 3), 108

[34Sültemeyer (Anm. 18), 63

[35Uwe Schweikert, »Der rote Joseph«. Politik und Feuilleton beim frühen Joseph Roth (1919-1926), in: Joseph Roth, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold München 1982, 45. — Glöckel hat sich als Schulreformer auch international einen Namen gemacht, ein austromarxistischer Theoretiker, vergleichbar mit Otto Bauer oder Max Adler, war er nicht.

[36Sültemeyer (Anm. 19), 59, Fußnote. Kurt Paupies zweibändiges »Handbuch der österreichischen Pressegeschichte« (Wien 1960), auf das sich Sültemeyer stützt, ist unbrauchbar, ungenau und voller Fehler.

[37Vgl. Otto Glöckel, Schulreform und Volksbildung in der Republik. Heft 4 der Reihe »12. November«, Wien 1919

[38Siehe Kurt Sonnenfeld, Rund um die Schulreform, in: Neue Freie Presse, 24.12.1923; auf heftigen Widerspruch stieß Glöckel allein in kirchlichen und christlichsozialen Kreisen, weil er den Zwang zu reliiösen Übungen in der Schule abschaffen wollte. Vgl. etwa: Die Pläne für das neue Schuljahr. Die Vorbereitungen der Regierung zur Schulreform und die Kulturkampfpläne Glöckels, in: Reichspost, 25.7.1919

[39W1, 263 f

[40W1, 233

[41W1, 172

[42W1, 173

[43W1, 49

[44„Es ist ‚alles beim Alten‘geblieben. Es ist nur eins anders: Der Alte [Wilhelm I., E.F.] ist nicht bei uns geblieben.“ (W2, 335)

[45W1,87 ff

[46Sültemeyer (Anm. 18), 61

[47W2, 159

[48W1, 1001

[49Schumpeter, Kola und Karpeles, in: Arbeiter-Zeitung, 17.10.1919

[50An Paula Grübel, 28.8.1922; B, 40

[51Ebd., infolgedessen ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Joseph Roth weiterhin im »Berliner Börsen-Courier«, dem er die Mitarbeit so halbherzig aufgekündigt hatte, gelegentlich Feuilletons veröffentlichte.

[52Siehe etwa W1, 321 f

[53An unsere Leser! In: Arbeiter-Zeitung, 4. und 6.10.1923. Daß Roth hier als deutscher Autor bezeichnet wird, sollte nicht zu falschen Schlüssen verleiten; vom Leitartikler bis zum Kulturredakteur schlug das Herz zwar links, aber gesamtdeutsch, nicht österreichisch.

[54Vgl. W1; zu den dort aufgenommenen Arbeiten kommen unbekannte hinzu.

[55Siehe dazu: In Wien und in Prag, in: Arbeiter-Zeitung, 22.8.1919

[56Die Überschleicher, in: Arbeiter-Zeitung, 9.11.1919; nach Stil und Inhalt zu schließen, hat Austerlitz diesen Artikel verfaßt.

[57An die Frankfurter Zeitung, 2.6.1926; B, 91

[58An Bernhard von Brentano, 22.8.1925 (B, 57) und Benno Reifenberg, 26.8.1925 (B, 59); was die Reise durch Rußland anlangt, siehe W2, 591 ff.

[59Die Fackel, Nr. 743, 4

[60Ebd. Nr. 795, 9

[61Josephus [Joseph Roth], Minister Moissi. Eine Unterredung mit dem Künstler, in: Der Neue Tag, 6.7.1919; ich verdanke die Kenntnis dieses Artikels Reiner-Joachim Siegel, dem (künftigen) Bibliographen Joseph Roths.

[62W2, 1009

[63W2, 1016

[64W2, 1019

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