FORVM, No. 126/127
Juni
1964

Der verhaftete Zwetschkenbaum

Wenn nicht alles trügt, wird die österreichische Literatur demnächst um eine neue und sehr markante Autorenpersönlichkeit bereichert sein — „neu“ nicht unbedingt im gleichen Sinn wie „jung“, denn Albert Drach hat die Sechzig bereits überschritten. Bald nach Kriegsende aus einer an düsteren Erlebnissen überreichen Emigration zurückgekehrt, lebt er heute als Anwalt in Mödling bei Wien, hat schon in frühen Jahren und auf vielerlei Art mit der Literatur zu tun gehabt, und hat dem Verlag Langen-Müller ein außerordentlich umfangreiches Oeuvre vorgelegt, dessen Qualitäten es einigermaßen rätselhaft erscheinen lassen, daß es erst jetzt an die Öffentlichkeit gelangt. Dies geschieht zunächst mit einem Roman, der den seltsamen Titel „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“ führt und unter den „Ungemütlichen Protokollen“, die Drach verbucht hat und die in weiterer Folge erscheinen werden, vermutlich das ungemütlichste ist. Der Roman spielt in Österreich zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und ist in Form eines fiktiven Polizeiberichts gehalten (die sich auch durch gelegentlich eingestreute Parenthesen bekundet). Wir bringen nachstehend das einleitende Kapitel zum Vorabdruck.

In dem sehr zweifelhaften Schatten eines sogenannten Zwetschkenbaumes saß ein Mann, der hieß auch Zwetschkenbaum, aber er war es nicht. Diese Familienbezeichnung gibt nämlich allerdings einen guten Namen für die damit gemeinte Pflanze mit verholztem Stengel oder Stamm ab. Denn sie ist gebräuchlich für alle Gewächse solcher Art, welche hinwiederum nützlich und beliebt sind. Dagegen hält man erwähnten Namen für schlecht, wenn er einen Menschen betrifft, und der Verruf, in dem er steht, hat seine Begründung nicht etwa darin, daß einmal ein großer philosophischer Dichter behauptet hat, vieles im Menschen sei noch Pflanze und Gespenst; sondern vielmehr ist man zu einer absprechenden Ansicht deshalb gelangt, weil die Benennung besagten Vegetationsteiles auch noch häufig von einer Species Kreatur (Gattung Lebewesen) für sich in Anspruch genommen wird, die man gemeinhin Juden nennt. Und so ist es auch kein Zufall, daß es einmal einen Juden namens Zwetschkenbaum gab, von dem hier die Rede ist.

Dafür, daß er an einem eingangs bezogenen Tage unter einer Pflanze gelegen sei (habe), deren Namen einer seiner Stammesvorgänger sich angeeignet hat, gibt Genannter die folgende Begründung an. Er heiße Schmul Leib Zwetschkenbaum, sei gebürtig in Brody (Ostgalizien), wo sich auch seine Eltern befunden hätten, zu der Zeit nämlich, als dieselben noch am Leben gewesen wären. Sie seien nach Hinterlassung von sieben Kindern arm gestorben. Vorher hätten sie mit allem möglichen gehandelt, angeblich ohne bleibenden Nutzen. Von den sieben Kindern seien zwei in Amerika, und zwar einer in einer Wäscherei, der andere in einer Färberei tätig gewesen. Diese hätten früher ab und zu Geld für die Familie geschickt, seit Ausbruch des Weltkriegs aber nichts mehr. Von dem dritten Bruder, Salomon, wird behauptet, daß er als Soldat im Felde stehe, ein vierter Bruder mit Vornamen Jankel sei daselbst nach Ansicht des Befragten bereits gefallen. Der fünfte Bruder, Itzig, sei krank. Man habe ihm bei einem Pogrom die Wirbelsäule gebrochen (Anmerkung: vielleicht hat er sich dieses Übel auch anderweitig zugezogen). Der Rest an Geschwistern bestehe aus einer Schwester Jerucheme, die sich in Lemberg angeblich durch Arbeit fortbringe (Anmerkung: wahrscheinlich also durch geheime Prostitution). Er, Leib Schmul Zwetschkenbaum, 24 Jahre alt, mosaisch, ledig, von Beruf Talmudschüler, ohne festen Wohnsitz, ist sichtlich hüftenkrumm, weil er einmal irgendwo gefallen sei (Anmerkung: vielleicht von einem fremden Obstbaum). Er habe sich vor den Russen geflüchtet, und die bei ihm aufgefundene Barschaft von sechs Hellern, und ein Binkel, enthaltend zwei schmutzige Hemden, ein Paar zerrissene Strümpfe und einige mit hebräischen Lettern geschriebene Bücher, seien sein restliches Eigentum. Unter den Zwetschkenbaum aber habe er sich gesetzt (wörtlich: sei er zu sitzen gekommen), weil sich kein anderer Baum im Umkreis befinde. Er habe auch gar nicht daran gedacht, daß er gerade auf einen Zwetschkenbaum gestoßen sei und das Gewächs nicht in dieser Richtung hin untersucht. Er sei vielmehr bloß in dem recht zweifelhaften Schatten des Baumes gesessen und habe in einem der für Ortsansässige unverständlichen Bücher gelesen. Sodann habe er den großen Gott zum Zeugen angerufen, wie schön diese Welt sei, auch dabei nicht im entferntesten an den Zwetschkenbaum gedacht, unter dem er doch saß. Er habe schließlich die Bibel hebräisch zitiert und einen hebräischen Autor mit singender Stimme aufgesagt, welch letzterer bekanntgibt, daß die Blumen das jüdische Halbfünfuhrnachmittagsgebet mit allem rituellen Wackeln und Schütteln verrichten.

Bei dieser Gelegenheit wurde er von dem Ortsgendarmen Johann Schöberl als verdächtig angehalten. Er verfügte über keinerlei Ausweispapiere. Befragt, ob er in das Anwesen des Johann Hinterroder zum Behufe des Obstdiebstahles eingedrungen sei, verneint er sehr heftig. Er leugnet auch, den Zaun beseitigt zu haben, der offenbar an dieser Stelle fehlt und den der diensthabende Gendarm noch am Vortage am Orte wahrnehmen konnte. Auf die Frage, ob er Hunger habe, antwortet der Verdächtige ausweichend, doch konnte aus dem Aussehen und der Höhe der Barschaft des Angezeigten sein Leugnen widerlegt werden. Aus einer Anzahl am Tatort frisch ausgespuckter Kerne ergibt sich, daß hier jüngst unmittelbar ein Zwetschkenessen in nicht unbeträchtlichem Umfange stattgefunden haben müsse. Zwetschkenbaum stellt dennoch den Zwetschkendiebstahl mit vielen, nur zur Hälfte verständlichen Worten und lebhaften Gebärden in Abrede. Der Genannte wurde dem Bezirksgericht wegen Vagabundage- und Diebstahlverdachts überstellt.

In dem Sammelgefängnis des österreichischen Bezirksgerichtes verhielt sich Schmul Leib Zwetschkenbaum zunächst verhältnismäßig still und hörte nicht auf Anrufe seiner Zellengenossen, die ihn, in Unkenntnis seines Namens, aber in Kenntnis sonstiger, offen ersichtlicher Umstände, in kerniger, launiger, doch völlig harmloser Art mit „stinkender Mausche“ ansprachen. Zu seiner ängstlichen und verschlossenen Haltung kann ein Grund nicht leicht gefunden werden, wenn man sie nicht als Zeichen der Reue oder Furcht, sich zu verraten, oder ganz allgemein als das Ergebnis arteigentümlicher Überheblichkeit ansprechen will. Denn die willige und unbedingte Einfügung in die staatlichen Personenverwahrungs- oder Strafeinrichtungsanstalten und die in diesen hergebrachte Ordnung ist wohl das Mindeste, das billigerweise von einem Verdächtigen oder Überwiesenen verlangt werden kann, und für einen „Zellenbruder“ kann wohl die Gesellschaft anderer Gefängnisbewohner nicht schlechter sein als seine eigene für ebendieselben.

Durch sein absonderliches und wohl auch anmaßendes Verhalten geärgert, sahen sich Franz Schafstock und Hermann Würmel, beide wegen Verdachtes des Einbruchsdiebstahls, begangen beim Pfarrer Schleuner, hier eingeliefert, veranlaßt, besagtem Schmul Leib Zwetschkenbaum zunächst zur Abkühlung seines Stolzes den gefüllten Abtrittseimer über den Kopf zu entleeren. Als er aber daraufhin nur mit Zittern und Stöhnen reagierte, empörten sich die beiden, wie sie sagten, über den Mangel an Würde des vorher Angeschütteten und versetzten ihm einige Fußtritte in seine Weichteile, worauf er mit natürlicher Stimme zu schreien begann. Der Vollstreckungsbeamte, Gerichtsdiener und Gefängniswärter in einer Person, Herr Joachim Riegelsam, wurde durch das Schreien darauf aufmerksam gemacht, daß im Gerichtshause Ungehörigkeiten im Gange seien. Er verwarnte lächelnd die Herren Schafstock und Würmel, als Zwetschkenbaum eine wirre, von den vorigen oftmals verständlich gemachte und richtiggestellte Darstellung der Sachlage vortrug. Derzufolge faßte ihn das Amtsorgan am Kragen und beförderte ihn solcherart in das Einzelgefängnis, das für den Herrn Fuhrwerksbesitzer Wilhelm Schnüffl aus dessen eigenen Mitteln angeschafft war. Dieser, der Vater eines hohen Gerichtsfunktionärs in Wien, hielt nämlich in seinem großen Gewerbe eine Anzahl Kutscher beschäftigt, welche er des öfteren wegen anstößigen Verhaltens leicht am Körper zu beschädigen pflegte. Er wurde dieserhalb einige Dutzende Male zuerst mit Geld-, später mit kleineren Freiheitsstrafen belegt. Da er die letzteren begreiflicherweise nicht in der Gesellschaft von Diebsgenossen und ähnlichen Personen verbringen wollte, ließ er auf eigene Kosten für sich einen Einzelarrest bauen. Im Augenblick war der Raum verfügbar, da Herr Schnüffl wegen Bettlägerigkeit schon seit langem nicht mehr seiner gewerblichen Beschäftigung nachging. So konnte in diesem immerhin gerichtszugehörigen Arreste Schmul Leib Zwetschkenbaum untergebracht werden.

Derselbe verhielt sich nun darin vollkommen still. Ob er sein Zittern dortselbst in gleicher Weise wie im Gemeinschaftsraume fortgesetzt hat, kann mangels Zeugen nicht gesagt werden. Als ihm am Abend der Herr Gefängnisaufseher Riegelsam die Brotsuppe hineingeschoben hatte, dürfte er sie allerdings nicht berührt haben; denn diese wurde am nächsten Morgen im kalten Zustande noch an demselben Platze angetroffen. Als ihn der Gefängnisaufseher solchen Umstands halber vorwurfsvoll ansah, fand ersterer letzteren mit verzerrtem Gesicht. Vielleicht wollte der Häftling die Schmerzen, die von den empfangenen Fußtritten herrührten, übertreiben. Vielleicht war das seine Art, sich mit sich selbst zu unterhalten. Jedenfalls schien sein Hunger stärker als die von ihm wohl nur vorgeschützten Schmerzen. Am vierten Tage konnte der Herr Gefängnisaufseher Riegelsam bereits einen höchst merkwürdigen, aber völlig unverständlichen Gesang aus der Zelle wahrnehmen. Als er diese öffnete, wurde er von Zwetschkenbaum anscheinend nicht ins Auge gefaßt. Vielmehr sah dieser mit einem wenig begründeten Lächeln dem Gehaben einer Maus zu, welche sich anschickte durch einen allerdings für sie kaum zureichenden, beim nachlässigen Schließen der Türe entstandenen Spalt auf den Gang zu entweichen. Da besagtes Lächeln auch nicht durch laute Zurufe seitens des Herrn Riegelsam zum Schwinden zu bringen war und überhaupt Zwetschkenbaum denselben immer noch nicht bemerkt zu haben schien, beseitigte dieser den ungewöhnlichen Anlaß zur Lustigkeit, indem er das Ungeziefer mittels Fußtritts dauernd an der Verlegung des Betätigungsfeldes nach außen verhinderte. Das dem Verenden vorhergehende Quieken des Nagetieres veranlaßte eine Veränderung in dem Mienenspiele des Zwetschkenbaum, welches nunmehr helle Verzweiflung aufwies, ohne daß er jedoch seine Blicke von dem Aase abgezogen und dem Gerichtsorgane zugewendet hätte. Daher beschloß letzteres, den Richter zu verständigen, daß in der Schnüfflzelle seit fünf Tagen ein offenbar nicht ganz im Kopfe richtiger Häftling sitze.

Der Richter, welcher Xaver Bampanello von Kladerisch hieß, beschloß nach Entgegennahme erwähnter Meldung den in Rede Stehenden unverzüglich zu vernehmen, zumal derselbe nach dem Gesetze alsbald nach seiner Einlieferung hätte gehört werden sollen. Bei dem Wiedererscheinen des Gerichtsdieners mit dem mitgebrachten Häftling war Doktor Bampanello jedoch im Begriffe, seinem Schriftführer, dem Kanzleidirektor Johann Chotek, Rechtsfälle auseinanderzusetzen. Er führte dieses Vorhaben trotz Störung seitens der Neuankömmlinge durch, ungeachtet auch der Gegenwart des Rechtsanwaltes Dr. Josef S. (Abkürzung für Saul oder Salomon) Meyer, welcher gerade in Vertretung des durch den Einbruchsdiebstahl Schafstock und Konsorten geschädigten Pfarrers Schleuner in überflüssiger Weise vorgesprochen hatte und dazu noch anwesend war.

Der zunächst vom Richter erzählte Rechtsfall betraf einen lizenzierten blinden Bettelmusikanten, dessen gleichfalls lizenzierte weibliche Begleitperson, nämlich seine siebzehnjährige Tochter, bei Ausübung der lizenzgegenständlichen Tätigkeit in den linken Ober- und den rechten Unterschenkel gebissen worden war — und dieses von seiten des nicht hinlänglich angeketteten und daher losgekommenen Hofhundes eines Gehöftsinhabers. Der bewiesene Verdienstentgang in der Höhe des doppelten Arbeitslohnes eines qualifizierten Werkführers war für die Krankheitsdauer des Mädchens von einem Monat in Anspruch genommen und außerdem durch Auskunft festgestellt worden, daß selbst bei dringendem Begehren einer lizenzgegenständlichen Ersatzbegleitperson bei der für deren Zulassung zuständigen behördlichen Landesstelle die Erledigung der Gewährung mindestens zwei Monate in Anspruch genommen hätte. Da aber einerseits der Hofhund nicht etwa gar nicht, sondern nur nicht hinlänglich angekettet war, anderseits bei demzufolge vorliegendem nur leichtem Versehen statt dem sonst in Betracht kommenden groben Verschulden nicht der Entgang des Gewinns, sondern nur der wirkliche Schaden zu ersetzen war, konnte der Kläger nicht den Ausfall im Betriebe seines lizenzierten Bettelmusizierens, sondern nur die Auslagen für ein ärztliches Parere von fünf Kronen begehren, wohingegen er hinwiederum in den Ersatz der Kosten des in drei Instanzen geführten Prozesses per vierhundertfünfundachtzig Kronen zu verfällen war. Er rächte sich übrigens, indem er die Begleichung der letzteren an den Anwalt des Beklagten in Zweihellerstücken leistete. Darin war er offenbar dem Beispiel eines kurz vorher wegen Bettelei verurteilten, nichtlizenzierte Mildtätigkeit herausfordernden Subjektes gefolgt, das sich nach der Hauptverhandlung, die zu seiner Verdammung geführt hatte, eifrigst nach seiner Schuldigkeit erkundigte, und einige Wochen nach Haftabsitzung mit dem Betrage der der Einfachheit halber bereits als uneinbringlich abgeschriebenen Gerichtskosten, sogar zum Teil in Einhellermünzen aufgestapelt, erschienen war. Daraufhin mußte er allerdings wegen der unzweideutigen Herkunft seiner Sammlung von Dr. Bampanello neuerdings in Haft genommen werden. Immerhin konnte freilich bei dem lizenzierten Bettelmusikanten nicht in gleicher Weise vorgegangen werden. Der Rechtsfall wurde von den Eingeweihten, nämlich Oberoffizial Chotek und Rechtsanwalt Dr. Josef S. Meyer, mit beifälligem Nicken aufgenommen; lediglich in Ansehung des Beiwerkes desselben gestattete sich der letztere die Bemerkung, die beiden Bettler, der lizenzierte und der nichtlizenzierte, hätten vielleicht nicht die Absicht der Ärgerniserregung gehabt, sondern nur im Sinne vermeintlicher Pflichterfüllung mit jenen Münzsorten geleistet, die ihnen zur Verfügung gestanden seien. Währenddem hatte sich Riegelsam mit weiteren Beobachtungen Zwetschkenbaums beschäftigt und aus dessen starrem und befremdlichem Ausdruck abgeleitet, daß dieser mit dem Gehörten nicht fertig werden konnte. Wahrscheinlich war es ihm schon wegen seiner Gemütsbeschaffenheit nicht möglich, einem geradlinigen Gedankengang zu folgen, vielleicht auch wegen seines im Talmud verstrickten Denkens. Jedenfalls murmelte er zuletzt etwas von vierhundertfünfundachtzig Kronen, als ob er zur ungeteilten Hand mit dem Bettler hafte oder wenigstens das Geld zu zählen haben würde.

Inzwischen war aber der Richter auf einen anderen Rechtsfall übergegangen, nämlich den der Emerentia Nachoda. Er nannte diesmal auch den Namen, nicht etwa, um die von Amts wegen schon gegebene richterliche Glaubwürdigkeit unnützerweise noch zu unterstreichen, sondern vielleicht, weil der Name dem Berichte eine besondere Note, Klangfarbe, Untermalung gab oder auch nur, weil er ihm gerade einfiel. Erwähnte unschöne, aber mit einer Einzimmerwohnung versehene Landdame befand sich im achten Monate schwanger von einem Manne, den sie nur dadurch hätte beschreiben können, daß er im Zeitpunkt des Kennenlernens und der damit nahezu zusammenfallenden Entstehung ihrer Schwangerschaft einen Lederrock mit Gürtel getragen hatte. Mangels Auffindbarkeit des so Beschriebenen sei sie verzweifelt in den Wald gegangen, um sich an einem der dort zahlreich zur Verfügung stehenden Bäume zu erhängen oder vielleicht auch nur, um daselbst Holz zu stehlen, habe aber statt dessen die Bekanntschaft eines Höhlenbewohners gemacht, der sich nach kurzer Rücksprache zur Übernahme der Vaterschaft gegen Aufnahme in das Zimmer genannter Dame bereit erklärte. Er leistete nicht nur vor Doktor Bampanello außer Prozeß das Anerkenntnis der Vaterschaft zu diesem, nicht von ihm stammenden Kinde, sondern vor Jahresablauf noch zu einem zweiten, das bereits ihm die Entstehung verdankte. Sowie aber vormaliger Höhlenbewohner an einem Arbeitsplatze Verwendung und Verdienst gefunden hatte und sohin zahlungsfähig geworden war, bestritt er sogleich die Wirksamkeit seiner ersten außerprozeßlichen Erklärung im Prozeßwege. Bampanello wies ihn ab, da er die aktenmäßige Vaterschaft für unwiderruflich hielt. Das höchste Gericht jedoch zählte ihn von dieser los, da es annahm, daß ein Anerkenntnis vor Bampanello als Prozeßrichter auch ohne physische Zeugung einer solchen in der Rechtswirksamkeit gleichgekommen wäre, vor ebendemselben als Außenprozeßrichter erklärt, aber nur ein Tatsachengeständnis bliebe, das nachträglich durch Gegenbeweis entkräftet werden könne. Dieser Vortrag wurde von Chotek still aufgenommen, wahrscheinlich, weil er die Sache schon amtswegig kannte, von D. Josef S. Meyer durch Räuspern, weil er entweder die Ansicht des Ober- oder die des Untergerichts nicht teilte oder an dem behandelten Stoffe Anstoß nahm, von Zwetschkenbaum aber mit tieftraurigem Ernste. Vielleicht dachte er sogar an das „arme Kindlein“, das als nichtanwesende Partei zum Verfahren Anlaß gab und ihn überdies nichts anging.

Als Chotek nunmehr, ohne Zusammenhang mit dem Vorigen, die Verlegenheitsbemerkung einwarf, ein Richter müsse strenge sein, entschuldigte sich Bampanello mit Gründen der Menschlichkeit, es nicht immer genügend gewesen zu sein. So kam er auf einen Häusler (Kleinhüttenbesitzer) zu sprechen, der nach fortgesetzten Holzdiebstählen im Walde schließlich bei einem solchen betreten, mit Rücksicht auf die Versorgung seiner zwei mutterlosen Kinder seitens Bampanello nicht mit der gesetzlichen Höchststrafe von sechs, sondern nur mit einer solchen von fünf Monaten belegt worden sei. Der Mann sei übrigens auf das bloße Gerücht von der Erkrankung eines seiner beiden Kinder ausgebrochen und, wieder in den Arrest zurückgebracht, nach Erhalt der amtlichen Nachricht vom Ableben seines fünfjährigen Sohnes Friedrich endgültig abgefahren, indem er während der disziplinaren Ahndung seines ersten Entweichens in Einzel- und Dunkelhaft sich mit einem vorschriftswidrig eingeschmuggelten Rasiermesser die Halsschlagadern zu stark angezapft habe.

An dieser Stelle ließ sich plötzlich Dr. Josef S. Meyer vernehmen und machte eine Anspielung, aus der hervorging, daß er das richterliche Wortbild vom „Abfahren“ sowie auch das vom „Anzapfen“ besonders übelnahm, wobei dahingestellt bleibt, ob seine Empfindlichkeit auf den kürzlich seinerseits erworbenen Christenglauben oder die in Anbetracht solcher Bekehrung erlangte Vertretung des Pfarrers Schleuner zurückzuführen war. Überdies bezeichnete er die vom Richter verhängte Strafe und die Disziplinierung des Verurteilten in Dunkel- und Einzelhaft zugleich als besonders hart und nicht im Sinne des Gesetzgebers. Bevor aber Dr. Bampanello noch zu einer obrigkeitlichen Erwiderung ausholen konnte, entschuldigte sich Doktor Josef S. Meyer bereits und entfernte sich mit Bückling. Der Richter blickte nachlässig auf den krummen Rücken des Abgehenden, und es war vielleicht kein Zufall, daß sein Blick von dieser Reversseite auf den gleichfalls gekrümmten Rücken Zwetschkenbaums überging, den er jetzt besonders ins Auge faßte. Auch Chotek betrachtete verwundert den Eigentümer besagter Rückansicht, während Riegelsam dies schon seit längerem getan hatte. Danach schien Zwetschkenbaum der später widerrufenen Meinung Dr. Josef S. Meyers beizupflichten; denn seine Mienen zeigten Entsetzen. Vielleicht aber kam er gar nicht zu einer abschließenden Verarbeitung des gegenständlichen Falles; denn der nächste Fall war bereits er selber.

Von der adeligen Stimme des Richters angesprochen, stotterte er, sich überstürzend, seinen Familiennamen, so daß dieser wie „Zweenbaum“ klang und daher von ihm mehrmals wiederholt werden mußte. Mit Anteilnahme um seine Familienverhältnisse befragt, konnte er sich zitternd nur eines einzigen Bruders entsinnen, eines durchtriebenen und verwegenen Gesellen, vor dem selbst die Gojim Angst hatten, Josef Salomon, derzeit Soldat. Über die Frage, ob alle seine Geschwister so krumm seien wie er, meinte er, besagter Josef Salomon sei ein schöner Mann und sähe einem Juden nicht ähnlich. Die letzten Worte schwächte er übrigens sogleich dahin ab, daß man dies wenigstens so sage. Vielleicht fühlte er sich zu diesem teilweisen Rückzug aus einem nur im Augenblicke abhanden gekommenen Solidaritätsgefühl verpflichtet. Gestehen wollte er überhaupt nichts. Vielmehr begann er plötzlich, sehr redselig zu werden. Er erzählte wiederum, wie er den lieben Gott habe zum Zeugen für die Schönheit von dessen eigener Schöpfung angerufen und wie die Blümelein gedawenet hätten, was auf deutsch „beten“ heißt. Den Richter interessierte, ob „Dawenen“ vom König David komme, dies wurde aber verneint. Er wollte auch sehen, wie Zwetschkenbaum bete. Dieser meinte, daß er es jetzt nicht könne. Wie ihm die Zwetschken geschmeckt hatten, wollte er auch nicht sagen, weil er sie gar nicht gegessen habe. Der Richter sprach noch lächelnd von einem zwetschkenstehlenden Zwetschkenbaum und forderte schließlich letzteren auf, daß er seine sieben Zwetschken packen solle, eine Anspielung, welche Angeredeter zwar nicht verstand, die aber nichts andres bedeutet, als daß jemand seine geringe Habe zum Zwecke des Abgangs an sich raffen möge, eine wienerische Äußerung, die heute mit Zwetschken nichts mehr gemein hat. Übrigens war die Aufforderung doch wohl nur zu Wortspielzwecken gebraucht worden, denn der Richter konnte nicht daran denken, den Häftling wirklich aus dem Gerichtshause zu entlassen, das ist, in Freiheit zu setzen. Immerhin blieb dem Zwetschkenbaum nunmehr nichts anderes zu tun übrig, als mangels Kenntnis der deutschen Schrift sein in hebräischen Lettern verfertigtes Handzeichen am Schlusse des Protokolls anzubringen, welch letzteres nur eine Bezugnahme auf die vom Ortsgendarmen Johann Schöberl zu den Akten gebrachte Notiz enthielt.

Als Chotek neben die hebräischen Schnörkel des Verdächtigten die säuberlichen deutschen Lettern setzte und daraufhin mit dem richterlichen Löschblatte abtrocknen wollte, fand er auf demselben mit Tinte gemalt einen natürlichen Zwetschkenbaum zur Linken und unter diesem das Konterfei des kleinen gebückten Juden, während zur Rechten in einiger Entfernung davon sich die Silhouette eines Mannes zeigte, der in gleichfalls gebückter Stellung zu einer Türe hinausging. Während Chotek nun einen Augenblick respektvoll zögerte, das Ergebnis der Handfertigkeit seines Vorgesetzten durch dienstliche Verwendung des Stoffes, der ihm zugrunde lag, zu versehren, trug der Gerichtsdiener Riegelsam, ungeachtet der Anwesenheit des Häftlings, das Ergebnis seiner Untersuchungen in Ansehung desselben vor. Dr. Bampanello hörte ihm aufmerksam zu, doch unterließ er es, sich zur Sache zu äußern, geschweige denn, einer zu fassenden Entscheidung vorzugreifen. Er begnügte sich vielmehr, lediglich zu lächeln, und auch bei dieser beherrschten und durchaus nicht eindeutigen Äußerung handelte es sich wahrscheinlich nur um eine unwillkürliche Mundbewegung.

Als aber Zwetschkenbaum in seine Zelle zurückgebracht wurde, befand er sich in einer Verfassung, die das übliche Höchstmaß an Angst bei weitem hinter sich zurückließ. Ja, es hatte fast den Anschein, als fürchte er, Dr. Bampanello werde ihn zum Tode verurteilen, was dieser gar nicht konnte, zumal er im gegebenen Falle und überhaupt nur die Befugnis hatte, eine bis zu sechs Monaten gehende Freiheitsstrafe zu verhängen. Als Riegelsam bei seinem nächtlichen Rundgang die Zellentüre öffnete, um nach dem Häftling zu sehen, fand er diesen nicht nur Fratzen schneidend und die Hände ringend, sondern hörte denselben außerdem immer wieder mit heiserer Stimme feststellen, daß er, also offenbar der Richter, gelacht habe, ja „so“ habe er gelacht, wobei Zwetschkenbaum die Gesichtsmuskeln zu einem widerlichen Grinsen verzog, während Baron Bampanello, wie schon festgestellt, nur leicht, beherrscht und angenehm gelächelt hatte. Dem begütigenden Einwand Riegelsams, sich nichts anzutun (welcher nicht etwa einer Aufforderung, nicht Hand an sich zu legen, gleichkommt, sondern lediglich in übertragener Bedeutung besagen will, der so Angeredete möge sich vor Übertreibungen, Mißdeutungen und Entstellungen von Situationen in acht nehmen), antwortete der Häftling, der diesmal übrigens den Aufseher von Anfang an gesehen, als solchen erkannt und die vorhergehenden Worte ausdrücklich an ihn gerichtet hatte, immer wieder mit den krampfhaft vorgebrachten Ausrufen, daß der Richter gelacht und wie er dies getan habe. Und nur das laute Weinen, mit dem er diese unrichtigen Feststellungen begleitete, veranlaßte Riegelsam, die Türe zu schließen, ohne vorher den Zelleninsassen gehörig verwarnt zu haben.

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