FORVM, No. 123
März
1964

Der Schritt über die Grenze

Ein Rückblick auf den Jazz der letzten zwölf Jahre

Die großen Musiker des Bebop in den Vierzigerjahren (u.a. Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk) haben den Jazz an jene äußerste Grenze der Abstraktion geführt, auf deren anderer Seite die Atonalität wartet. Seither verstand es sich für einen akzeptablen Jazzmusiker fast von selbst, „das Erbe Charlie Parkers anzutreten“. Aber die meisten von ihnen treten kein Erbe an; sie verwalten es nur.

Denn ein Erbe antreten, das heißt doch: dort fortsetzen, wo derjenige, den man beerbt, aufgehört hat. Davor aber haben die meisten Jazzmusiker Angst. Sie haben Angst, den Schritt aus der Geborgenheit der Tonalität in die ungeborgene Freiheit der Atonalität zu tun.

Erst in den letzten Jahren hat sich das geändert. Aber verglichen mit der Fülle der Jazzmusiker, die heute Plattenaufnahmen machen, und gemessen an dem Jazz-Boom, den wir registrieren können, sind es nur wenige, die den Schritt gewagt haben: Charlie Mingus, Ornette Coleman, John Coltrane, Eric Dolphy, Cecil Taylor und vier oder fünf andere.

Der Blues, die eigentliche Kraftquelle der Jazzmusik, ist, wie Mahalia Jackson einmal gesagt hat, „das Lied eines ungebrochenen Geistes“. Im Dixieland von Chicago und im New-Orleans-Jazz der Zwanzigerjahre lebt die hektische Zeit vor dem großen Wirtschaftskrach so unmittelbar, daß es geradezu eine Verfälschung ist, wenn man heute Dixieland allein als Musik der guten Laune empfindet. Es ist ja auch falsch, wenn man die „roaring twenties“ als ausschließlich gutgelaunte Zeit darstellt, wie es Mode und Stummfilm, Kabarett, Graphik und die Wiederbelebung des Charleston scheinbar nahelegen.

Aber es besteht ein Unterschied: In dem von Louis Armstrong inspirierten Jazz vor Charlie Parker, vor den Vierzigerjahren, gibt es relativ mehr Vergnügliches als Gefährdetes. Seit Charlie Parker gibt es zum erstenmal im Jazz mehr Gefährdetes als Vergnügliches.

Die Musiker, die Charlie Parkers Erbe anzutreten hatten, sahen sich in einer schwierigen Situation. Sie waren kompetente und kluge Musiker, und sie wußten, daß das, was Parker in melodischer, harmonischer, rhythmischer und klanglicher Hinsicht Neues gefunden hatte, einen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten bedeutete, wie ihn der Jazz vorher nicht besessen hatte. Als gute Musiker wollten sie auf diesen Reichtum nicht verzichten.

Anderseits aber hatten sie Angst vor den Emotionen, die Parker mit diesem Formenreichtum ausgedrückt hatte vor dem, was er in seiner neuen Sprache gesagt hatte. Sie griffen zwar die neue Sprache auf, versuchten aber Dinge damit zu sagen, die mit dieser Sprache wenig zu tun hatten.

Was bei dem einen Musiker überzeugend und richtig ist, wird bei einem anderen zur — allenfalls ironisch verständlichen — Farce, wenn er es notengetreu nachspielt. Darin liegt auch die bekannte Schwierigkeit, Jazz in Notenschrift aufzuzeichnen oder zu reproduzieren. Was und wie einer spielt, ist immer an die eine Person gebunden. Wenn die meisten Jazzmusiker der Fünfzigerjahre von der technischen Sprache Parkers fasziniert waren, aber anderseits vor dem, was Parker in dieser Sprache ausdrückte, Angst hatten, machten sich alle diese Musiker einer Verfälschung schuldig. Das ist das Hauptproblem im Jazz der letzten zwölf Jahre.

Alle die Jazz-Moden, die wir seit dem Bebop im Jazz haben, sind ein Ersatz für den Schritt in die Atonalität. Zuerst wurde der Wunsch nach einem zuverlässigen Halt in der kontrapunktischen Mode offenbar. John Lewis, der Leiter des Modern Jazz Quartett, hatte — wie all die anderen — das Parker-Erbe angetreten. Wer seine Musik kennt, hört das auch aus den klassizistischen Spielereien heraus, die ihm als äußeres Gerüst dienen. Lewis suchte Geborgenheit in der Rückorientierung auf die große europäische Musik, von der er als Musiker und als kultivierter Neger fasziniert war. Zum Phänomen John Lewis gehört ja vor allem die Tatsache, daß er als Neger in einer fast weißen Umwelt aufwuchs.

Lewis fand die Geborgenheit vor allem in der Musik Johann Sebastian Bachs, in ihrer kontrapunktischen Ordnung und Strenge. Dennoch ist seine Musik voll erregender Faszination. Wie eine entsprechende Musik klingt, wenn sie nur von kompetenten Technikern gespielt wird, macht der Westcoast Jazz deutlich, der in der ersten Hälfte und Mitte der Fünfzigerjahre eine grassierende Mode war. John Lewis ist als Persönlichkeit stark genug, um aus dem inneren Widerspruch seiner Konzeption gute Musik zu gewinnen. Die Westcoast-Musiker aber sagten nur die Worte und meinten etwas anderes, als diese Worte bei Charlie Parker (und auch bei Miles Davis) bedeutet hatten. Es ist vielleicht bezeichnend, daß diese Musiker in geordneten Verhältnissen lebten, mit der Sicherheit von Beamten in den Film- und Fernsehstudios Hollywoods arbeiteten, Frauen und Kinder, Swimmingpools und schöne Villen im San Fernando Valley hatten.

An der Westküste entstand auch das Quintett des Schlagzeugers Chico Hamilton. Wieder gab es die gleiche Situation: Die fünf Hamilton-Leute wollten zwar an der Sprache Parkers nicht vorübergehen, aber sie brauchten Geborgenheit — für sich und ihr Publikum. Was sie unter Geborgenheit verstanden, fanden sie in der klassischen und romantischen Musik des vergangenen Jahrhunderts, „angereichert“ mit Salon-Reminiszenzen. „Chrissie“, heißt es von einem Hamilton-Stück, „ist eine Mozart-artige Sache, ein vergnügtes, kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren skizzierend.“

Ebenfalls an der Westküste lebte damals der Arrangeur, Komponist, Saxophonist und Klarinettist Jimmy Giuffre. Er flüchtete sich zu den klaren Linien alt- und neuenglischer Volkslieder. Als er das Illusorische dieses Wegs erkannte, wurde sein Dilemma noch größer.

Und dann gab es im Jazz der Fünfzigerjahre die große Count Basie-Mode. Kaum ein anerkannter Musiker, der damals nicht Count Basie-Tribute aufnahm — von Al Cohn an der Ostküste bis zu Shorty Rogers an der Westküste. Jack Montrose sagte, was alle dachten: „Basie fasziniert mich ... Ich möchte im Sinne der Basie-Tradition schreiben, aber mit meinen Ideen in Harmonie und Kontrapunkt.“ Was Montrose unter „meine Ideen“ verstand, waren die Ideen eines Musikers, der nach Charlie Parker lebte.

Die Einschmelzung des Parker’schen Stils in den Count Basie’s kann man schrittweise verfolgen: von den Tenorsaxophonisten, die in den Vierziger- und Fünfzigerjahren Count Basie und Lester Young neu entdeckten, hatten die ersten noch verhältnismäßig viel Parker-Erbe: Allen Eager etwa oder Stan Getz. Aber dann wurde es immer weniger Parker: über Herbie Steward und Zoot Sims zu Al Cohn und Bob Cooper, Buddy Collette, Dave Pell und Jack Montrose, bis schließlich die letzten in dieser Reihe Richie Kamuca, Jimmy Giuffre und Bill Perkins — rein und kühl gefilterten Lester Young—Count Basie bliesen.

Als Parker schließlich ganz in Count Basie aufgegangen war, mußte man ihn neu entdecken. Denn man brauchte Parker aus technischen Gründen. Und kaum hatte man ihn neu entdeckt, entstand die „funky“-Mode. Jazz mußte „funky“ sein. In Japan, wo man immer alles bis aufs I-Tüpfelchen genau nimmt, gab es sogar funky-Cafés, funky-Kleider und funky-Schlipse. Als ein Ansager einem Tokioer Mannequin ein besonders nettes Kompliment machen wollte, sagte er: „Sie schauen aber heute funky aus.“ Zum Glück wußten weder Ansager noch Mannequin, daß „funky“ im Negerjargon der amerikanischen Südstaaten vor zwanzig Jahren „schmutzig“, „dreckig“, „gemein“ und „niedrig“ bedeutete. Jetzt wurde dieses Wort auf das einfache, „niedrige“, „schmutzige“ Blues-Volkslied oder noch simpler auf das Akkordgerüst des Blues bezogen.

Die Jazzmusiker aller Spielweisen an der Ost- und Westküste haben sich mit auffallender Begeisterung auf den „funk“ gestürzt — in einer Weise, die aus musikalischen Gründen allein nicht zu erklären ist. In einem Leserbrief, den die amerikanische Zeitschrift „Down Beat“ im Frühjahr 1958 erhielt, heißt es, daß „der kühle Jazzmusiker, indem er den funky-Blues-Rahmen gebraucht, an den Inhalt denken mag, der hinter diesem Rahmen verborgen ist ... Dieser Inhalt drückt ein warmes — dem kühlen entgegengesetztes — Verhältnis zum Leben aus ... Wenn auch der Inhalt des echten Blues traurig sein mag, so ist es doch nicht eine völlig hoffnungslose Traurigkeit ...“ Und danach spricht dieser Leserbrief von einer „spiritual transformation“, einer geistigen Umwandlung des kühlen Jazzmusikers. Der Beat-Schriftsteller Jack Kerouac, der stets ein enges Verhältnis zum Jazz besaß, vermutete sogar, daß religiöse oder quasi-religiöse Vorgänge dahinterstehen.

Wie recht er damit hatte, wurde deutlich, als sich zwei Jahre später aus dem funk-Jazz der soul-Jazz entwickelte. An die Stelle des Blues trat der Spiritual. Klänge und Atmosphäre der Negerkirchen zogen in den Jazz ein — so konzentriert, wie es das vorher nie gegeben hat. „Let’s go to church“ sagten die Hipsters, wenn sie in ein Jazz-Lokal gingen, und die buchstäbliche Wahrheit war dabei nur in äußerlichem Zynismus verpackt. Man hörte wirklich Kirchenklänge in den Jazz-Lokalen.

Die Jazz-Musik fand im Blues, im Volkslied der Neger, im Gospelsong und den Klängen der amerikanischen Kirchen legitime Quellen. Johann Sebastian Bach, die Salon-Musik, englische Volkslieder oder kontrapunktische Spielereien sind dagegen mit dem Jazz nicht bruchlos zu verschmelzen. Wir haben im Jazz viele verschiedene Maßstäbe und Richtungen, aber kaum ein Kritiker zweifelt daran, daß mancher Jazz dieser Zeit, in der man so sehr nach Geborgenheit suchte, zum besten gehört, den es gibt.

Die Jazz-Entwicklung vom New Orleans bis Parker zeigt eine deutliche Geschlossenheit und Geradheit. Kaum ein Jazz-Kritiker bemüht sich heute noch, einen Bruch zwischen altem und modernem Jazz nachzuweisen.

Die Entwicklung der großen Jazz-Trompeter etwa führt von Louis Armstrong über Red Allen zu Roy Eldrige und Harry Edison fast zwangsläufig zu Dizzy Gillespie und Miles Davis. Das Entsprechende gilt für alle anderen Instrumente und vor allem in harmonischer, rhythmischer und melodischer Hinsicht. Die Bebop-Musiker haben ein Gesetz erfüllt, das im Jazz beschlossen liegt, seit es ihn gibt. Die Musiker, die nach dem Bebop kamen, haben aufgehört, Folgerungen zu ziehen aus dem Bestand, den sie vorfanden: Zwischen den Vierziger- und Fünfzigerjahren gab es einen einschneidenden Bruch.

Erst in den letzten Jahren fängt die Entwicklung an weiterzugehen. Erst jetzt fängt man an, das Parker-Erbe anzutreten und trotzdem vorwärts zu schauen. Erst jetzt werden jene Schritte getan, die schon Ende der Vierzigerjahre fällig schienen. Und zwar werden sie getan in improvisatorischer Spontaneität — nicht auf Grund intellektueller Experimente kluger Köpfe. Charlie Mingus, John Coltrane und die anderen, die wir am Anfang nannten, tun den Schritt über jene Grenze zwischen Tonalität und Atonalität als vital improvisierende Jazzmusiker, und man kann hoffen, daß es nicht eines Tages heißen wird: die Jazz-Entwicklung hat 1948 mit dem Miles Davis Capitol-Orchester aufgehört.

Die lange Pause zwischen 1948 und 1960 mutet einen an, als habe der Jazz noch einmal Luft geholt, als habe er noch einmal alles rekapituliert, was in ihm steckte und was ihm bis dahin zugänglich war, bevor er den Schritt in neues, unbekanntes Land tat. Man braucht Kraft, um ihn tun zu können, und vielleicht kann man sagen, daß die Jazzmusiker in den Fünfzigerjahren Kraft gesammelt haben: Kraft in der Tradition ihrer eigenen Musik, bei Count Basie und im Blues und im Spiritual, aber auch in der Tradition der europäischen Musik. Im Bewußtsein dieser Kraft gehen sie nun weiter: die Entwicklungen überstürzen sich, alles ist in Fluß geraten.

FORVM hat, um sein lange vernachlässigtes Stiefkind, den Jazz, zu versöhnen, den deutschen Jazz-Spezialisten Joachim E. Berendt gebeten, einen Überblick über den letzten Stand der Entwicklung zu schreiben. Ergänzend berichtet Dr. Rüdiger Engerth auf Seite 165 von den Jazz-Veranstaltungen in Wien.

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