FORVM, No. 145
Januar
1966

Der teure Kauf

Ein Aspekt der Literatur im 20. Jahrhundert

Es ist wohl allgemein anerkannt, daß die deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Weltliteratur gehört; keine andere literarische Epoche, auch nicht die der Weimarer Klassik, ist so stark in das literarische Bewußtsein Europas und Amerikas eingegangen. Wert und Bedeutung dieser Literatur müssen heute nicht bewiesen werden; ebensowenig, daß Rilke, Thomas Mann und Franz Kafka zu den Großen gehören; auch Bertolt Brecht, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal; und — vielleicht mit weniger allgemeiner Zustimmung — Georg Trakl, Ernst Jünger und Karl Kraus. Jeder von ihnen hat einmalige und individuelle Werke geschaffen, um jeden von ihnen bemühen sich zahlreiche Kritiker in Europa und Amerika. Es geht mir nun um folgende Frage: wenn wir uns mit der Feststellung der Einmaligkeit ihrer literarischen Schöpfungen nicht begnügen, können wir darüber hinaus Ähnlichkeiten entdecken, die uns berechtigen, von einer Verwandtschaft dieser Dichter zu sprechen? Können wir vielleicht ein ihnen gemeinsames Thema herausfinden, oder gibt es irgendeinen anderen Aspekt, auf Grund dessen wir sagen können: diese Werke entstammen alle demselben Zeitalter?

Literaturwissenschaftler und Philosophen hören solche Fragen mit Unbehagen; und da (wie ich zu zeigen hoffe) ihre skeptischen Einwände gewissermaßen zu meinem Thema gehören, will ich ganz kurz auf den gewichtigsten dieser Einwände eingehen. Ludwig Wittgenstein spricht in seinem „Blauen Buch“ (1933/34) [*] von unserem „unrechtmäßigen Begehren nach Verallgemeinerungen“ und sieht in diesem Begehren „die Quelle unserer philosophischen Mißverständnisse“. Er untersucht diese „Tendenz, nach irgendeinem gemeinsamen Nenner zu suchen für alle jene Einzelfälle, die wir (dann) unter einem gemeinsamen Nenner-Begriff subsummieren“, und in dieser Tendenz sieht er „unsere verächtliche Einstellung zum Einzelfall“.

Wittgenstein fragt weiter, ob es nicht doch eine Möglichkeit der Verallgemeinerung gibt, die frei ist von jener Verachtung des Einzelfalls, eine Erkenntnisweise, die das individuelle Gepräge des Einzelfalles nicht verwischt. Und da ist der Punkt, an dem er unseren Fragen zu Hilfe kommt, obwohl er mit seinen Argumenten gar nicht auf literarische Probleme zielt. Denn wir brauchen nur für das von ihm erwähnte Beispiel eines Einzelfalles ein für uns relevantes einzusetzen. Und zwar so, daß dort, wo Wittgenstein über Verallgemeinerungen spricht, die sogenannte „Sprachspiele“ betreffen, wir von Verallgemeinerungen sprechen wollen, die Werke der Dichtung betreffen.

Er argumentiert also folgendermaßen: „Wir neigen dazu, zu denken, daß all die literarischen Werke, die wir eben im Sinne haben, irgend etwas gemeinsam haben müssen und daß das, was sie gemeinsam haben, ein ‚Grundthema‘ genannt werden kann. In Wirklichkeit aber bilden diese Werke eine Familie, deren Mitglieder gewisse Familienähnlichkeiten besitzen: manche haben die gleiche Nase, andere die gleichen Augenbrauen, andere wieder die gleiche Gangart, und diese Ähnlichkeiten überschneiden einander.“

Ich glaube, daß Wittgenstein die Antwort auf eine philosophische Frage gefunden hat, die seit Aristoteles besteht und die bis dahin nur unbefriedigend beantwortet wurde. Jedenfalls scheint mir, daß hier eine Verfahrensweise angedeutet wird, mittels der wir alle jene Probleme lösen können, welche früher einmal unter den Begriff „literarische Schule“ fielen. Die Antwort könnte kaum einfacher sein: wir müssen uns mit einem Spektrum einander überschneidender Ähnlichkeiten begnügen, statt ein einzelnes „besonderes Kennzeichen“, eine sozusagen abhebbare einzelne Eigenschaft zu suchen und zu isolieren.

Es bleibt jedoch die Frage offen, warum wir dieses „unrechtmäßige Begehren nach Verallgemeinerungen“ überhaupt zu befriedigen suchen. Es gibt wohl zwei Gründe dafür; erstens: ich glaube, wir können wirklich gar nicht anders, als zu verallgemeinern, denn sobald wir mehrere Autoren derselben Zeit intensiv lesen, entsteht in uns, fast unwillkürlich, die ungewisse und vage Vorstellung, daß diese Werke eine gewisse Ähnlichkeit besitzen, ganz so, wie wenn wir mehreren Mitgliedern einer Familie begegnen; sie besitzen wohl keinen einzigen individuellen Gesichtszug, den wir bei jedem wiederfinden könnten, und doch gibt es so etwas wie ein Familiengesicht, das es uns ermöglicht, Personen zu erkennen und zu identifizieren, die wir nie vorher getroffen haben. Diese vage Vorstellung aber tritt nicht schärfer in unser Bewußtsein, sondern wird im Gegenteil mit der Zeit immer ungenauer, wenn wir nicht ausdrücklich den Versuch machen, die betreffende Familienähnlichkeit zu formulieren und uns somit davor verwahren, daß die ursprünglich richtige Vorstellung durch Ungenauigkeiten oder Anachronismen verzerrt werde.

Zweitens aber soll die Formulierung einer gemeinsamen Thematik wieder auf unser Verständnis der einzelnen Werke zurückwirken, das heißt, nachdem uns klar geworden ist, was sie gemeinsam haben, erkennen wir deutlich die eigentümlichen Gesichtszüge jedes einzelnen — ja vielleicht deutlicher als zuvor, als wir jedes Werk für sich betrachtet hatten. Wir machen uns also keiner „verächtlichen Einstellung zum Einzelfall“ schuldig, sondern bemühen uns, im Gegenteil, das Besondere, den „Einzelfall“, auch im Lichte der Verallgemeinerung zu sehen, oder mit anderen Worten, es in Zusammenhang mit dem Zeitalter zu bringen, dem jedes einzelne Werk angehört. Und am Ende müssen wir natürlich am einzelnen Werk nachprüfen, ob unsere Verallgemeinerung richtig oder falsch war; denn es gibt ja nur den Einzelfall.

Wir wollen nun unsererseits vom Allgemeinen zum Besonderen springen. Und zwar gleich zur ersten Stanze eines kurzen Gedichtes von Rilke, das Ernst Zinn im Nachlaß fand und das der Dichter in seinen allerletzten Jahren geschrieben hat:

Da schwang die Schaukel durch den Schmerz —,
doch siehe,
der Schatten wars des Baums, an dem sie hängt.
Ob ich nun vorwärtsschwinge oder fliehe,
vom Schwunge in den Gegenschwung gedrängt,
das alles ist noch nicht einmal der Baum.
Mag ich nun steiler schwingen oder schräger,
ich fühle nur die Schaukel: meinen Träger
gewahr ich kaum.

Es fällt uns an diesem Gedicht zuallererst das Bild der Schaukel auf, die Verwandlung ihrer Bewegung in Sprache, bewirkt durch die Wahl besonders dynamischer Wörter, vor allem der Zeitwörter. Wenn wir uns weitere Gedichte Rilkes ins Gedächtnis rufen, erkennen wir, daß die Art, wie diese Zeitwörter die Dynamik der deutschen Sprache verwerten, ja ausbeuten, für die ganze Dichtung Rilkes, jedenfalls von 1907 ab, bezeichnend ist — daß hier eine originelle, eigenmächtige, manchmal fast willkürliche Ausdrucksweise am Werke ist. Und wir erkennen zugleich, daß all dies das sprachliche Äquivalent ist der Rilke’schen Bemühung, in seiner Dichtung Bewegung, Übergänge, das Gegenteil scharfer Trennungen und absoluter Antithesen zu gestalten. Vergleichen wir diese Stanze mit ähnlichen Stellen bei Angelus Silesius oder bei Goethe, so finden wir in einem solchen Vergleich eine Bestätigung für die Originalität der Rilke’schen sprachlichen Schöpfung und daher eine Bestätigung unseres Eindruckes, daß Rilke uns in ganz andere Erlebnisbereiche führt.

Aber wir sind noch am Anfang unserer Interpretation.
Auch das Bild der Schaukel wird hier in ganz eigentümlicher Art benutzt. Wir stellen uns für gewöhnlich vor, daß eine Schaukel an einem festen Punkt aufgehängt ist. Rilke jedoch relativiert die Festigkeit jenes Ruhepunktes, wenn er sagt:

das alles ist noch nicht einmal der Baum;

und dann noch:

meinen Träger
gewahr ich kaum.

Die Wirklichkeit jenes Baumes — oder ist es vielleicht ein Wesen? ein Gott? — wird also dargestellt, als läge sie auf einer anderen Ebene als die Wirklichkeit der Schaukel: die Wirklichkeit des Baumes ist schwerer erreichbar, oder, wie Rilke sagen würde, „vollziehbar“, als die der Schaukel. Doch meint Rilke keinen wesentlichen Unterschied, sondern einen graduellen, einen relativen. Denn wie die Bewegung der Schaukel wenigstens teilweise determiniert ist durch das, woran sie hängt, so deutet sich die Seinsweise des Ruhepunktes wenigstens teilweise in der Bewegung der Schaukel an, und somit in der Bewegung des „Ich“, von dem das Gedicht spricht.

Wenn wir nun dieses Gedicht weiter untersuchen, finden wir eine Menge Details, Eigenheiten, die allmählich jene vage Ahnung in uns aufsteigen lassen, von der ich zuvor sprach: jene Ahnung, daß wir es mit einem modernen Gedicht — einem Gedicht aus dem 20. Jahrhundert — zu tun haben. Es ist nicht ein einzelnes Merkmal, das uns darauf bringt, sondern ein Gefüge einzelner Merkmale. Wir mußten z.B. schon bei den ersten tastenden Versuchen der Interpretation das Wort „Wirklichkeit“ zu Hilfe nehmen, das heißt, wir mußten das konkrete Bild des Gedichtes bis dorthin verfolgen, wo es in eine metaphysische Ebene hinüberreicht. Das gilt für die deutsche Lyrik fast jeder Epoche, kann also noch keine kennzeichnende Familienähnlichkeit sein. Doch zu diesem Hinüberreichen auf eine metaphysische Ebene gesellt sich nun ein zweites Moment: die Komparative („steiler“, „schräger“), die Übergänge, die Partikel, die alle Nuancen ausdrücken und die in dem betonten Wörtchen „kaum“ gipfeln — alle diese Details deuten darauf hin, daß das uns hier vermittelte metaphysische Credo ein höchst persönliches ist, daß es keiner uns bekannten Tradition angehört. Zugleich ist es in der Geschichte deutscher Dichtung nachweisbar, daß diese Wörter in diesen Bildern und Verbindungen keiner früheren poetischen Konvention angehören; ja auch keiner einzelnen poetischen Gestaltung früherer Zeit. Wir sprechen zwar mit Recht von dem großen Einfluß der Dichtung Hölderlins auf die Werke der Moderne, insbesondere auf Rilke — so sind zum Beispiel jene Komparative in Hölderlins Oden zu finden —, doch wird uns zugleich ganz klar, daß diese besondere Kombination von Sprach- und Bildelementen sich zu einer Vision, ja zu einer metaphysischen Erkenntnis zusammenschließt, die Hölderlin völlig fremd gewesen wäre.

Was ist also an diesem Gedicht „modern“? Worin besteht seine Familienähnlichkeit? Und wie könnte man sie allgemein verbindlich ausdrücken?

Wir wollen es auf dem Umweg eines Kontrasts versuchen. Im 3. Buch der Sonette von Andreas Gryphius finden wir eine dichterische Version der Bibellesung aus dem hl. Matthäus für den 3. Adventsonntag. Gryphius dichtet innerhalb der scharf umrissenen Konvention seiner Zeit (1663). Er spricht von dem Trost und der Erlösung, die Christus der Menschheit bringt, von der Gnade für die bußfertigen Sünder, die „vor in Tränen schier ersoffen“:

Das Lösegeld der Welt
der Väter langes Hoffen
Kommt noch den Augenblick
und schleußt die Ohren auf,
Die Taubheit hat verstopft
der nichtmehr-stummen Hauf
Erzählet seine Werk:
Ihm stehn die Gräber offen.
 
Wer blind war sieht und findt
wie eben eingetroffen
Was einmal Gott versprach.
Er schaut der Lahmen Lauf
Der Aussatz muß vergehn
hier wird ohn’ teuren Kauf
Den Trost geschenkt
die vor in Tränen schier ersoffen.

Das Thema, das mir grundlegend erscheint für die moderne Dichtung, steht in scharfem Kontrast zu jener Erlösung, von der Gryphius spricht: das Thema dieser Literatur, so glaube ich, ist der teure Kauf. Jedes bedeutende Werk dieser Literatur befaßt sich mit der Erlösung des Menschen. Wir verwenden hier das Wort Erlösung in ganz unorthodoxem Sinn. Die Tatsache, daß es bei jedem Dichter einen etwas anderen Sinn hat, bestätigt nur, daß unser Begriff der Familienähnlichkeit tatsächlich anwendbar ist, daß die Analogie stimmt. Die Erlösung, um die es in der Literatur des 20. Jahrhunderts geht, liegt außerhalb des traditionellen Dualismus von diesseitig und jenseitig, von Welt und Transzendenz — das Niemandsland zwischen endlich und unendlich ist der Ort, wo sich der gerade noch mögliche Erlösungsakt abspielt. Jeder unserer Dichter gestaltet sein Werk aus dem Erlebnis einer Erlösung oder Wertgebung des Menschen, die nur um den denkbar höchsten Preis erhältlich ist; den höchsten Preis, den der Dichter, aber auch der Mensch, dessen Schicksal der Dichter darstellt, zu zahlen fähig ist. Immer wieder geht es in dieser Dichtung um eine fast unerhört und unerhörbar teure Erlösung, die einzige, die dem Menschen seine Gültigkeit, seine Wirklichkeit, sein Selbstsein zusichert. Wir werden auf dichterische Situationen stoßen, in denen dieser Anspruch der Erlösung noch größer ist: dort wird dem Menschen, wie wir ihn aus diesen Werken kennen, mehr abverlangt, als er zu zahlen fähig ist; und schließlich kommen wir zur radikalsten aller erdenklichen Situationen, in der die Unerreichbarkeit des Preises als solche schon Wahrzeichen und Bestätigung der Gültigkeit wird — je unerreichbarer, desto wahrer, echter, wirklicher.

Kehren wir das Argument um, so sehen wir, daß all die Werte, die zu geringerem Preis zu haben sind, in dieser Dichtung als unwirklich und ungültig verdächtigt oder verworfen werden. Und ich glaube, es ist bezeichnend, daß viele der weniger bedeutenden Autoren jener Zeit dieses Thema entweder gar nicht beachten, und wenn sie es beachten, seine Reichweite nicht erkennen, seine Tiefe nicht erschöpfen, oder auf traditionelle und weniger kostspielige Käufe ausgehen.

Wenn wir nun dem Thema vom „teuren Kauf“ nachgehen wollen, so müssen wir uns hier wohl mit bloßen Hinweisen und Fragmenten begnügen; unsere Beispiele kommen sowohl aus einigen Werken dieser Dichtung als auch aus den verschiedenen Anschauungen der Sprache, welche diesen Dichtungen zugrunde liegen.

Blicken wir auf Rilkes Gedicht von der Schaukel zurück, so sehen wir jetzt, wie darin vor allem anderen die relative Entfernung jenes „Trägers“, jenes Baumes, ausgedrückt wird; wie der „Schmerz“ (der Schatten des Baumes) seine metaphysische Wirklichkeit über unser Leben wirft; kurz, wie schwer zu erreichen all das ist, wovon wir abhängen und was unserem Tun und Lassen Gültigkeit verleiht. Und zu diesem Thema gehören auch die Bilder der mächtigen Engel, des Lächelns der Saltimbanques, Rilkes verdichtetes Erlebnis welt-schöpferischer Innerlichkeit — all diese Bilder der späten Rilke’schen Dichtung erkennen wir jetzt als Ausdruck und Norm, als Quelle und Denkmal, nicht nur seines persönlichen Erlebnisses; sondern des Gefühlslebens eines ganzen Zeitalters. Die äußerste Anstrengung färbt und bestimmt das ganze dichterische Werk — eine Anstrengung, die für Rilke in der Erforschung und Deutung der Gefühlswelt liegt, in der Verinnerlichung der äußeren Welt, denn nur in der innerlichen Eroberung der Welt ist die Erlösung — das heißt für Rilke die Wirklichkeit selbst zu erreichen. Jede andere Erfahrung ist für ihn ungültig, ist Ausdruck des „man“, von dem dann Heidegger spricht.

Jede Hauptfigur aus Thomas Manns großen Romanen und Novellen erinnert uns an das Thema des „teuren Kaufes“. Denken wir zum Beispiel an Thomas Buddenbrook; die Lebensart und der Erfahrungsbereich, die seinen patrizischen Vorfahren genügten, befriedigen ihn nicht mehr. Er strebt nach einer Erlebnissphäre, die ihm fremd ist und geistig über seine Verhältnisse geht, die ihm existenziell nicht zukommt. So wird sein Leben zu einem nervösen Suchen nach Sinn und Wert; und in dem Augenblick, als er diesen Sinn findet, in diesem einzigen kurzen Augenblick, erkennen wir den „Sinn“ als zerstörend — es ist das Gift, das ihn tötet. Wir sehen den jungen Hans Castorp auf seinem unsicheren Weg von einer Weltanschauung zur nächsten, vom Humanismus zur Psychoanalyse, zum Vitalismus, zu Wagner — bis er in einem Augenblick höchsten Bewußtseins versucht, all das, was er gelernt hat, zu fassen — alle Widersprüche in einem gültigen Fazit zusammenzuschließen. Wieder ist es nur ein Augenblick — diesmal ein Traum von der Erkenntnis des Todes und der Liebe zum Leben. Vieles wäre über Quelle und Inhalt dieses Traumes zu sagen, doch uns beschäftigt vor allem die Tatsache, daß Hans seinen Traum in einer doppelten Grenzsituation träumt: nicht in den unproblematischen und beruhigenden Niederungen seines heimatlichen Flachlandes, sondern in der hermetischen Atmosphäre des Zauberberges und weiter noch in einem Schneesturm, der ihn an den Rand des Todes selbst bringt. Wie die Vision Thomas Buddenbrooks, wie die Gustav von Aschenbachs, so entsteht auch Hans Castorps Vision während eines unsteten und vergänglichen Augenblickes. Sie umfaßt mannigfaltige antithetische Elemente — und wieder braucht es die Anstrengung eines ganzen Menschenlebens, um diese Vision zu erreichen, und (wie sich nachher herausstellt) mehr als diese Anstrengung, mehr als die Kraft dieses Menschen, um der Vision ein Leben lang zu folgen.

Wir sehen also, daß das gemeinsame Thema dieser Werke an den Grenzen des gewöhnlichen Lebens entsteht. Mehr als alle anderen großen Autoren dieses Jahrhunderts glaubt Thomas Mann an Wert und Tüchtigkeit des Menschen, und mehr als andere ist er bereit, Wert und Tüchtigkeit gleichzusetzen. Der Wert des Lebens, er spricht es immer wieder aus, ist im Leben selbst zu finden, in dieser Welt, und doch ist er alles andere als leicht erreichbar. Die Suche nach gültiger Erkenntnis erfordert ein Äußerstes an existenzieller Anstrengung. Wenn irgendein Charakter der neueren Literatur den ehrwürdigen Namen eines Helden verdient, so ist es Jaacob. Erinnern wir uns an jene Szene, in der Jaacob den Segen seines leichtgläubigen blinden Vaters erschwindelt, wie er dann von zu Hause wegläuft und auf seiner ruhmlosen Flucht von seinem rachsüchtigen Vetter, dem jungen Eliphas, eingeholt wird. Die Szene, die nun folgt, ist so demütigend, so beschämend wie so manche Erfahrung des Glückskindes Felix Krull.

Jaacob liegt auf den Knien vor dem Jüngeren. Er redetund redet, erfindet Entschuldigungen und Ausflüchte. Er windet sich im Staube, küßt Eliphas’ Füße, so daß der Junge sich angewidert von dem unwürdigen Schauspiel abwendet. Jaacob ist zu allem bereit — bereit, den Schwindel zu leugnen, die Schuld auf die Mutter zu schieben, ja selbst den Wert des Segens herabzuwürdigen. Alles, was er besitzt, will er hingeben (außer — aber das nur nebenbei — einem Ring, welchen er in seinem Gürtel versteckt hat). Als er schließlich den Ort seiner Schmach verläßt, hat er alles eingebüßt, was die Menschen am höchsten schätzen: seine Ehre und seinen guten Namen, Mut und Mannhaftigkeit, den letzten Rest menschlicher Würde. Und was ist es, was er so teuer gekauft hat? Sein nacktes Leben? Nein, das allein ist es nicht. Es geht nicht bloß ums Überleben. Denn ihm wird ein besonderes Leben zuteil, von welchem er weiß, daß es mehr wert ist als alle Gefühle von Anstand und alle Güter, die er dem dummen Kriegerbengel Eliphas vor die Füße geworfen hat. Und er weiß, daß sein Leben jetzt und für immer gesegnet ist. Gestohlen hat er den Segen, aber er ist sein. Hungrig, müde, die Tränen der Furcht und Scham noch feucht auf seinen Wangen, so schreitet er neben seinem lahmen Kamel durch die Wüste. Er befindet sich an den äußersten Grenzen des Lebens, sein Schamgefühl erlaubt ihm nicht, menschliche Gesellschaft zu suchen. Er findet einen Ring von Felsblöcken um einen Brunnen, dort legt er sich nieder, und wieder träumt er einen Traum — den Traum seines Lebens, den er nie vergessen wird: den Traum, der ihm — wiederum in einer einzigen kurzen Nacht — die Erkenntnis des Guten und Bösen entdeckt, die Erkenntnis seines Gottes, dem er dienen wird sein Leben lang.

Wieder wäre zu fragen, ob das, was Jaacob hier geoffenbart wird, oder das, was Joseph selbst in einer ähnlichen Situation geoffenbart wird, wahre religiöse Erkenntnis ist; ob das, was Hans Castorp oder Adrian Leverkühn oder Gustav von Aschenbach erfahren, „transzendente“ oder „immanente“ Erkenntnis ist. Uns kommt es hier darauf an, daß in jedem Falle das entscheidende Erlebnis um den Preis äußerster Anstrengung erlangt wird; daß die Erkenntnis, die dem Dasein des Helden Sinn verleiht (worin auch immer dieser Sinn bestehen mag), an den äußersten Grenzen des Lebens errungen wird und daß in jedem Falle die Mühsal des Weges zum ersehnten Ziel dem Ziel selbst anhaftet.

Schier endlos sind die parabolischen und metaphorischen Rätsel, die das Werk Franz Kafkas seinen zahlreichen Deutern und Auslegern aufgibt, doch eines ist klar erkennbar: die Familienähnlichkeit seiner negativen Helden. In Kafkas Werk ist die Erlösung und Anerkennung, qualvoll und zum Greifen nahe, grundsätzlich unerreichbar. Josef K.s ruhelose Bemühung um Gerechtigkeit ist deshalb von Anfang an so trostlos, weil er das Gesetz, nach dem er sich verurteilt glaubt, gar nicht kennt. Nie wird er seine Schuld wissen noch den Weg aus dem Labyrinth des Gesetzes, und selbst die Behauptung seiner Unwissenheit wird widerlegt. So ähnlich geht es auch K. im „Schloß“, der die Qualen eines Tantalus erleidet im Ringen um Bestätigung seiner Existenz. Je näher er der positiven Erlösung kommt, desto unerreichbarer wird sie; die Botschaft der Befreiung erreicht ihn nicht, er ist zu erschöpft, um ihre Worte zu vernehmen. Ja, bei Kafka wird das Thema vom teuren Kauf noch weiter geführt: wir stoßen hier auf das Moment eines tödlichen Stolzes (ähnlich wie übrigens auch bei Thomas Manns „Dr. Faustus“), der Kafkas Helden verblendet angesichts der Unerreichbarkeit des Zieles. Es gibt drei oder vier Stellen in Kafkas Romanen, wo den Helden von kompetenter Autorität der Weg gezeigt wird, den sie zu gehen hätten, um Recht und Anerkennung zu finden. Sie gehen ihn nicht. Denn dieser Weg ist ihnen zu simpel, er kommt ihnen zu unkompliziert vor, weil sie ja doch „Fälle“ sind, Parteien mit langen Dossiers und Akten, und weil solche „Fälle“ ihrem selbstmörderischen Stolz nach nicht so einfach zu lösen sind. Der teure Kauf, der die Quelle ihres Stolzes ist, wird zum Endzweck. Wir müssen uns nur vorstellen, was die Dichter der Aufklärung oder die positivistischen Denker des 19. Jahrhunderts zu dieser Auffassung des teuren Kaufs gesagt hätten, um sowohl den Zusammenhang mit früheren Themen (etwa dem faustischen) zu sehen, als auch — desto deutlicher — die grundsätzlichen Unterschiede.

Während es in diesem Text bisher recht metaphysisch zugegangen ist, haben sich einige Leser wohl gefragt, wie sich der höchst irdische, anti-idealistische Bertolt Brecht in dieser Gesellschaft ausnähme. Wie der Wolf im Schafstall, so möchte man meinen. Ich glaube aber dennoch, daß die Thematik, von der wir hier sprechen, uns auch in seinem Fall zum Kern vieler Werke führt. Wir wissen, daß die Hauptfiguren der großen Stücke seiner Spätzeit die radikale Verneinung aller traditionellen Werte und aller überlieferten Moral verkörpern — daß hier polemisiert wird gegen das ganze heroische Wesen der klassischen Bühne. Mut, Ehre, Integrität — all das ist veraltet. Alle diese Tugenden gelten einfach nicht, wo es um das sogenannte „wirkliche“ Leben geht; dort gilt ein voller Bauch, ein warmes Bett, ein Kasten voll Geld, vor allem aber das bloße Überleben. Gemessen an diesen Realitäten sind alle großen Worte reiner Schwindel. Wirklich alle? Mit ungeheuer dramatischer Energie sprengt Brecht einen Begriff nach dem anderen in die Luft, und am Ende — was bleibt zum Beispiel am Ende von „Mutter Courage“ übrig? Wahrhaftig nicht das bloße Überleben, nicht die Zähigkeit des „Niobenweibes“: Brecht selbst belehrt uns in einer Notiz zur Züricher Aufführung vom Jahre 1941, daß unsere Bewunderung nicht der bloßen Vitalität seiner Heldin zu gelten hat. Ich kann Ihnen nicht mit Zitaten aufwarten; die Wertgebung, mit der das Stück endet, ist wortlos, denn sie ereignet sich in einer Welt, in der (wie Hans-Egon Holthusen sagt) alle Worte lügen. An Stelle der Worte steht eine Tat: die fast rasende Tat der Selbstaufopferung, wenn die stumme Tochter der Mutter Courage die Kinder im Dorfe alarmiert und sie so vor der raubenden Soldateska rettet: der Wert, der dieser Tat innewohnt, wird nicht mehr zurückgenommen, wird nirgends kritisiert.

So ähnlich ist es auch in der letzten Szene von „Galileo Galilei“, wo der große Lehrer und Wissenschaftler seinen Schüler, den nicht mehr so jungen Andrea, über die Motive aufklärt, warum er, Galileo, sich der Inquisition gebeugt hat. Galileo könnte natürlich Andreas Deutung annehmen; er könnte sagen, daß er seine wissenschaftlichen Einsichten vor der Inquisition widerrufen hatte, um in Ruhe die „Discorsi“ schreiben zu können und so den Fortschritt der Wissenschaft zu sichern. Er tut das aber nicht. Er bezichtigt sich selbst der Feigheit und Bequemlichkeit, kurz, der Liebe zum eigenen Bauch. Sind das die Eigenschaften, die uns das dramatische Argument als wertvoll empfiehlt?

Sie sind nicht wertvoller als Mutter Courages hemmungsloser Selbsterhaltungstrieb, welchen Brecht ja ausdrücklich zurückwies. Wir kommen hier an den Rand eines Argumentes, in ein Dilemma, das ich nicht zu lösen vermag. Der Gegenwert wissenschaftlicher Verantwortung, den Brecht nach Hiroshima dem Stück einzuverleiben versucht, scheint mir nicht erreicht. Ich glaube eher, daß hier eine Konfusion mit rhetorischen Gesten überdeckt wird. Aber wie dem auch sei, unverkennbar ist der angestrengte Versuch, das dramatische Argument bis zu einem Punkt hinzuführen, wo eine bequemere, weniger anspruchsvolle Art der Lösung respektive Erlösung nicht mehr möglich ist. Es gibt Gedichte von Brecht — wir denken zum Beispiel „An die Nachgeborenen“ —, wo er mit ergreifendem lyrischem Pathos gegen die Gewalttätigkeit und den Haß spricht, ohne die er sich in unserem Zeitalter kein politisches Engagement vorstellen konnte — Gedichte, in denen er sich nach der Freundlichkeit und Heiterkeit sehnt, die vielleicht unseren Erben zuteil werden. Diese Werte aber vermochte er in seinen Stücken kaum zu zeigen.

Regen uns die offenen Schlüsse der Brecht’schen Stücke tatsächlich zu sozialer Kritik an? Brecht hat es zwar behauptet, doch haftet seiner Beweisführung eine etwas gekünstelte Naivität an, und Brecht war, wenigstens in Hinsicht auf sein Theoretisieren, alles andere als ein naiver Schriftsteller. Es scheint mir vielmehr, daß die offenen Schlüsse nichts anderes ausdrücken als den Zweifel des Stückeschreibers an jeder Möglichkeit eines Endes, sei es marxistisch oder sonstwie. Ich will damit keineswegs sagen, daß die marxistische Ideologie für Brechts dramatisches Werk nicht wichtig gewesen sei; auch die These vom Dichter, der trotz seinem Marxismus einer war, scheint mir unhaltbar. Er entnimmt dem marxistischen Ideenkreis die Grundthemen seiner Stücke; auch die Art seiner Charakterdarstellung, die Art seiner dramatischen Fragestellung ist ohne Marxismus kaum denkbar, jedenfalls nicht in der deutschen Literatur. Die Binsenwahrheit muß wohl ausgesprochen werden, daß der größte deutsche Dramatiker dieses Jahrhunderts ein Marxist war. Die Fragestellung seiner Stücke ist, wie gesagt, von der marxistischen Grundposition untrennbar; doch wir müssen auch hinzufügen, daß diese Ideologie ihm keine dramatische Antwort bietet. Seine Fragen sind Exempel eines unerfüllten, eines Gott sei Dank unerreichten Marxismus. Ob er nach den Dreißigerjahren je wieder gehofft hat, gültige marxistische Antworten zu finden, darf man wohl bezweifeln. Den erreichten, vollendeten Marxismus einer klassenlosen Utopie demonstriert uns die Rahmenhandlung des „Kaukasischen Kreidekreises“, doch dieser ernüchternd langweilige Rahmen hat mit dem Stück selbst nichts zu tun.

Wohl ist Brechts hartnäckiges Festhalten an sozialer Thematik den anderen Dichtern, die wir eingangs erwähnten, reichlich fremd. Doch in den merkwürdig zweideutigen Songs von Baal, in der kaum entwirrbaren letzten Szene der „Dreigroschenoper“, in den offenen Enden des „Guten Menschen von Sezuan“ und des „Galileo Galilei“, in all diesen Momenten nimmt er teil an dem Charakter der dichterischen Schöpfung seiner Zeit, und zwar dergestalt, daß er lieber auf klare Lösungen verzichtet, als mit Hilfe einer Ideologie vereinfachte und verzerrte Lösungen zu erzwingen. Auch er ist bemüht, dem komplexen Leben voll gerecht zu werden. Der mittlere Weg eben, so klagt Shun-Te den Göttern, ist so schwer zu finden. Und hier tritt Brecht selbst, in eigener Sache sprechend, vor den eisernen Vorhang: „Wo ist er selber“, so schreibt er im „Kleinen Organon“ (§ 39), „der Lebendige, Unverwechselbare, der mit seinesgleichen nicht ganz gleich ist?“

Das Thema, das uns hier beschäftigt, ist für die dichterische Imagination ungemein anregend und fruchtbar, zugleich aber zieht es Grenzen, über die das dichterische Werk jener Epoche nicht hinaus kam. Es scheint hier um eine Wechselbeziehung zu gehen: vielleicht dürfen wir sagen, daß dort, wo die schöpferische Energie und das intellektuelle Interesse eines Zeitalters auf eine bestimmte geistige Situation gerichtet sind, die entgegengesetzte Situation an Interesse und Anziehungskraft verliert. Und wenn es wirklich richtig ist, daß die Thematik des teuren Kaufs den bedeutendsten Dichtungen jener Zeit innewohnt, dann muß es wohl auch umgekehrt stimmen, daß jede andere Art der Lösung oder Erlösung viel weniger glaubwürdig erscheint, die dichterischen Gemüter viel weniger inspiriert. So finden wir in der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum etwas von der traditionellen Suche nach Glückseligkeit, und es wird in diesen Dichtungen die Wirksamkeit der Gnade (wobei dieses Wort wieder sehr weit aufgefaßt sei) kaum je gezeigt und veranschaulicht. Ganz außer acht bleibt sie freilich nicht. Bei Hofmannsthal, Stefan George, Ernst Jünger finden wir Beschwörungen freier und unmittelbar gewährter Erlösung, die aus einer Sphäre jenseits aller seelischen und Willensanstrengung kommt. Der Mythos vom Kinderkönig in der ersten Version von Hofmannsthals „Der Turm“, Georges Maximin, ja selbst Ernst Jüngers „Arbeiter“ sollen die Träger dieser mühelosen Gnade sein. Ich glaube aber nicht, daß diese Gestalten die gleiche Überzeugungskraft besitzen wie ihre Gegenspieler. Es ist eben schwer einzusehen, wie das Chaos einer zerstörten Welt mit Hilfe eines Wiener Meßbuben geordnet werden könnte.

Einige Momente aus dem Werk Gottfried Benns sind für unseren Zusammenhang aufschlußreich, denn sein dichterisches Schaffen erstreckt sich über die gesamte in Rede stehende Zeit. Seine frühesten Dichtungen erschienen kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und bald danach finden wir ihn unter den führenden Autoren des Expressionismus; seine Dichtung in den Zwanzigerjahren ist eine mühevolle Suche nach Werten, die sich gegen die Ernüchterung des Naturalismus und den Verfall des Bürgertums behaupten sollten. Für ihn zerstören Analyse, Psychopathologie und Soziologie sowohl den dichterischen Mythos als auch das „geheime Zentrum der Persönlichkeit“, wie sie das bürgerliche Zeitalter kannte. Aufgabe des Dichters wird es nun, neue, lebensfähige Mythen zu schaffen. Bis dahin also, das heißt bis ins Jahr 1930, dichtet Benn im hier beschriebenen Themenkreis und verwirft jeglichen Kompromiß. Adäquate Symbole findet er in chthonischen, archetypischen Menschenbildern, im instinktiven und primitiven Kultleben, schließlich in der Biologie primitiver Organismen. Es ist ein merkwürdiger Zufall, aber eben vielleicht doch kein Zufall, daß er diese primitiven Werte und ihre poetischen Gestalten gerade zur selben Zeit entdeckt, als ähnliche Werte in den ideologischen Überbau des Nationalsozialismus einverleibt werden, und während einiger kurzer aber katastrophaler Monate im Jahr 1933 scheint Benn tatsächlich daran zu glauben, daß die von ihm geschaffenen Archetypen identisch sind mit den völkischen Idealen eines Baldur von Schirach und daß das „Quartärzeitalter“ im Tausendjährigen Reich verwirklicht ist (wir dürfen vielleicht hinzufügen, daß eine derartige Koinzidenz der dichterischen Welt mit der äußeren politischen seit Shelleys und Hölderlins Zeit der Traum gar vieler Dichter gewesen ist). Aufschlußreich ist der Fall deshalb, weil er sehr anschaulich zeigt, wie es einem Dichter jenes Zeitalters ergeht, der nach angestrengter Suche eine relativ einfache Antwort auf seine mühevollen Fragen findet oder zu finden vermeint.

Wir dürfen daraus schließen, daß eine direkte Lösung diesen Dichtern nicht gegeben ist, oder wenigstens nicht auf dem höchsten Niveau ihrer Dichtung. Keine Figur aus dieser Literatur könnte mit dem Evangelisten sagen: „... denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht ...“ (Matth. 11.30). Die höchsten Tugenden dieser Dichter sind äußerste dichterische Bedenklichkeit, Redlichkeit und auch eine äußerste Anfälligkeit für jede Art von Zweifel. Mit diesen Tugenden versuchten einige unter ihnen, vor jenen monströsen politischen Lösungen zu warnen und manchmal auch ihnen zu begegnen, deren Wahrzeichen die brutalste und einfachste aller Lösungen war und die den Sieg errangen.

Auch in der Sprache der Dichtungen des Zeitalters offenbart sich die Thematik des teuren Kaufes. Die Zeit ist dahin, da das Einverständnis zwischen Sprache des Volkes und Sprache der Dichtung unproblematisch und selbstverständlich war. „Lauter Mißverständnisse“ steht gleichsam als Motto über Hofmannsthals „Schwierigem“, und die Furcht vor Mißdeutungen, das Ungenügen an der sprachlichen Formulierung geht Hand in Hand mit einmaliger Virtuosität im Bereich der Sprache; und diese sprachschöpferische Virtuosität (die manchmal zur Akrobatik wird) halten wir für nichts anderes als für das sprachliche Äquivalent zum Thema des teuren Kaufes. Franz Kafka ist einer der sehr wenigen Schriftsteller jener Epoche, der sich ausschließlich der Umgangssprache bedient und jede sprachliche Originalität oder gar Neuschöpfung vermeidet. Gibt es hier also doch noch Einverständnis zwischen Volksmund und Dichtung? Im Gegenteil, auf Seite um Seite, in Szene um Szene, verstrickt Kafka seine Helden und auch seine Leser in ein Netz zermürbender Widersprüche, in vernichtende Fehlinterpretationen. Jedesmal wird ein Wort, eine Phrase, ein Gedanke, eine Geste, ja eine einzelne Bewegung oder ihr Ausbleiben einmal so, einmal anders und zum dritten Male wieder anders gedeutet, so daß der Held angesichts der lähmenden Widersprüche zu jedweder sinnvollen Tätigkeit unfähig wird, während die Sprache jene Babel ähnliche Situation aufs treueste und genaueste spiegelt. Und die Wahrheit über K. und sein Leben? Sie ist überall und nirgendwo, jedenfalls für K. unerreichbar. Jeder Dichter begegnet dem sprachlichen Dilemma auf seine eigene Art. Hofmannsthal bildet daraus seine großartige „Comedy of Errors“; George versucht es mit einer archaisierenden und manchmal ganz persönlichen Sprache von monumentaler Einsilbigkeit. Rilke atomisiert gewöhnliche Wörter und Partikel und belädt, ja überlädt sie manchmal mit einem Äußersten an Bedeutung (ein Prozeß, der später in Heideggers metaphysischer Fabrik automatisiert wird). Thomas Mann entwickelt eine ganze Reihe äußerst komplizierter und häufig kaum übersetzbarer Parodie-Stile, die zur jeweiligen Volkssprache in rein ironischem Verhältnis stehen. Georg Trakl kondensiert die Modi dichterischen Ausdrucks auf die engste Skala, die wohl unter großen Dichtern zu finden ist, indem er das Nacheinander der Bilder, die Gestaltung einer poetischen Fabel im Ablauf der Zeit, ersetzt durch statische Bilder einer nature morte. Ernst Jünger versucht das Dilemma auf verschiedene Arten zu lösen: verglichen mit dem präraphaelitischen Kitsch der „Marmorklippen“ sind seine philosophischen Feldwebelexerzitien noch erträglich — am ehesten aber gelingt ihm ein überzeugender Stil, wo er sich auf seinen phänomenologisch geschulten Botaniker- und Beobachterblick verläßt. Karl Kraus’ satirische Prosa ist so verdichtet und von einer solchen Vielfalt innerer Bezüge, wie wir es sonst nur aus der lyrischen Dichtung kennen: damit will er den „gemeinen“ Leser sprachlich und daher geistig herausfordern und das Gerede vom „lesbaren“, „flüssigen“ Stil widerlegen. Aus der Negation sprachlichen Verfalls entsteht der kompromißlose moralische Anspruch seiner eigenen Sprache.

Die unvergleichliche sprachliche Schöpfungskraft dieser Schriftsteller ist sozusagen die Währung, mit der sie ihren Kauf tätigen; die Münze, mit der sie versuchen, die Wahrheit über den Menschen zu kaufen. Es ist eine Wahrheit, die nach ihrer Meinung nicht mehr auf direkte und einfache Weise zu erreichen ist. Ich sagte „nicht mehr“ — denn alle Dichter sind von der Ahnung erfüllt, daß eine Epoche sich ihrem Ende nähert. Einige nehmen dieses Gefühl als Grundhaltung in ihr Werk auf, andere sprechen es deutlich aus, so zum Beispiel Thomas Mann in den „Buddenbrooks“, ferner Hofmannsthal, Trakl und Rilke in der „Siebenten Elegie“. Aus diesem Nährboden erwächst die gemeinsame Thematik der Literatur in unserem Jahrhundert. [**] Kierkegaard und Nietzsche sind ihre Kirchenväter. Die Dichter machen es sich zur Aufgabe, Bilder des modernen Menschen zu entwerfen, die Zweifel und Kritik, die jene früheren Denker gegen ihn erhoben hatten, nicht ignorieren, sondern in sich aufnehmen. Lieber scheitern sie bei diesem Versuch, als daß sie in Kompromisse ausweichen, als daß sie jene negativen Einsichten übergingen, die Nietzsche so scharf und mutig, vielleicht auch verantwortungslos formuliert hatte. Diese Dichter leben in einer Situation, die Nietzsche vorausgeahnt und vorgezeichnet hat; aber während Nietzsche die fast grenzenlose Freiheit philosophischer Spekulation nutzte, müssen die Dichter innerhalb der beschränkenden Gesetzmäßigkeit von Bildern, Charakteren, von lyrischen Formen oder dramatischer Handlung denken; und indem sie ihre Ideen, die zum Teil Nietzsches Ideen waren, im Hier und Jetzt des dichterischen Kunstwerkes verwirklichen, entsteht aus den einstmals ähnlichen Ideen etwas Neues und jedesmal etwas anderes.

Wir kehren zu guter Letzt zu jenem Argument zurück, mit dem wir begonnen haben. Auch das Werk Ludwig Wittgensteins gehört in die geistige und dichterische Situation, die zu beschreiben ich versucht habe. Blicken wir zunächst auf sein Frühwerk. Seine Attacke gegen jedes Denken, das sich in Allgemeinbegriffen verläuft, gegen alle gleichschaltenden und monolithischen Lösungen, gegen alle nichtwissenschaftlichen Antworten auf die Frage, „was die Welt sei“, seine Behauptung, daß jede Antwort auf das sogenannte „Problem des Lebens“ letzthin widersprüchlich und daher sinnlos sein muß, alle diese Argumente, die völlig falsch als unproblematischer Positivismus dargestellt worden sind, alle diese Argumente basieren auf den nämlichen Voraussetzungen, die wir in der dichterischen Sphäre zu deuten versuchten: sein Werk besitzt die gleiche Dringlichkeit, die gleiche Redlichkeit, die gleichen Skrupel und Beschränkungen. Das sprachliche Dilemma, zugleich Teilursache und Symptom des Verfalles traditioneller Werte, war nirgends deutlicher zu spüren als in Wien, seiner Vaterstadt, wo jene Werte einst im Überfluß lebendig waren. Hier lag die Quelle von Hofmannsthals Komödien, hier die Substanz Kraus’scher Satire.“ Wittgensteins „Tractatus Logico-Philosophicus“ (1921) führt die Gedanken von Hofmannsthal und Kraus logisch zu Ende. Er versucht, die Umrisse einer „idealen Sprache“ zu trassieren, die als feste Burg sich über den chaotischen Verfall von Sprachwerten erheben sollte. Als er in den Dreißigerjahren diese ganze Konzeption aufgab, wandte er sich einer detaillierten Kritik und in sich abgeschlossenen Analysen sprachlicher Phänomene zu, die er „Sprachspiele“ nannte. In gewissem Sinne ist dieser Name irreführend, denn diesen „Sprachspielen“ eignet ein strenger Ernst sie verraten eine fast selbstzerstörerische Anstrengung der Gedanken, die unser „unrechtmäßiges Begehren nach Verallgemeinerungen“ verwirft; eher ist er bereit, zu zeigen, daß alle Metaphysik auf Mißverstänänissen der sogenannten philosophischen „Grammatik der Wörter“ basiert, als daß er Lösungen annähme, die anderen Zeitaltern Trost verheißen hatten.

Zwanzig Jahre vor dem „Tractatus“ finden wir diese radikale Skepsis in Hofmannsthals berühmtem „Brief [des Lord Chandos]“ (1902). „Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil abzugeben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“, schreibt Philip Chandos an seinen Freund Francis Bacon; und weiter: „mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem ... Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen ... Es gelang mir nicht mehr, die Menschen und ihre Handlungen mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. So zerfiel mir alles in Teile, die Teile wiederum in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff erfassen.“ Und endlich: „Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so löcherig, so lügenhaft wie nur möglich.“ Wir wissen, daß Kafkas Tagebücher ähnliche Zweifel enthalten — Zweifel, die von der Fassungsunfähigkeit der Sprache ausgehen und in die Erlebnisunfähigkeit des Menschen hineinführen. Auch Ernst Jünger beschäftigt sich in einem seiner exaktesten Essays, der „Skrupulanten und Posaunisten“ heißt, mit diesem Mißtrauen in die Ausdruckskraft der Sprache. Rilke greift das sprachliche Problem sozusagen frontal an, indem er das Wort „unsäglich“ in den Mittelpunkt seiner Preisgesänge stellt und seine wörtliche Bedeutung vergessen macht durch orphische Feiern natürlicher und gefertigter Dinge. Wie gesagt, die Arten, wie diese Dichter ihre grundsätzlichen Zweifel lösen, sind sehr verschieden. Doch in jedem Falle haften dem dichterischen Werk Spuren jener Zweifel an; Spuren der schöpferischen Anstrengung, ja Überanstrengung; die Möglichkeit des Scheiterns ist in ihren größten Werken drohend nahe — ja Möglichkeit des Scheiterns und dichterische Größe sind miteinander zu gegenseitiger Bedingung verbunden. Das Scheitern hatte für sie einen gewissen Zauber und etwas sehr Anziehendes: den melancholischen Zauber, den Timons Zorn ausstrahlt, und jenes Anziehende, das Prosperos letzte Verzweiflung besänftigt.

Die literarische Epoche, von der wir gesprochen haben, ist wohl endgültig vorüber. Es ist daher unsere Aufgabe, ihre höchsten Leistungen zu bewahren, in ihrer Integrität und Einmaligkeit und auch in bezug auf das, was sie gemeinsam haben. Wir dürfen weder den schöpferischen Mut jener Dichter vergessen noch die Begrenzungen, innerhalb derer sie zu schreiben gezwungen waren, denn jeder von ihnen nahm auf seine eigene Art die Verpflichtung auf sich, die ihm sein Zeitalter und seine Welt aufluden. Was sie kommenden Generationen zu bieten haben, sind Bilder, Einsichten und Menschengestaltungen, die aus dieser Verpflichtung entstanden sind. Sie werden leben, nicht obwohl, sondern weil sie das Joch der Zeit auf sich nahmen.

[*The Blue Book, Oxford 1964, pp. 17-18.

[**Am überzeugendsten stellt dies Erich Hellers „Enterbter Geist“ dar.

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