FORVM, No. 216/I/II
Dezember
1971

Der wunderliche Kracauer

Zu seinen Schriften (III)
voriger Teil: Der wunderliche Kracauer

Die analytische Vernachlässigung der ökonomischen Prozesse teilt Kracauer mit der Mehrzahl der politisch aufmerksamen Intellektuellen. Dies, sowie das Bewußtsein der eigenen bürgerlichen Existenz haben Kracauer in das für ihn unauflösbare Dilemma gebracht, das sein Werk bis zuletzt geprägt hat. Nur kraft Analyse der ökonomischen Prozesse selbst, die die von ihm in allen wesentlichen Details aufgezeichnete Proletarisierung des Kleinbürgertums und der alten Mittelschichten bewirkt haben, wäre es ihm möglich gewesen, die Klassenlage dieser Schichten gänzlich aus dem ideologischen Dunst auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen und sie eindeutig als proletarische zu bestimmen. Ohne Klärung der Klassenlage ist ihm als Basis seines Engagements nur das Empfinden seiner Solidarität mit den Ausgebeuteten geblieben.

Wie stark die Sehnsucht nach Solidarisierung in ihm gelebt hat, zeigt eine Stelle in einem Aufsatz von 1930, in dem er Berliner Arbeiterviertel mit dem bourgeoisen Westen Berlins vergleicht. Dort heißt es von Vierteln wie Neukölln oder Wedding:

Ihre Straßen sind von Natur aus Aufmarschstraßen, und auch im Einerlei des Alltags bedarf es keines besonderen Ahnungsvermögens, um zu spüren, daß Arbeiterdemonstrationen für sie ein häufiges Schauspiel sind, daß sich zu manchen Stunden sämtliche Fenster mit Weibern und Kindern füllen, die auf das Gewoge unter ihnen starren, daß der gleichmäßige Schritt vieler Tausende immer wieder die Häuser erzittern läßt, daß Proklamationen und rote Fahnen unaufhörlich an den grauen Wänden vorübergleiten. Aber diese Szenen haben einen greifbaren, einen beinahe nüchternen Inhalt, der sich auch den Straßenzügen mitteilt, in denen sie vor sich gehen. Zum Unterschied von solchen Räumen flößen jene Straßen des Westens ein Grauen ein, das gegenstandslos ist. Weder werden sie von Proletariern bewohnt, noch sind sie Zeugen des Aufruhrs. Ihre Menschen gehören nicht zusammen, und es fehlt ihnen durchaus das Klima, in dem gemeinsame Aktionen entstehen. Man erhofft hier nichts voneinander. Ungewiß streichen sie hin, ohne Inhalt und leer. [47]

Reale und fiktive Klassenbarrieren sowie die Unklarheit der allgemeinen Klassensituation hindern den isolierten bürgerlichen Intellektuellen, der seiner gesellschaftlichen Verelendung, d.h. seiner politischen Depossedierung, innegeworden ist, sich mit denen praktisch zu solidarisieren, denen seine ungeteilte Aufmerksamkeit gilt. Statt dessen neigt er, wie bei Kracauer festzustellen, zu einer Versubjektivierung der Klassenlage und des konstanten Drucks der Ausbeutung. Kafka ist diesen Weg extrem weit gegangen; in den „Angestellen“ hat Kracauer auf ihn verwiesen, nicht ohne jedoch Kafkas Verzerrungen wieder mit ihren unverzerrten Prototypen in der Realität zu konfrontieren. [48]

Doch selbst die subjektive Darstellung der realen Verelendung ist ob des ungeheuerlichen Maßes der Ausbeutung von aufklärerischer Kraft. Ein Beispiel sei dieser Passus aus Kracauers Bericht von 1930, auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit, über Berliner Arbeitsnachweise. Selten auch ist der Zynismus der Bourgeoisie so präzis denunziert worden wie hier:

In der einen Ecke ist eine Kantine aufgebaut, die als Hauptgetränk Milch feilbietet. Milch ist gesund, aber wie genießt man sie? ‚Nie ohne etwas zu essen‘, verkündet ein sichtbar angeordneter Schriftsatz. ‚Ein Glas Milch, auf einmal in den leeren Magen gebracht, bildet dort einen schwerverdaulichen Käseklumpen.‘ Belegte Stullen, die mithin eine Grundvoraussetzung gesunder Milch sind, häufen sich dicht nebenan auf dem Büfett. Die Bilder von dem Käseklumpen und dem leeren Magen beweisen drastisch, daß die Menschen in diesen Räumen so nackt und bloß dastehen wie die Wände, ein Objekt der Hygiene, die sich freilich durch ihre plumpe Direktheit manche Möglichkeiten verscherzt. Keine Aura hüllt gnädig das Körperliche ein, die Körper treten vielmehr ohne Beschönigung ins grelle Licht der Öffentlichkeit, und die dazugehörigen Menschen sind nur noch Systeme, die bei Zufuhr von Milch nach vorangegangenem Essen schon funktionieren werden. In den Hinterhäusern der Gesellschaft hängen, Wäschestücken gleich, die menschlichen Eingeweide heraus. [49]

Dieses Zitat verweist auf zentrale Motive in Kracauers Denken: die Vereinzelung und Anonymisierung der Lohn- und Gehaltsabhängigen vermittels Zersetzung des Klassenbewußtseins durch eine scheinrationale, de facto aber willkürlich geordnete Arbeitswelt und durch individualistische Ideologien, die das Monopolkapital von seinen angestellten und „freien“ konzeptiven Ideologen entwerfen und einhämmern läßt; auf der anderen Seite die willige Hinnahme der offiziellen und offiziösen Ideologien infolge eines Bewußtseinstands, den die Konsumwelt mit ihren Zerstreuungen produziert hat; und schließlich der unauslöschliche Eindruck der bürgerlichen Stadt, die, kapitalistischen Interessen dienend, Straßen in „Aufmarschstraßen“ für das Militär gegens Proletariat und „Sternplätze“ in Batteriestellungen der Herrschaftsgewalt verwandelt hat, „um Versammlungen in die Flucht zu jagen“. Mit solchen Reflexionen hat Kracauer — unwissentlich vielleicht — entsprechende Analysen von Engels weitergeführt. [50]

Kracauer hat dabei nicht den heute allenthalben zu bemerkenden Fehler begangen, jede falsche Meinung für absichtsvolle Ideologie zu halten. Besserer Marxist als viele, die den Titel für sich beanspruchen, hat er sorgfältig zwischen dem durch die Produktionsverhältnisse evozierten notwendig falschen Bewußtsein und den für konkrete Herrschaftszwecke hergestellten Ideologien unterschieden. In dem zuletzt zitierten Bericht über Berliner Arbeitsnachweise heißt es: „Im Metallarbeiternachweis ist eine Mahnung folgenden Inhalts angeheftet: ‚Arbeitslose, hütet und schützt allgemeines Eigentum‘ (...) Wofür der ganze Aufwand an großartigen Vokabeln? Für ein paar elende Tische und Bänke, die weder den anspruchsvollen Namen Eigentum verdienen, noch des Schutzes oder gar einer besonderen Hut bedürfen. So hütet und schützt die Gesellschaft das Eigentum; sie umgibt es auch dort, wo seine Verteidigung gar nicht nötig wäre, mit sprachlichen Gräben und Wällen. Vermutlich tut sie es absichtslos, und vielleicht merkt kaum ein Betroffener, daß sie es tut. Aber das eben ist das Genie der Sprache: daß sie Aufträge erfüllt, die ihr nicht erteilt worden sind, und Bastionen im Unbewußten errichtet.“ [51]

Soll falsches Bewußtsein in gezielte Ideologie übersetzt werden, empfiehlt sich als vorzüglich geeignetes Medium der Film — und heute das Fernsehen. Das frühzeitig begriffen zu haben, erklärt das bis zuletzt ungeschmälerte Interesse, das Kracauer diesem ersten der sogenannten Massenmedien bezeigt hat. Im clair-obscure der Flohkisten und der Filmpaläste — des Eigenheimwohnzimmers heute mit dem Fernsehheimkino — wird amorpher Seelenplüsch in eifrig auf kleines Eigentum bedachtes und stramm staatserhaltendes Bewußtsein umgeformt. Um das zu erreichen, ist kein Mittel zu gering, keins zu absurd.

Mit Recht sagt Kracauer: „Kein Kitsch kann erfunden werden, den das Leben nicht überträfe“. [52] Es gibt ja wirklich dann und wann ein auf Titelseiten vervielfältigtes Tippfräulein, dem es gelingt, sich einen Millionär zu angeln; gewissermaßen in Stellvertretung für die zahllose Kollegenschaft absolviert sie ihre Bettkarriere — so jedenfalls wird es von den Klassengenossinnen interpretiert. Auf einen damals in diesen Schichten wohlbekannten Film anspielend, sagte Kracauer: „Auch Telephonistinnen, Ladenmädchen und Privatsekretärinnen können hoffen, ohne ihren Berufsverband in Anspruch nehmen zu müssen, denn nicht nur ‚Lotte hat ihr Glück gemacht‘, Lotte, die einfache Maniküre war, sondern noch manche andere Kollegin, der es niemand an der Wiege gesungen hatte.“ [53]

An anderer Stelle, in seinem berühmten Aufsatz „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ von 1928, hat Kracauer die im Film angewandte Ideologisierungstechnik noch luzider erläutert:

Die Arbeiter in den nach dem Leben photographierten Filmen sind gediegene Bahnunterbeamte und patriarchalische Werkmeister; oder sie haben, wenn sie schon unzufrieden sein sollen, ein privates Unglück erlitten, damit das öffentliche sich desto leichter vergißt (...) Die Rettung einzelner Personen verhindert auf glückliche Weise die der ganzen Klasse, und ein in den Salon beförderter Prolet gewährleistet die Fortdauer vieler Kaschemmen. Die Schwester des Fabrikanten wird mit ihrem geretteten Mann später seine Kaschemme besuchen. Vielleicht retten beide wieder eine Person. Daß die Proletarier darum aussterben, ist nicht zu befürchten. [54]

Wo trotz solch emsig betriebener Zersetzung des Klassenbewußtseins und Individualisierung des Klassenschicksals, trotz aller betulichen Möblierung des Bewußtseins mit den Versatzstücken der bürgerlichen Privatsphäre dennoch sozialrevolutionäre Unruhe herrscht, wird der, Filmproduzent bemüht sein, „die gesellschaftskritischen Bedürfnisse seiner Konsumenten“ zu befriedigen. Aber:

Niemals wird er sich zu Darbietungen verführen lassen, die das Fundament der Gesellschaft im geringsten angreifen: er vernichtet sonst seine eigene Existenz als kapitalistischer Unternehmer. Ja, die Filme für die niedere Bevölkerung sind noch bürgerlicher als die für das bessere Publikum; gerade weil es bei ihnen gilt, gefährliche Perspektiven anzudeuten, ohne sie zu eröffnen, und die achtbare Gesinnung auf den Zehenspitzen einzuschmuggeln.

Daß die Filme in ihrer Gesamtheit das herrschende System bestätigen, ward an der Erregung über den Potemkin-Film offenbar. Man empfand sein Anderssein, man bejaht ihn ästhetisch, um das mit ihm Gemeinte verdrängen zu können. Ihm gegenüber vergingen die Unterschiede zwischen den einzelnen Filmgattungen der deutschen oder auch amerikanischen Produktion, und es erwies sich bündig, daß diese Produktion die einheitliche Äußerung der einen und gleichen Gesellschaft ist. [55]

In dem Essay „Die Photographie“ von 1927 hat Kracauer noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam gemacht, der für die modernen Informationsmedien und die von ihnen ausgehenden Wirkungen von hoher Relevanz ist. Gemeinhin spricht man, wenn man sich auf diesen Aspekt bezieht, von Verdinglichung. Kracauer zeigt jedoch, daß dieser Terminus zu oberflächlich ist, um den dauernden Effekt auf das Bewußtsein voll auszumessen. Worauf es ankommt, ist die Fragmentarisierung dessen, was das Bewußtsein konstituiert, die Isolierung der Information, wobei gleichzeitig die Idee suggeriert wird, man werde umfassend und zusammenhängend informiert.

Kracauer sagt: „Noch niemals hat eine Zeit so gut über sich Bescheid gewußt, wenn Bescheid wissen heißt: ein Bild von den Dingen haben, das ihnen im Sinne der Photographie ähnlich ist.“ [56] Doch diese Informationen bleiben „Fragment, weil die Photographie den Sinn nicht einbegreift, auf den sie bezogen“ ist. [57]

An Hand eines Photos und seiner strukturellen Beschaffenheit demonstriert Kracauer, wie das technische Vehikel der Information deren fragmentarischen Charakter enthüllte, schaute man nur genauer hin:

So sieht die Filmdiva aus. Sie ist 24 Jahre alt, sie steht auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wir schreiben September. Wer durch die Lupe blickte, erkannte den Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen. Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint, sondern die lebendige Diva am Lido. Zeit: Gegenwart. Der Begleittext nennt sie dämonisch; unsere dämonische Diva (...) Sie ist so gut getroffen, daß sie mit niemandem verwechselt werden kann, wenn sie auch vielleicht nur der zwölfte Teil eines Dutzends von Tillergirls ist. Träumerisch steht sie vor dem Excelsior-Hotel, das sich in ihrem Ruhme sonnt, ein Wesen aus Fleisch und Blut, unsere dämonische Diva, 24 Jahre, am Lido. Wir schreiben September. [58]

Mit Hilfe des technischen Mediums wird die Fragmentarisierung soweit getrieben, bis die Wirklichkeit wie die Staffage der Fiktion wirkt, bis aber auch das „Excelsior-Hotel“ wie aus dem „Fleisch und Blut“ „unserer dämonischen Diva“ gewebt erscheint. Die Abdeckerei der technischen Informationsmedien kocht alles, Fakten und Fiktionen, zu einem dicken Brei ein: die Sonne wird zum „Ruhm“, der „September“ zur perpetuierten „Gegenwart“. Die ideologische Herauslösung der vereinzelten Ausgebeuteten, ob „Diva“, ob „Maniküre“, aus dem Kollektiv wird dermaßen perfektioniert, daß jeder Ausgebeutete still für sich „hoffen“ zu können glaubt, ohne den „Berufsverband in Anspruch nehmen zu müssen“. Den Rest besorgt die von oben herabsickernde Ideologie:

Die im bürgerlichen Deutschland ausgeprägte Sucht, sich durch irgendeinen Rang von der Menge abzuheben, auch wenn er nur eingebildet ist, erschwert den Zusammenhalt unter den Angestellten selber (...) Schon die untersten Angestelltengruppen behandeln sich so, als seien sie durch Welten geschieden.“ [59]

Die gesammelte Macht des von den Informationsmedien herausgespülten Durcheinanders an richtigen und falschen Informationen, an falschem Bewußtsein und zielgerichteter Ideologie untergräbt richtige Einsicht endlich auch dort, wo sie bereits vorhanden gewesen. Zu dem Verhältnis zwischen Arbeitern und Angestellten vermerkt Kracauer: Es

wird als Klassengegensatz empfunden, obwohl es (dies) im entscheidenden Punkt und auf lange Strecken hin nicht mehr ist. Nicht nur Angestellte, die es besser wissen müßten, halten an ihm fest, sondern erst recht die Arbeiter, denen sein Schwinden offenbar entgangen ist (...) In der Betriebszählung des Jahres 1925 (waren) weniger Angestellte angegeben als in der gleichzeitigen Berufszählung, in der sich viele Arbeiter auf eigene Faust zu Angestellten ernannten. Was sie nicht sind, sollen doch ihre Sprößlinge werden, denen sie rasche Anstiege erträumen. [60]

Die Umformung des falschen Bewußtseins in zielgerichtete Ideologie gelingt am besten unter dem Vorzeichen der Rationalität, wie der Kapitalismus sie versteht: als das „Vorschriftmäßige“. Die Symptome dieser Methode der ideologischen Infiltration hat Kracauer am Detektiv-Roman in seiner Studie von 1925 analysiert. Als das Gemeinsame der Gattung nennt er die „Idee der durchrationalisierten zivilisierten Gesellschaft“, die in Legales und Illegales, in Vorschriftsmäßiges und den Vorschriften sich Widersetzendes zerfallen scheint:

Detektivromane, sagte Kracauer,

halten dem Zivilisatorischen einen Zerrspiegel vor, aus dem ihm eine Karikatur seines Unwesens entgegenstarrt. Das Bild, das sie darbieten, ist erschreckend genug: es zeigt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der bindungslose Intellekt seinen Endsieg erfochten hat, ein nur mehr äußeres Beiund Durcheinander der Figuren und Sachen, das fahl und verwirrend anmutet, weiles diekünstlich ausgeschaltete Wirklichkeit zur Fratze entstellt. [61]

Dennoch stören die dem kapitalistischen System unaustreibbaren Widersprüche auch die Kriminalwelt; denn durchrationalisiert ist sie nur zum Schein. Wäre es anders, gäbe es die Gattung nicht. Um je von neuem zu verhindern, daß die Widersprüche offen hervorbrechen, tritt der Detektiv als allmächtige und allwissende Vaterfigur auf, Gottvater ähnlich, eine Mischung aus Superman und Konzernherr zumindest.

Der Detektiv schweift in dem Leerraum zwischen den Figuren als entspannter Darsteller der ratio, die sich mit dem Illegalen auseinandersetzt, um es, gleich den Sachverhalten des legalen Betriebs, zu dem Nichts ihrer eigenen Indifferenz zu zerstäuben. Er richtet sich nicht auf die ratio, sondern ist ihre Personifikation, er erfüllt nicht als ihre Kreatur das von ihr Geheißene, sie selber vielmehr vollstreckt ihren Auftrag in seiner Unperson. [62]

Damit découvriert der Detektivroman allerdings wider Willen die gesellschaftliche Zwecklosigkeit des kapitalistischen Systems, zu dessen ideologischer Eskamotage er erfunden worden:

Als Personifikation der ratio spürt der Detektiv weder den Verbrecher auf, weil dieser illegal gehandelt hätte, noch identifiziert er sich mit den Trägern des Legalitätsprinzips. Vielmehr, er entwirrt das Rätsel lediglich um des Prozesses der Enträtselung willen und nur dies: daß das Legale und Illegale als Residuen noch vorhanden sind, führt ihn zumeist auf die Seite der Polizei. Wären diese blassen Bestände auch getilgt — nichts hielte ihn davon zurück, in dem reinen Prozeß unterzugehen, der nicht Anfang noch Ende kennt. [63]

In „Ginster“ hat Kracauer gezeigt, daß die gesellschaftliche Zwecklosigkeit, das Ahistorische des Kapitalismus, der die soziale Emanzipation einer sinnlosen Profitmaximierung opfert, für die isolierten Ausgebeuteten nicht bloß Anonymisierung, sondern reale Annihilierung bedeutet:

Die Konkurrenz war von der Stadt öffentlich ausgeschrieben worden, zugunsten der toten Soldaten und der notleidenden Architekten. Ein Ehrenfriedhof. Es gab eine Menge endgültig an der Heimkehr verhinderter Soldaten, die früher in der Stadt gewohnt hatten. Ihre Angehörigen wollten sie wieder haben; wenn nicht lebendig, so doch die Leichen. [64]

Das in Irrsinn umschlagende Eigentumsdenken soll Ginster, Angestellter in einem Frankfurter Architektenbüro, zufriedenstellen. Er macht sich an die Arbeit:

Sein Friedhof erfüllte (die) Ansprüche auch insofern, als in ihm jede Heimlichkeit sich verbot. Nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen aufgereiht, für jedermann öffentlich. Rechteckige Gräberfelder richteten sich auf einen Mittelplatz aus, auf dem das Denkmal sich wie ein oberer Vorgesetzter erhob (...) Krümmungen hatte Ginster grundsätzlich vermieden. Damit das Laub die Symmetrie nicht zerstöre, zeichnete er es kubisch beschnitten. In Gestalt dicker schwebender Balken zog es sich an den Alleen entlang und unterstrich die Gewalt ihrer perspektivischen Wirkung. Von den Balken umgürtet, standen die Gräbermale in Reih und Glied; kleine Steinflächen ohne Schmuck. Einfachheit war in den Kriegsjahren die Losung der führenden Kreise. Das Denkmal blickte auf die Truppe nieder, als ob es unter ihr Musterung halte; indessen ließ sich nicht die geringste Unregelmäßigkeit entdecken. Rechts und links vom Portal hatte Ginster zum Überfluß zwei Pfeiler mit eingelassenen Nischen vorgesehen, die an Schilderhäuschen erinnerten. Jeder Fluchtversuch wäre gescheitert. [65]

Mit Ginsters „Ehrenfriedhof“ offenbart Kracauer die Unmöglichkeit des Kapitalismus, die systemimmanenten Widersprüche anders zu beseitigen als durch Liquidation derjenigen, ohne die das System nicht existieren kann: der ausgebeuteten Proletarier im blauen oder weißen Kragen. Nichts anderes hatten Marx und Engels gemeint, als sie der Bourgeoisiee nachwiesen, daß sie ihre eigene Aufhebung als Klasse betriebe. Die konstruktive Alternative ist die Aufforderung des „Kommunistischen Manifests“ an die Arbeiterklasse, die Kontrolle der Produktion und die Verteilung der Produkte selber zu organisieren.

Was der Einsicht der Lohn- und Gehaltsabhängigen in diese einzig rationale Perspektive im Wege steht, hat Kracauer bei seinen „langen einsamen Spaziergängen, topographischen Ausschweifungen, die mit gewöhnlichen Gängen nichts gemein hatten“, [66] in den Städten der 20er Jahre genau observiert. Der Schlüssel der Erkenntnis ist für ihn mehr denn alles andere die Architektur gewesen: „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken.“ [67]

So stimmt es haargenau, wenn er 1930 feststellt:

Als charakteristischer Ort der kleinen, abhängigen Existenzen, die sich noch immer gern dem verschollenen Mittelstand zurechnen, bildet sich mehr und mehr die Siedlung heraus. Die paar dort verwohnbaren Kubikmeter, die auch durchs Radio nicht erweitert werden, entsprechen genau dem engen Lebensspielraum dieser Schicht. [68]

Die Enge der scheinbaren Privatsphäre, deren Accessoires Radio und nun Fernsehen auch den letzten Schlupfwinkel der Ausgebeuteten der utilitären Öffentlichkeit der kapitalistischen Welt aufschließen, verstärkt den Drang, den eigenen vier Wänden zu entfliehen, der herrschenden Ratio, die nicht Vernunft, die nur Verdienst meint, dadurch zu begegnen, daß sie sich einem wilden Taumel überlassen, nicht bemerkend, daß gerade das von der herrschenden bürgerlichen Klasse bezweckt wird, damit die Antagonismen ihrem Bewußtsein verborgen bleiben. In den „Angestellten“ referiert Kracauer eine Unterhaltung mit einer „zu Reflexionen neigenden Stenotypistin“:

„‚ernste Unterhaltungen‘, sagte sie, ‚zerstreuen nur und lenken von der Umwelt ab, die man genießen möchte.‘“ Kracauers Kommentar: „Wenn einem ernsten Gespräch zerstreuende Wirkungen beigemessen werden, ist es mit der Zerstreuung unerbittlicher Ernst.“ [69]

Die Geographie der Zerstreuungen hat Kracauer mit der professionellen Fertigkeit eines Kartographen für die Landschaft der 20er Jahre aufgezeichnet. Um 1926 hat sie dieses Aussehen gehabt:

In der Umgebung der großen Städte liegt das Mittelgebirge, das sich von Badeort zu Badeort erstreckt. Diese liegen zu seinen Füßen, aus hygienischen Gründen, malerisch gelegen. Alles liegt. Die Mittelgebirge werden im Lauf der Zeit immer kleiner, weil die Schnelligkeit des Verkehrs sich zum Glück immer vergrößert (...) Der Hauptschmuck des Mittelgebirges sind die Autos, die ohne Terrain nicht leben können; gleichviel welches. Besonders die Kleinautos. Sie sind für die kleinen Leute. Bald bewegt sich der ganze Mittelstand in ihnen, sie kosten fast nichts. Am besten bewegt man sich in der Mitte. Wie das Mittelgebirge. Es verbirgt sich hinter dem Staub, den die Autos erzeugen (...) Abends geht die Sonne unter, wegen der Poesie. Blutrot, sie ist dazu verpflichtet. Dann kommt der Mond gegangen (...) In den Fachwerkhäusern keimt es. Wenn es ausgekeimt hat, reist das Publikum nach Hause. Es nimmt sich einen elfenbeinernen Bleistift mit, in dem eine Glaslinse sitzt. Durch die Glaslinse ist das Mittelgebirge zu sehen. In dem Mittelgebirge ist das Publikum gewesen. Das Publikum freut sich dessen. [70]

Hat Kracauer, wenn er die Frage nach der realen Klassenlage nur mit Andeutungen beantwortet, nicht richtig gehandelt? Zeigen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken nicht, daß es gleichermaßen verfehlt und illusorisch ist, mit einem Proletariat im vulgär-marxistischen Sinn zu rechnen, wobei dessen Beschaffenheit undialektisch und ohne Berücksichtigung der Veränderungen in den Produktionsverhältnissen aus dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart verlängert wird, wie sich selbst, die Gruppe der bildungsprivilegierten Intellektuellen, für die neue revolutionäre Klasse zu halten?

Schiebt man diese Einbildungen beiseite und betrachtet die Gesellschaft, wie sie ist, wird man einer verhältnismäßig kleinen Burgeoisie, die sich mit ihren Monopolkonzernen den Anstrich einer für die Ewigkeit geschaffenen Macht gegeben hat, eine riesige Klasse von Ausgebeuteten gegenüberstehen sehen, deren reale und fiktive innere Differenzen nichtig sind angesichts der herrschaftlichen Gewalt, durch die sie insgesamt unterdrückt wird. Das aber impliziert nicht den Rekurs auf ein vergangenes Klassenbewußtsein, sondern die Entfaltung eines lebendigen gegenwärtigen Klassenbewußtseins. Dazu bietet das Werk Siegfried Kracauers Materialien in Fülle; es muß nur endlich in seiner Gesamtheit zugänglich gemacht werden.

nächster Teil: Der wunderliche Kracauer

[47Siegfried Kracauer: Schreie auf der Straße (1930). In: Straßen in Berlin und anderswo, p. 29.

[48Cf. Kracauer, Die Angestellten, p. 29.

[49Kracauer, Über Arbeitsnachweise, p. 77.

[50Cf. Friedrich Engels: Einleitung zu Karl Marx’ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ (1895) Marx/Engels: Werke, Band 22. Berlin, Dietz, 1963, pp. 509-527.

[51Kracauer, Über Arbeitsnachweise, p. 72 ss.

[52Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1928). In: Das Ornament der Masse, p. 280.

[53Siegfried Kracauer: Film 1928. In: Das Ornament der Masse, p. 298.

[54Kracauer, Die kleinen Ladenmädchen, p. 283 s.

[55l.c., p. 279.

[56Siegfried Kracauer: Die Photographie (1927). In: Das Ornament der Masse, p. 33.

[57l.c., p. 25.

[58l.c., p. 21.

[59Kracauer, Die Angestellten, p. 77.

[60l.c., p. 79.

[61Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Eine Deutung (1925). Unveröffentlichtes Typoskript (2) — 129 pp. Zitat: p. 2 s.

[62l.c., p. 43.

[63l.c., p. 78.

[64Kracauer, Ginster, p. 117.

[65l.c., p. 122 s.

[66l.c., p. 24.

[67Kracauer, Über Arbeitsnachweise, p.69 s. Vgl. Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln, Du Mont Schauberg, 1966 sowie: Ders., Die Stadt — Medium der Ausbeutung. In: Kapitalistischer Städtebau. Hrsg. v. Hans G. Helms u. Jörn Janssen. Soziologische Essays. Neuwied u. Berlin, Luchterhand 1970, pp. 5-35.

[68l.c., p. 69.

[69Kracauer, Die Angestellten, p. 86.

[70Siegfried Kracauer: Das Mittelgebirge (1926). In: Straßen in Berlin und anderswo, p. 122 s.

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