FORVM, No. 154
Oktober
1966

Der Primat des Völkerrechts

Den Ausdruck „Primat des Völkerrechts“ hat Hans Kelsen in seinem 1920 erschienen Werk „Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts“ geprägt. Er versteht darunter, daß das Völkerrecht nur dann eine Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten konstituieren kann, wenn es nicht auf der Selbstbindung der einzelnen Staaten beruht — wie die damalige Völkerrechtslehre noch angenommen hat —, sondern eine über den Staaten stehende Rechtsordnung ist, „die die Geltung der Einzelstaaten gegenseitig abgrenzt, indem sie Eingriffe des einen in die Sphäre des anderen verhindert, oder doch an gewisse, für alle gleiche Bedingungen knüpft“ [1] und so die staatlichen Ordnungen zu einer universalen Gemeinschaft verbindet.

Dies leistet das Völkerrecht aber nur — wie Kelsen hinzufügt — „wenn sein Primat gegenüber den einzelstaatlichen Rechtsordnungen angenommen“ wird. Und „indem der Primat des Völkerrechts diese Funktion erfüllt, wird der Rechtsbegriff zugleich im formellen und materiellen Sinne vollendet: das Recht wird zur Organisation der Menschheit und damit eins mit der höchsten sittlichen Idee.“ [2]

Obgleich der Ausdruck „Primat des Völkerrechts“ neu ist, so hat doch der durch ihn ausgedrückte Gedanke eine lange Geschichte. Er läßt sich bis zur letzten Philosophie der Antike, nämlich zur griechischen Stoa, zurückverfolgen, die bereits von einer universalen Rechtsordnung spricht. [3] Der Ausdruck „Völkerrecht“ stammt jedoch von den Römern, da er eine Übersetzung des römischen „jus gentium“ darstellt.

Darunter verstanden die Römer aber ursprünglich nicht das zwischenstaatliche Recht, sondern das für fremde Privatpersonen geltende Recht, das seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert dem nur für die römischen Bürger geltenden „Zivilrecht“ (jus civile) gegenübergestellt wurde und dessen Gestaltung vornehmlich dem seit 242 v. Chr. wirkenden praetor peregrinus oblag. [4]

Unter dem Einfluß der stoischen Philosophie erfuhr aber das „jus gentium“ eine wesentliche Ausweitung. Schon Cicero, der die Philosophie der griechischen Stoa rezipiert und ihr erst eine juristische Gestalt gegeben hat, [5] versteht darunter die mit der vernünftigen und sozialen Natur des Menschen gegebene, die ganze Menschheit und jeden einzelnen Menschen verpflichtende Rechtsordnung.

Dieser Gedanke wird von den römischen Berufsjuristen aufgegriffen. So sagt der berühmte Jurist Gaius, das „jus gentium“ sei jenes Recht, das von allen Völkern gleichmäßig beobachtet wird [6] und mit der Menschheit selbst entstanden ist. [7] Der spätrömische Jurist Hermogenian (des beginnenden 4. Jahrhunderts n.Chr.) versteht dann darunter auch das, was wir heute als „Völkerrecht“ bezeichnen, nämlich das zwischenstaatliche Recht; er betont nämlich, daß auf Grund des „jus gentium“ die Kriege eingeführt wurden, sich die Völker abgesondert haben und die Staaten gegründet wurden. [8]

Damit wird also gesagt, daß auch die Staaten nicht selbstherrlich, sondern Geschöpfe einer überstaatlichen Rechtsordnung sind. Auch der Heilige Augustinus knüpftan Cicero an, indem er die Staaten in die Völkergemeinschaft eingliedert. [9]

Isidor von Sevilla, der (um 600) als erster die christliche Lehre mit der römischen Jurisprudenz systematisch verbunden hat, betont, das „jus gentium“ regle auch Krieg, Kriegsgefangenschaft, Bündnisse, Friedensschlüsse, Waffenstillstände und die Unverletzlichkeit der Gesandten. Er bemerkt hiezu, daß dieses Recht so genannt wird, weil es fast von allen Völkern beobachtet wird. [10]

Universale Ordnung

Auf diese Weise konkretisiert sich die stoische Konzeption einer universalen Menschheitsordnung und die augustinische Vision der Völkergemeinschaft zu konkreten, überstaatlichen Rechtsgrundsätzen, die sowohl die einzelnen Menschen, wie die Staaten binden.

Es ist daher — wie der um die Erforschung der Geschichte des Völkerrechts besonders verdienstvolle Schriftsteller Ernst Reibstein bemerkt — „ein Ereignis von größter Tragweite in der politischen Ideengeschichte Europas gewesen, daß die Lehre der Philosophen vom jus naturae et gentium von den römischen Juristen der klassischen Epoche (um 200 n. Chr.) dem Gefüge des geltenden Rechts eingegliedert, also juristisch systematisiert wurde. Auf diese Weise wurde zwar nicht ihr ganzer ethischer Gehalt kurzerhand rechtsverbindlich gemacht, aber die wesentlichen Systemgedanken, die Universalität der Rechtsidee, ihre Verbindung mit dem ethischen Begriff der Gerechtigkeit, ihre Abgrenzung gegen das positive Recht und ihre Überordnung über die Völker und Staaten, das alles erhielt den Charakter von Rechtsgrundsätzen, hinter denen die Autorität des weltherrschenden Rom, bald auch der weltumspannenden, nach römischen Recht lebenden Kirche stand.“ [11]

Auch in der „res publica christiana“ des Mittelalters war es unbestritten, daß es überstaatliche Rechtsgrundsätze gibt, wenngleich diese Idee durch die Vorstellung der Universalmonarchie mit dem über allen Gesetzen stehenden Imperator teilweise verdunkelt wurde.

Die klassische Lehre vom Primat des Völkerrechts lebt aber zu Beginn der Neuzeit wieder auf und entfaltet sich in der spanischen Moraltheologie des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts zur höchsten Blüte. Ihr Begründer war Francisco Vitoria, Professor an der altehrwürdigen Universität Salamanca (1480-1546), der in seinem Traktate „De potestate civili“ lehrt, daß das Völkerrecht nicht bloß aus Verträgen zwischen den Staaten bestehe, sondern wahre Gesetzeskraft besitze, da es auf der Autorität des ganzen Erdkreises beruhe (latum totius orbis auctoritate).

Die Krönung und den Abschluß dieser Schule bildet Francisco Suarez (1548-1617), zuletzt Professor in Coimbra, der nicht nur den Gedanken weiter entwickelt, daß die einzelnen Staaten Glieder (membra) der Menschheit sind, [12] sondern auch betont, daß die Staaten ihre Interessen nur im Rahmen des Wohles der ganzen Menschheit verfolgen dürfen. [13]

Aus dieser Schule ist auch Fernando Vasquez hervorgegangen, dessen Verdienste um die Entwicklung einer überstaatlichen Rechtsordnung erst Ernst Reibstein ge bührend herausgearbeitet hat. [14]

Hugo Grotius setzt diese Lehre fort und entfaltet sie in seinem während des Dreißigjährigen Krieges veröffentlichten Werke „De jure belli ac pacis“ (1625), welches das erste System des Völkerrechts darstellt. Ein letzter Ausläufer dieser Richtung ist der Philosoph Christian Wolff (1679 bis 1754), der die Staatengemeinschaft als höchste Gemeinschaft (civitas maxima) bezeichnet, der die einzelnen Staaten eingegliedert sind.

Diese Lehre wurde aber nahezu von der ganzen positivistischen Völkerrechtslehre bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bekämpft und abgelehnt, deren Grundlage die Lehre der absoluten einzelstaatlichen Souveränität war, die sich unter dem Einfluß von Machiavelli, Hobbes, Spinoza und Hegel herausgebildet und die Geister gefesselt hatte.

Von dieser Warte aus konnte das Völkerrecht nur als „äußeres Staatsrecht“ erfaßt werden, wie es Hegel bezeichnet. [15] Im Zusatz zu § 330 seiner Rechtsphilosophie (1821) schreibt er darüber: „Das Verhältnis von Staaten ist das von Selbständigkeiten, die zwischen sich stipulieren, aber zugleich über diesen Stipulationen stehen.“

Die Lehre der absoluten staatlichen Souveränität führt aber nicht nur zur Auflösung der überstaatlichen Rechtsordnung, sie mediatisiert auch die einzelnen Menschen, indem sie diese völlig der staatlichen Rechtsordnung unterwirft. Sie werden zu bloßen „Momenten“ des Staates. [16] Dieser hat „das höchste Recht gegen die Einzelnen, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“ [17]

Diese philosophische Einstellung führte die Völkerrechtslehre zur Behauptung, daß Völkerrecht und staatliches Recht zwei vollständig selbständige und von einander unabhängige Rechtsordnungen seien, da sich jenes nur an die Staaten wenden, während dieses allein die Einzelmenschen berechtigen und verpflichten könne.

Die „civitas maxima“

Es ist das große Verdienst von Hans Kelsen, diese zum Dogma erstarrte Lehre erschüttert und durch die Einsicht überwunden zu haben, daß Völkerrecht und staatliches Recht nur relativ selbständige Glieder eines einheitlichen Rechtssystems bilden. Er verteidigt daher die gerade angeführte Lehre Christian Wolffs der Staatengemeinschaft als „civitas maxima“, wobei er allerdings ihre Leistung überschätzt, da er ihre antiken und christlichen Wurzeln nicht berücksichtigt.

Das ist offenbar deshalb der Fall, weilsich die Rechtstheorie Kelsens nur in den Grenzen des Rechtspositivismus bewegt. Für ihn ist daher der Primat des Völkerrechts nicht in objektiv gültigen überstaatlichen allgemeinen Rechtsgrundsätzen fundiert, sondern in der wissenschaftlich nicht beweisbaren „Hypothese eines über den Einzelstaaten stehenden, diese umfassenden universalen Gemeinwesens“. [18] Wissenschaftlich sei es jedoch auch möglich, von der Hypothese des Primates des staatlichen Rechts auszugehen. Da nun aber Kelsen anerkennt, daß nur der Primat des Völkerrechts den Rechtsbegriff vollendet und so mit der höchsten sittlichen Idee zusammenfällt, besteht kein Zweifel darüber, daß er dem Primate des Völkerrechts den Vorzug gibt.

Das erhellt auch daraus, daß — wie Kelsen richtig hervorhebt — nur vom Primat des Völkerrechts aus die Entstehung der Staaten als Rechtsproblem erfaßt sowie ihre Rechtskontinuität im Falle einer Revolution erklärt werden kann. [19] Der Primat des Völkerrechts zerstört auch das Dogma, daß nur Staaten und andere souveräne Gemeinschaften Subjekte des Völkerrechts sind, durch den Nachweis, daß die Normen des Völkerrechts auch Privatpersonen berechtigen und verpflichten können, da es vom Inhalt des Völkerrechts selbst abhängt, wen es als Rechtssubjekt anerkennt. [20]

Durch diese Theorie hat Hans Kelsen nicht nur die Völkerrechtslehre revolutioniert, sondern auch die Staatspraxis beeinflußt. Sein Name wird daher auch in der Geschichte des Völkerrechts immer einen Ehrenplatz einnehmen.

[1Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts.

[2Dortselbst, S. 205.

[3Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1963), S. 47.

[4Mayer-Maly, Staatslexikon VI (1961), S. 954.

[5Verdroß, a.a.O., S. 48f.

[6Digesten I, 1, 9.

[7Ebendort XLI, 1, 1.

[8Digesten I, 1, 5: „Ex hoc jure gentium introducta bella, discretae gentes, regna condita ...“

[9De civitate Dei, IV, cap. 15.

[10Etymologiae V, 6.

[11Reibstein, Völkerrecht, Eine Geschichte seiner Idee in Lehre und Praxis, I (1958), S. 19.

[12De legibus ac Deo legislatore II, cap. 19, no. 9.

[13Ebendort II, cap. 20, no. 8 und De bello, sect. 6, no. 5. Dazu Verdroß a.a.O., S. 97, sowie in der Festschrift für F. Arnold (1963) S. 33ff.: „Das bonum commune humanitatis in der christlichen Rechtsphilosophie“.

[14Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts (1949).

[15Rechtsphilosophie, § 330.

[16Ebendort, Zusatz zu § 258.

[17Dortselbst § 258.

[18A.a.O., S. 249.

[19A.a.O., S. 235ff. Vgl. dazu auch meine Habilitationsschrift „Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten“ (1920), S. 34-43, Exkurs: Völkerrecht und staatliches Recht.

[20A.a.O., S. 130ff.

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