FORVM, No. 495
März
1995

Der Ritt auf dem Steckpferd

Herrliche Zeiten sind angebrochen für Österreichs Journalisten. Wer träumte nicht davon, sein Hobby zum Beruf zu machen? Und wo bestünde eine bessere Gelegenheit, diesen Traum zu verwirklichen, als in den österreichischen Redaktionsstuben, seit dort, so wollte es unser Präsident Jörg Haider, nicht mehr so viel gelogen wird wie ehedem?

All die neuen Bastelecken, Horoskope, Kolumnen für Briefmarken- und andere Sammler, die Plattentips, die Kochrezepte — der schreibenden Zunft bietet sich reichlich Gelegenheit, ihren — oft genug dem Leser bis dato verborgenen — Neigungen zu frönen. Ich zum Beispiel habe seit einem Jahr nichts als Opernkritiken geschrieben. Mag schon sein, daß ich mir früher, solange ich noch als politischer Publizist in Erscheinung trat, nicht vorstellen konnte, allein auf der Kulturseite Erfüllung zu finden. Aber erstens habe ich die Oper schon immer geliebt; und zweitens, je mehr Vorstellungen ich rezensieren kann, desto weniger Nachhilfeunterricht in Latein muß ich geben, um das Brot mit anderem als nur mit Daumen und Zeigefinger belegen zu können. Jene Kollegen, deren Hobbies der journalistischen Verwertbarkeit entraten, brauchen einen sogenannten bürgerlichen Beruf. Ich habe eben beides. Dolce vita.

Ja, das neue Presserecht, das wir Justizminister Pretterebner (und natürlich unserem Präsidenten) verdanken, ist wirkungsvoll. Für »staats- und regierungsfeindliche Lügenpropaganda« wird nicht der Journalist bestraft, sondern der Verlag, der seine Verbalinjurien gedeckt hat. Das Bußgeld richtet sich nach dem Inseratenaufkommen in den letzten Ausgaben, laut verlagseigener Preisliste: Tageszeitungen haben die Anzeigeneinnahmen der letzten sieben bis 28 Ausgaben an den Staat abzuliefern, Wochen- die der letzten vier bis zwölf, Monatszeitschriften die der letzten zwei bis sechs Ausgaben. Bei ausländischen Druckerzeugnissen träfe die Strafe den hiesigen Vertrieb, weshalb sie mit ganz wenigen Ausnahmen nicht mehr erhältlich sind (offiziell wenigstens; wo man, um ein Beispiel zu nennen, das FORVM trotzdem bekommt, habe ich ganz und gar keine Ahnung).

Ungeschickt ist diese Regelung beileibe nicht: Dadurch, daß die Journalisten ungeschoren bleiben, hat man es vermieden, sie zu politisch Verfolgten zu machen, die anderswo um Asyl ansuchen könnten; darum hielt sich auch die Empörung in der EU in Grenzen. Zudem hat man sich die Einrichtung einer Zensurbehörde erspart; diese Funktion übt nun jede Redaktion aus, im Interesse ihres gedeihlichen ökonomischen Fortkommens. Es ist unschwer zu erraten, daß Menschen wie ich, die der Präsidialverfassung im allgemeinen und dem herrschenden Präsidenten im besonderen wenig freundlich gesonnen sind, unter diesen Umständen Opernkritiken oder Kochrezepte oder gar nichts schreiben. Kochrezepte sind im übrigen eine ungewöhnlich objektive Textsorte: Wenn die Knödel zerfallen, hagelt es empörte Leserbriefe. Verfasser von Kochrezepten haben es also überaus schwer zu lügen, selbst wenn sie in Redaktionsstuben sitzen. Besser ließen sich Haiders Vorgaben kaum erfüllen. Sollten deshalb unsere Journale bald nur Kochjournale sein, ich bin gewappnet: Ich gehe nicht nur gerne in die Oper, ich liebe es auch zu kochen. Natürlich stellt sich unter solchen Arbeitsbedingungen jedem die Frage, wann er die Niederlassung in der EU nützt, um Österreich den Rücken respektive dessen Verlängerung zu kehren. Das Land, nach dem es mich immer schon gezogen hat, ist aber ausgerechnet Italien; sich, um dem Machtbereich eines Haider zu entrinnen, unter die Fittiche eines Fini zu begeben, kommt selbstredend nicht in Frage. Deutschland läge mir am nächsten, der Sprache wegen; dort fühle ich mich aber nicht wohl, der Gründlichkeit wegen. Was soll’s, nach Ausreden zu suchen: Zum Auswandern bin ich zu feig und zu bequem. Ich mag nicht ganz von vorne beginnen; oder genauer: Bevor ich mich dazu entschlösse, müßte ich noch viele Kochrezepte verfassen.

Außerdem: Ist es gerade jetzt Zeit zu gehen? Ist es schon so arg? Ist es erst jetzt so arg? Hätte ich nicht, wenn ich heute meine, auswandern zu sollen, dasselbe bereits vor fünf Jahren tun müssen? Kurz und gut: Soll ich die Abschaffung der Menschenrechte für Inländer zum Anlaß nehmen, wenn ich die Abschaffung der Menschenrechte für Ausländer solcher Überlegungen nicht für wert hielt? Schließlich bereitete die Große Koalition von SPÖ und ÖVP Haiders Herrschaft vor, war sie doch vom dunklen Drang beseelt, seine Stimmengewinne hintanzuhalten, indem sie seine Forderungen gleich selbst exekutierten. Von den schlagzeilenträchtigen Randbezirken der Politik, wie etwa den Gehältern, die die Nationalbank ausschüttete, bis zu den wenig beachteten Überlebensfragen der Demokratie, wie eben der Verknüpfung des Genusses der Segnungen des Rechtsstaates mit der österreichischen Staatsbürgerschaft, bot sich dasselbe Bild: Was die Freiheitlichen verlangten, wurde von der Regierung im Brustton der Ausgrenzung zurückgewiesen — und ein paar Monate später durchgeführt.

So wurde nicht nur für den Abschied von den Menschenrechten die Akzeptanz des Publikums sichergestellt, sondern Haider überhaupt erst salonfähig gemacht, bekam die staunende Wählerschaft doch regelmäßig vorgeführt, daß auch die sozialen und die christlichen Demokraten dem freiheitlichen Ansinnen viel abzugewinnen vermochten.

Daß die Gelegenheit, das Hobby zum Beruf zu machen, heute so günstig ist wie noch nie, danken wir also nicht nur der gegenwärtigen Regierung, sondern auch ihrer Vorgängerin, namentlich aber allen, die damals, als es noch nicht zu spät war, nur mit den Achseln zuckten. Hoffentlich ist ihnen auf diese Art wenigstens Zeit geblieben, ihr Steckenpferd zu pflegen: Keiner weiß, wohin er noch darauf wird reiten müssen.