Streifzüge, Heft 2/2001
Juli
2001

Der postfaschistische Sozialpakt

Der deutsche Staat in Gestalt des Ministeriums für Verbraucherschutz tötet und verbrennt, vernichtet Hekatomben von Rindern, Schafen und Schweinen, um die Verbraucher zu schützen, sprich, ihnen das Vertrauen in die Unbedenklichkeit des Fleischverzehrs zurückzugeben und sie so bei der Stange des qua Fleischverzehr zelebrierten Massenkonsums zu halten. Tierische Ressourcen werden massenhaft verschwendet, um die Möglichkeit ihrer nützlichen Verwendung zu erhalten. Dabei bringt, recht besehen, diese gigantische, wahnsinnige Verschwendung nur zum Vorschein und auf den Begriff, was die als Konsum, als Verbrauch angeblich nützliche Verwendung in Wahrheit selber ist: ein ungeheures Opferritual zwecks Erhaltung des kapitalistischen Verwertungsmechanismus, auf den sich die gesellschaftliche Reproduktion reduziert hat und ohne den oder außerhalb dessen sie nicht mehr stattfinden kann. Nützliche Verwendung von gesellschaftlichen Ressourcen ist mit anderen Worten der Konsum nicht deshalb, weil er Menschen sättigt, Bedürfnisse befriedigt, sondern einzig und allein insofern, als er dazu dient, die durch die kapitalistische Produktion bereitgestellten Ressourcen aus der Welt zu schaffen und Platz zu machen für die Bereitstellung neuer Ressourcen, kurz, insofern er die finale Bedingung für die Fortsetzung der als Wertbildungsprozess konzipierten und organisierten gesellschaftlichen Produktionsanstrengung bildet.

So gesehen, ist die Umbenennung des Ministeriums für Landwirtschaft in ein Ministerium für Verbraucherschutz ein denkbar frecher, der grünen Karrieristin, die das Amt wahrnimmt, würdiger Etikettenschwindel — suggeriert wird eine Abwendung von den Produzenten und ihren Interessen und Hinwendung zu den sogenannten Menschen und ihren Bedürfnissen, während doch in Wahrheit die Konsumenten nur als ebenso unabdingbarer wie kritischer Bestandteil des als Verwertungsprozess angelegten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses erkannt und eben deshalb als schutzwürdige Spezies beziehungsweise als von Seiten des Staats, des Schutzpatrons des Kapitals, zu kontrollierender und zu manipulierender ökonomischer Faktor anerkannt werden.

Konsument, Verbraucher ist also ein verräterisches, symptomatisches Wort: Nicht Menschen, die die Produkte der gesellschaftlichen Arbeit brauchen, nutzen, genießen, sondern Menschen, die sie kaufen, den Produzenten abnehmen, vom Markt wegschaffen, werden von der kapitalistischen Gesellschaft benötigt. Entgegen dem alltagssprachlichen Vorverständnis, auf das sie baut, aber im Einklang mit der heimlichen Wahrheit, die sich in der Vorsilbe ‚‚Ver“ versteckt, rückt die Rede vom Ver-Braucher nicht den Akt des Gebrauchs und Genusses des Produkts, sondern den Akt des Kaufs und Verschwindenmachens der Ware aus der Zirkulation in den Mittelpunkt.

Der Akt des Kaufs ist der Akt der Wertrealisierung, jener Akt, durch den das Produkt sich in Geldwert in den Händen des Produzenten zurückverwandelt und damit als Stoff für neue Produktion, sprich, als Kapital, wieder zur Verfügung steht. Ins Zentrum aber rückt dieser als Kaufakt vollzogene Akt der Wertrealisierung, weil er zum Problem geworden ist. Und zum Problem ist er geworden, weil ein Zustand pleromatischer Fülle, eines Überangebots an Waren herrscht, der die Bedürfnisstruktur der Verbraucher, ihre Nachfrage, überfordert und den Absatz der Waren, ihren Verkauf, in Frage stellt.

In dieser Situation wird die geheime Wahrheit kapitalistischer Produktion offenbar und virulent: dass es bei ihr nicht um die Versorgung von Menschen, sondern um die Verwertung von Arbeit, nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um die Ermöglichung neuer wertbildender Produktionsprozesse geht. Solange die Bedürfnisse mitspielen, der Bedarf vorhanden, die Nachfrage eine Naturgegebenheit ist, kann sich die kapitalistische Produktion als Dienerin der Menschen gerieren und ihr ökonomisches Eigenleben, ihre von den Bedürfnissen unabhängige Gesetzlichkeit, hinter ihrer Versorgungsleistung verbergen. Nun aber, da die Bedürfnisse überfordert sind und der Absatz ins Stocken gerät, zeigt sich, dass die Bedürfnisbefriedigung und Versorgung der Menschen nicht etwa das hehre Telos, sondern nur eine lästige Kondition des eigengesetzlichen Verwertungsprozesses ist. Lästig ist diese Kondition, weil sie sich in dem Maße als eine das ganze kapitalistische System bedrohende Naturschranke erweist, wie dank der wachsenden Produktivität des Produktionsprozesses die von den Menschen an das System gerichteten Befriedigungs- und Versorgungsansprüche und die umgekehrt vom System an die Menschen gestellten Konsum- und Verbrauchsforderungen auseinanderdriften, wie es mit anderen Worten immer schwer wird, die von den Menschen mitgebrachte biologisch-historische Gebrauchs- und Subsistenzperspektive mit der vom System ihnen angesonnenen ökonomisch-systematischen Verbraucher- und Käuferfunktion in Deckung zu bringen.

Werden die Menschen ihrer im Sinne des ökonomischen Systems allein relevanten Verbraucherfunktion nicht mehr gerecht und stockt also der Absatz, verwandelt sich das unverkaufte Produkt in eine riesige Hypothek, in eine Masse unerlösten, in die Naturalleiblichkeit gebannten Werts, gelähmten Kapitals, und resultiert in einer Verstopfung und Erstarrung der Zirkulation, die auch alle wertbildende Produktion, kurz das ganze Wirtschaftsleben zum Erliegen bringt. Dabei zeigt sich die Subsistenz als scheinbarer Zweck des Verwertungsprozesses an den Konsum als an dessen tatsächliches Mittel gefesselt: sie geht mit dem Konsum zugrunde. Das Interesse an der Wirklichkeit der Subsistenz ist das erpresserische Faustpfand, mittels dessen das kapitalistische System die Einsicht in die Notwendigkeit des Konsums erzwingt. Werden die Menschen ihrer ökonomischen Verbraucherfunktion, ihrer Pflicht, zu konsumieren, nicht gerecht, laufen sie Gefahr, allen Lebensunterhalt zu verlieren.

Dabei scheint die Wahrnehmung der Verbraucherfunktion ja von Haus aus gar nicht das Pflichtgefühl, sondern die Neigung anzusprechen, erscheint sie gar nicht als eine Zumutung, sondern im Gegenteil als eine Wohltat. Sie scheint der Subsistenz nicht zu widersprechen, sondern sie im Gegenteil unendlich zu befördern, unabsehbar zu entfalten, zu einem ungeheuren Korrespondenzsystem aus vielfältigen Bedürfnissen und ebenso vielgestaltigen Befriedigungsmitteln auszugestalten. Zur Gefahr für die Subsistenz wird die Verbraucherfunktion eben nur dann, wenn sie nicht mehr erfüllt wird. Deshalb ist das Interesse an der Erfüllung der Verbraucherfunktion, den Menschen, die in diesem System arbeiten und leben, ein durchaus echtes Anliegen. Hier liegt meines Erachtens der Nährboden und der Keim für jenes politische Schulterschlussphänomen, jene vollständige Identifikation der Subsistierenden mit dem aggressiven Wohltäter, als der das kapitalistische System auftritt, das ich als den Kern des modernen Faschismus betrachte, insofern der Begriff Faschismus nicht bereits aufein bestimmtes, totalitäres politisches System gemünzt ist, sondern eine ebenso ubiquitäre wie unbestimmte politische Strategie meint. Nämlich die Strategie, den politischen Grundkonsens aus einem ökonomischen Interessenpunkt herzuleiten, der den Subsistierenden, die ja zugleich die Arbeitenden, Wertschaffenden (nicht zu verwechseln mit den Werkschaffenden) sind, und dem Kapital und seinen Agenten existenziell gemeinsam ist — dem Interessenpunkt, notfalls über alle subsistenziellen Erfordernisse hinaus eine hypertrophe Konsumkraft zu erhalten, die, wie einerseits conditio sine qua non auch noch der bescheidensten Subsistenz, so andererseits die für den Verwertungsprozess ebenso unverzichtbare wie ihm gleichgültige Basis aller weiteren Wertbildung ist.

Träger und Verwalter dieses auf dem gemeinsamen ökonomischen Interesse basierenden politischen Konsenses und Vollstrecker der zu seiner Erhaltung nötigen Praxis ist der Staat, der Repräsentant des Gemeinwesens. Dabei ist dank des Umstandes jenes Schulterschlusses zwischen Arbeit und Kapital, dank des Umstandes also, dass die Wertschaffenden sich mittels ihrer Funktion als Konsumenten voll und ganz auf die kapitale Verwertungsperspektive eingeschworen finden, der Staat in einem Maße materieller Repräsentant des Gemeinwesens, sprich, in einem Maße durch die Gesamtheit der Nation getragen und legitimiert, wie er das noch nie zuvor in seiner neuzeitlichen Geschichte war. Wenn das Volk heute dem Staat und seinen Vertretern mit zynischer Indifferenz, um nicht zu sagen, mit höhnischer Verachtung begegnet, dann nicht etwa deshalb, weil es nicht hinter ihm stünde, sondern deshalb, weil es ihn so sehr als den Agenten jenes politischen Grundkonsenses weiß, dass es ihn unter normalen demokratischen Bedingung, unter denen der Konsens nicht bedroht ist, als eigenständige Macht gar nicht mehr ernst nehmen kann und in ihm nur noch den mit der ständigen Beschwörung und Adjustierung des Konsenses befassten gutbezahlten Geschäfts- und Schriftführer der konsentierenden Volksgemeinschaft zu sehen vermag.

Staat und Konsum

Anders als heute ist in den Anfängen der Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert, die Repräsentanz, die der Staat im Blick auf das Gemeinwesen wahrnimmt, noch höchst formeller Natur, fühlt sich mit anderen Worten der Staat dem Großteil der Bevölkerung, den arbeitenden Volksschichten, noch sehr wenig verbunden und verpflichtet. Verbunden fühlt er sich vielmehr der aus der ursprünglichen Akkumulation hervorgehenden neuen ökonomischen Macht Kapital, die auf der Basis einer Trennung von Produzenten und Produktionsmitteln und der dadurch ermöglichten Triade aus Lohnarbeit, manufaktureller Arbeitsteilung und technischer Revolutionierung der Produktionsmittel eine außerordentliche Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte initiiert und eine ungeheure Vervielfältigung und Ausweitung der Güterproduktion ins Werk setzt. Dem politischen Bund mit dieser neuen Macht und dem finanziellen Gewinn, den sie mittels Steuern und sonstigen Abgaben aus deren ökonomischen Aktivitäten zieht, verdankt die traditionelle Königsherrschaft ihren qua Absolutismus errungenen Triumph über das feudale System und die ihr durch es gesteckten Schranken, verdankt sie mit anderen Worten ihre Etablierung als zentralistischer, ein gesellschaftliches Machtmonopol beanspruchender Staat. Und dieser ökonomischen Macht fühlt sich der neuzeitliche Staat deshalb auch primär verpflichtet; ihr leistet er bei ihrer Durchsetzung durch sozial-, handels- und finanzpolitische Maßnahmen Flankenschutz.

Wenn er sich für die übrigen Gruppen der Gesellschaft interessiert oder gar engagiert, dann um bei der Überwindung von Engpässen und Sackgassen mitzuhelfen, in die ihre auf rücksichts- und schrankenloser Ausbeutung von Lohnarbeit basierende Produktivität die kapitale Macht im Laufe ihrer Entfaltung hineinsteuert. Wo die Mannigfaltigkeit und Masse der durch die neue Produktionsweise geschaffenen Güter das Fassungsvermögen der bis dahin ihren Absatz sichernden Konsumentenschichten übersteigt, da steht der Staat bereit, für die Rekrutierung neuer Konsumentengruppen zu sorgen. So gesehen, übernimmt er bereits früh jene Aufgabe eines Garanten von Konsumkraft, die ihm heute abermals und auf allerdings nur bedingt mit seinen früheren Garantieleistungen vergleichbare Weise zufällt.

Das erste Mal sorgt der Staat im 18. Jahrhundert für die erforderliche Konsumkraft, als die traditionellen feudalen und klerikalen Konsumentenschichten des manufakturell erzeugten Güterflusses nicht mehr Herr werden: Durch den Ausbau seiner selbst, seiner bürokratischen, militärischen, technokratischen und akademischen Apparate, sorgt der Staat für die Entstehung neuer, von ihm dotierter Konsumentenschichten, die als Bürgertum im Sinne eines sozialen Phänomens zu dem als funktionale Gruppe, als Bourgeoisie im engeren Sinne, das Kapital verwaltenden Bürgertum hinzutreten und die durch die rasante kapitalistische Entwicklung heraufbeschworenen Absatzprobleme erst einmal lösen. Das zweite Mal springt der Staat gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Bresche der wankenden Konsumfront, als die mittlerweile industriell eskalierte Güterproduktion auch die um das Bürgertum erweiterte Nutznießerschicht überfordert. Diesmal löst der Staat das Absatzproblem auf andere Weise und, wenn man so will, radikaler: Er beschränkt sich nicht mehr darauf, durch den Ausbau seiner selbst neue, bürgerliche Konsumentengruppen aus der Bevölkerung zu rekrutieren und mit dem geldlichen Äquivalent für den produzierten Mehrwert in Güterform zu versehen (diese Gruppen gibt es auch gar nicht mehr in einer Gesellschaft, in der bereits alle sei’s als ausgebeutete Produzenten, sei’s als nutznießende Konsumenten in den kapitalistischen Produktionsprozess eingebunden sind), sondern er sorgt durch arbeits-, sozial- und steuerpolitische Maßnahmen für ein gewisses Maß an Umverteilung, sorgt mit anderen Worten dafür, dass die Produzenten des kapitalistischen Reichtums, die bislang die ebenso ohnmächtigen wie schutzlosen Opfer einer eskalierenden Ausbeutungspraxis waren, in den Besitz einer größeren Proportion des von ihnen geschaffenen Werts und damit in den Genuss eines größeren Teils der Früchte ihrer Arbeit gelangen. Diese staatlichen Umsteuerungsbemühungen und die vor ihrem Hintergrund möglich werdenden Arbeitskämpfe erweisen sich als Garanten eines zwar verlangsamten, dafür aber in seinem Fortgang gesicherten kapitalistischen Wachstumsprozesses und führen im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer allmählichen Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lage der unteren Schichten im allgemeinen und der Arbeiterklasse im besonderen.

Entscheidend vorangetrieben wird dabei die Verbesserung der konsumtiven Situation der vom Verwertungsprozess Ausgebeuteten paradoxerweise durch die Anstrengungen des Kapitals, die profitschmälernden Konsequenzen, die jener Umverteilungsprozess hat, durch eine qua Technisierung durchgesetzte fortlaufende Erhöhung der Produktivkraft zu konterkarieren. Diese ständige Erhöhung der Produktivität führt nämlich nicht oder jeweils nur vorübergehend zu einer Steigerung des produzierten Mehrwerts, sondern hat letztlich immer nur eine Steigerung der produzierten Gütermenge zur Folge. Das heißt, sie führt nicht zu einer Erhöhung des Werts der gesamten Produktmenge, sondern nur zu einer Verwohlfeilerung des einzelnen Produkts, die den arbeitenden Klassen, ohne dass sich ihr wertmäßiger Anteil am gesellschaftlichen Reichtum erhöhte, immer mehr Konsumgüter zugänglich werden lässt und eine kontinuierliche Steigerung ihres Lebensstandards ermöglicht und die also jene konsumgesellschaftliche Entwicklung speist, die in den Wohlstandsgesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts resultiert.

Wohlstandsgesellschaft bedeutet nicht etwa, dass alle im Überfluss leben, sondern nur, dass alle gesellschaftlichen Gruppen an der durch die kapitalistische Produktion geschaffenen Warensammlung konsumtiv teilhaben und zwar so, dass selbst die untersten Einkommensschichten ein im historischen Vergleich relativ hohes Bedürfnisbefriedigungsniveau erreichen, während die oberen Schichten ein allem historischen Vergleich spottendes Luxusleben führen. Und Wohlstandsgesellschaft bedeutet, dass wegen dieses insgesamt beispiellos hohen Lebensstandards jedes weitere Wirtschaftswachstum, das doch kategorischer Imperativ der kapitalistischen Produktionsweise ist, wachsende Wertrealisierungs-, sprich, Absatzprobleme mit sich bringt. Wohlstandsgesellschaft bedeutet, dass der Staat früher oder später gefordert ist, sich erneut als Impresario des Wirtschaftslebens und Generalagent im Dienste der Stärkung der allgemeinen Konsumkraft zu betätigen. Dass diese Situation erst später als früher und nämlich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts eintritt, verdankt das System dabei nur den europäischen Gleichgewichtsstörungen und dem aus ihnen resultierenden Ersten Weltkrieg sowie dem anschließenden, im engeren Sinne faschistischen Intermezzo und dem Zweiten Weltkrieg, den es heraufbeschwört.

Zur Erfüllung seiner Aufgabe einer Stärkung der Konsumkraft und Behebung der Absatzkrise kann der Staat allerdings nicht mehr auf die früheren Techniken rekurrieren. Innergesellschaftliche Gruppen, die noch nicht ins kapitalistische Reproduktionssystem als Produzenten und/oder Konsumenten integriert sind und die man für die Konsumentenrolle neu gewinnen könnte, gibt es nicht mehr, zumal ihre Ausstattung mit Geldmitteln angesichts des geringen realen Wertzuwachses, den die durch die Umverteilung verlangsamte Ausbeutungsrate der kapitalistischen Wirtschaft beschert, höchstens um den Preis inflationärer Entwicklungen möglich wäre. Und nennenswerte weitere Umverteilungen sind ebenfalls nicht mehr möglich, erstens, weil ja bei dem relativ hohen Lebensstandard auch der arbeitenden Schichten der konsumtive Effekt zweifelhaft wäre, zweitens, weil dadurch die Profitrate noch weiter verringert und der Produktionsanreiz entsprechend geschwächt und drittens und vor allem, weil der konsequierende Versuch des Kapitals, entweder durch weitere Steigerung der Produktivität oder durch Verteuerung der Waren das bestehende Profitniveau zu erhalten, im ersteren Fall die Absatzkrise nur immer verschärfte und in letzterem Fall die internationale Konkurrenzfähigkeit der nationalen Produktion beeinträchtigte.

Was der Staat zur Erhaltung der Konsumkraft, sprich, zur Sicherung der Wertrealisierung, nurmehr tun kann und auch tut, ist zweierlei: unter dem Motto „Innovation und Bedarfsschöpfung“ die vorhandene Bedürfnisbefriedigungspalette erweitern und neue Bedürfnisse wecken, neuen Konsum schaffen und/oder unter der Losung „Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung“ für neue Konsumenten, neue Märkte außerhalb der eigenen Gesellschaft sorgen. Für beides ist die staatliche Initiative unabdingbar, für die Schaffung neuen Konsums, weil sie ungeheure Investitionen in Forschung, Planung, Entwicklung und Aufbau der neuen Branchen fordert, und für die Organisation neuer Konsumenten, weil sie steuer- und sozialpolitische Eingriffe verlangt, die nur der Staat vornehmen und den breiten Schichten abnötigen kann. Beide Methoden zur Stärkung der Konsumkraft kommen darin überein, dass sie um des Fortgangs der Verwertungsprozesse willen ein erreichtes Niveau gesellschaftsumfassender Versorgung und relativer Sättigung ignorieren und „Wirtschaftswachstum“ zu einem Fetisch machen müssen, dem selbst um den Preis der eklatanten und tendenziell vernichtenden Widersprüche, in die er hineintreibt, zu huldigen ist.

Der Widerspruch, in den die Strategie „Innovation und Bedarfsschöpfung‘“ führt, besteht darin, dass ihre Wertschöpfung Hand in Hand mit der galoppierenden Entwertung vorher geschöpfter Werte, das heißt, mit dem ständigen Veralten und Überflüssigwerden früherer Produktionen geht und dass die durch sie bedingte Eskalation der Produktionsprozesse und Hypertrophierung der erregten Bedürfnisse ungeheure ökologische und soziale Schäden anrichtet.

Noch offensichtlicher ist der Widerspruch, der die Strategie „Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung“ heimsucht. Da sich die seit dem 19. Jahrhundert reichlich kultivierte Methode einer kolonialistischen und imperialistischen Erschließung neuer Märkte politisch und ökonomisch überholt hat und die Dritte Welt nur noch als billiger Rohstofflieferant von Interesse ist, bleibt bei der Suche nach neuen Konsumenten eigentlich nur übrig, mit den anderen hochindustriell warenproduzierenden Gesellschaften um die dort vorhandenen Märkte zu konkurrieren, sprich, billiger als die anderen Industriestaaten zu produzieren. Dazu ist eine Senkung der Produktionskosten mittels Rationalisierung und Verbilligung der Arbeitskraft, sprich, mittels Erzeugung von Arbeitslosigkeit und Abbau des Sozialstaats, nötig. So entsteht das Paradox, dass die Kaufkraft im eigenen Land geschwächt werden muss, um die Chancen des Absatzes der inländischen Produktion auf den anderen Märkten zu erhöhen. Dass Arbeitnehmer und Gewerkschaften dies als vernünftig mittragen, zeigt, wie sehr sie bereits hinter dem Wahnsinn eines zwecks Erhaltung der Subsistenz über alle historisch-natürlichen Grenzen hinausgetriebenen und aus rein kapitalsystematischen Gründen praktizierten Konsums stehen, wie sehr sie also im oben explizierten Sinne faschistisch organisiert sind.

Nationalsozialismus als Präludium

Wie passt nun aber die nationalsozialistische Episode, der Faschismus im engeren, nicht sowohl ökonomisch-strukturellen, als vielmehr politisch-funktionellen Sinne, in dieses Bild? Was hat er mit der hier skizzierten Tendenz zum von allen Gruppen getragenen, weil als conditio sine qua non der Subsistenz erfahrenen Konsumzwang zu tun? Immerhin scheint der Nationalsozialismus seinen Aufstieg und die Durchsetzung seines totalitären Systems nicht dem konsumtiven Überfluss und Absatzproblemen, sondern der Arbeitslosigkeit und Lebensnot zu verdanken.
Das stimmt, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich ist die Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre als eine wesentliche Voraussetzung für die faschistische Machtergreifung Resultat einer Überproduktion und Absatzkrise.
Nicht zwar einer absoluten wie der heutigen, bei der die stagnierende Nachfrage aus einer Mischung aus Übersättigung, fehlender Umverteilungsmöglichkeit und nicht vorhandener imperialistischer Perspektive resultiert, wohl aber einer relativen, weil die kapitalistische Produktion nach dem Ersten Weltkrieg so schnell und auf so hohem Produktivitätsniveau wieder anläuft, dass die Nachfrage mangels Kaufkraft (Inflation, Reparationen, restriktive Kreditpolitik) nicht entfernt Schritt halten kann. Es kommt zu einer jähen Verstopfung des Markts mit nicht absetzbaren Waren, einer Verhinderung der Wertrealisierung und einem Zusammenbruch der wirtschaftlichen Aktivitäten auf ganzer Linie. Es wird unter quasi künstlichen, quasi experimentellen Bedingungen vorgeführt, was passiert, wenn zwar (Gebrauchs)Werte produziert werden, diese aber nicht als (Tausch) Wert realisiert, als mehrwertiges Kapital wieder für weitere Produktionsprozesse verfügbar gemacht werden.

In anderer und doch ähnlicher Weise wie heute die Industriestaaten steht damals der faschistische Staat vor der Aufgabe, der stagnierenden, durch eine (relative) Absatzkrise zum Erliegen gekommenen Wirtschaft unter die Arme zu greifen, neue Konsumenten, neue Märkte für sie zu rekrutieren, neuen Bedarf, neuen Konsum für sie zu organisieren. Der Unterschied zu heute besteht darin, dass der nationalsozialistische Staat erstens die neuen Konsumenten im eigenen Land vorfindet, vorausgesetzt, es gelingt ihm, das durch die Wirtschaftskrise produzierte Arbeitslosenheer ohne Umverteilung mit Konsumkraft auszustatten. Und dass er zweitens den neuen Konsum nicht durch eine von ihm finanziell und organisatorisch unterstützte Erweiterung der vorhandenen Konsumgüterpalette auftun kann, sondern dass er ihn ganz auf eigene Faust, aus eigenem Bedarf schaffen muss. Das faschistische Rezept lautet mit anderen Worten Arbeitsdienst und Aufrüstung. Der Staat tritt gleichzeitig als Großkonsument und Großarbeitgeber auf. Diese besonderen Bedingungen und Lösungsstrategien der nationalsozialistischen Probe aufs Exempel eines ökonomisch-strukturellen Faschismus verurteilen das Experiment zu einem relativ raschen Scheitern. Als Großkonsument und Großarbeitgeber verschuldet sich der nationalsozialistische Staat hoffnungslos, kann er überhaupt nur durch Autarkie und Abschottung gegebenüber dem Weltmarkt so verfahren, wie er das tut, und wird zwangsläufig, der Logik seiner Arbeitgabe und seines Konsums folgend, in den Krieg getrieben, weil der ihm die einzige Möglichkeit bietet, die Infrastruktur und Rüstung, die er auf Kreditbasis geschaffen und gekauft hat, als „Produktionsmittel“ für die „Schöpfung“ von Wert einzusetzen.

Dennoch bleibt der politisch-funktionale Faschismus, der Faschismus im engeren Sinn, ein Probelauf, eine Vorübung auf den ökonomisch-strukturellen, alltäglichen Faschismus unserer Zeit: und das beweist nicht zuletzt die Fortdauer dreier Strategien, die der Nationalsozialismus zur Durchsetzung seiner massiven Intervention, seines Avancements zum Generalunternehmer entwickelt. Die erste dieser Strategien ist die Vereinigung von Kapital und Arbeit unter einem Dach; Arbeitskämpfe müssen verhindert und vorweg geschlichtet, das Kapital muss im seiner Ausrichtung auf die Erfordernisse seines staatlich ver- und geordneten Überlebens sozialisiert werden. Die zweite Strategie besteht in der Schaffung einer Negativfolie, eines öffentlichen Feinds, der für die sich nicht integrieren lassenden gesellschaftlichen Kräfte steht, für bürgerliche Kapitaleigner und proletarisch-gewerkschaftliche Gruppen, die sich nicht in den Dienst der staatlich organisierten Wertproduktion stellen; dieser öffentliche Feind sind damals dank der deutschen Tradition des wilhelminischen Staats die Juden, die zusätzlich zur bereits traditionellen Fratze des Liberalitätsjuden nun auch noch die Maske des bolschewistischen Juden übergestülpt bekommen. Und die dritte Strategie sind Großveranstaltungen (Parteitage, Aufmärsche, Aktionstage, Sportfeste) zur Feier der neuen gesellschaftlichen Eintracht und Einheit unter dem Dach des Volksstaates.
Wenn irgend etwas die Kontinuität der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich macht, dann die Fortdauer dieses Repertoires von Strategien.

Zwar ist dank des Potlatch des Zweiten Weltkriegs die Überproduktions- und Absatzproblematik erst einmal verschwunden, und insofern kann der Staat sich zurückhalten; es kann wieder bürgerliche Demokratie gespielt werden. Aber subjektiv aus Angst vor einer Wiederholung der früheren katastrophischen Verhältnisse, objektiv im unbewussten Wissen davon, wie rasch dank kapitalistischer Produktivität der Punkt der Überproduktion und permanenten Absatzkrise wieder erreicht sein wird, und prospektiv, weil man das faschistische Krisenbewältigungsinstrumentarium für den Fall eines Falles nicht missen will, hält man sich die faschistischen Strategien in abgeschwächter Form, sozusagen in Impfstoffdosierung zur Verfügung. Man befleißigt sich der sozialen Marktwirtschaft, eines staatlich vermittelten Sozialpakts zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, einer konzertierten Aktion. Man pflegt die Tradition der sportlichen, kulturellen und sozialen Großveranstaltungen. Und man macht sich in dem Maße, wie am Horizont Krisenzeichen auftauchen, auf die Suche nach einem öffentlichen Feind, wobei das allerdings noch eher in Form privaten Ersuchens an den Staat, sich um einen öffentlichen Feind zu kümmern geschieht, als dass es vom Staat selber betrieben würde, der zwar marginal (Haider, Stoiber) mit solchen Forderungen sympathisiert, offiziell aber noch eher davor zurückscheut.

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