FORVM, Heft 173
Mai
1968

Dialog mit Mao?

Nach Ableben des zur Dämonisierung besonders geeigneten Stalin wurde Mao zur bevorzugten Personifikation unseres Unheimlichkeitserlebnisses. Wenngleich das Wort von der „gelben Gefahr“ kaum je fällt, stehen wir im Bann des rassistischen Mythos; wir zelebrierten schwarze politische Messen — mit Napalm als Weihrauchersatz — zur Austreibung des gelben Teufels aus unserer ansonst besten aller Welten.

Dialog mit Mao? Da gälte es zunächst den Abbau eines Himalaja von Vorurteilen, falschem Bewußtsein und Projektionen, bevor der potentielle Partner sichtbar werden könnte. Es wird behauptet, Mao sei von Anfang nie für Dialog, geschweige denn Zusammenarbeit mit dem „Westen“ gewesen. Das Gegenteil ist wahr. Er erklärte am 24. April 1945 vor dem 7. Nationalkongreß der KP Chinas:

Das Grundprinzip der Außenpolitik der KP Chinas ist: China soll mit allen Ländern diplomatische Beziehungen anknüpfen und festigen ... und zwar unter den Grundbedingungen der völligen Niederlage der japanischen Aggressoren, der Erhaltung des Weltfriedens, gegenseitiger Respektierung der nationalen Unabhängigkeit, Gleichheit und Förderung der gemeinsamen Interessen der Nationen sowie Freundschaft zwischen ihnen.

Die KP Chinas stimmt den Vorschlägen ... völlig zu, eine Organisation zu schaffen mit dem Ziel, Frieden und Sicherheit in der Nachkriegswelt zu wahren. Sie begrüßt die Konferenz der Vereinten Nationen in San Francisco. Sie hat ihren eigenen Vertreter nach San Francisco delegiert ...

Wir ersuchen alle alliierten Regierungen, insbesondere die USA und Großbritannien, der Stimme der großen Mehrheit des chinesischen Volkes ernsthaft Aufmerksamkeit zu schenken und sicherzustellen, daß ihre Außenpolitik den Wünschen des chinesischen Volkes nicht zuwiderläuft und so die Freundschaft zwischen dem chinesischen Volk und ihnen beeinträchtigt. Wir vertreten die Ansicht, daß jede ausländische Regierung, welche die chinesischen Reaktionäre unterstützt und sich der demokratischen Sache des chinesischen Volkes widersetzt, einen schweren Fehler begehen wird. [1]

Das war ein faires Angebot. Am 12. Juli 1945 stellte Mao anerkennend fest, Roosevelt habe sich geweigert, einer Politik zuzustimmen, die Tschiang Kai-schek helfen wollte, die KP Chinas militärisch anzugreifen. Aber der amerikanische Botschafter in China, Patrick J. Hurley, habe eine „Bürgerkriegs-Krise‘‘ heraufbeschworen, indem er in Washington kategorisch erklärte, die USA würden ausschließlich mit Tschiang Kai-schek und nicht mit der KP Chinas zusammenarbeiten. In diesem Augenblicke sei Roosevelt gestorben ‚‚und Hurley kehrte in bester Stimmung in die amerikanische Botschaft in Tschungking zurück“. Wenn die amerikanische Regierung Hurleys Politik folge, lade sie ihrem Volk eine erdrückende Last auf und gerate in endlose Schwierigkeiten. „Das muß dem Volk der USA klargemacht werden.“ [2]

Drei Wochen später explodierten die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Auch das war eine Antwort der USA auf Maos Angebot; es besteht die nicht unbegründete Vermutung, daß die von Truman veranstaltete Atom-Massaker-Show weit mehr der „Abschreckung“ des Weltkommunismus als dazu dienen sollte, ein bereits in die Knie gesunkenes Japan völlig zu Boden zu werfen. Gleichzeitig begannen die USA Tschiang Kai-schek massiv zu unterstützen; in China lebte der Bürgerkrieg wieder auf.

I. Voraussetzungen im Westen

Auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen Maos mit dem Westen wäre es sinnlos, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Dialogs mit Mao zu erörtern, ohne geprüft zu haben, ob wir bereit sind, gewisse Voraussetzungen zu erfüllen:

  • Kategorische Absage an jeden ‚‚weißen“ Kolonialismus, Imperialismus und jede militärische Intervention;
  • eindeutige Erklärung, daß Asien den Asiaten gehört und nicht der CIA und ihren Quislingen;
  • eindeutige Erklärung, daß wir einem Entwicklungsland das Recht auf revolutionäre nationale und soziale Emanzipation zugestehen, auch wenn diese von einer kommunistischen Partei geführt wird;
  • eindeutige Erklärung, daß wir uns in die Auseinandersetzung Peking-Moskau nicht einschalten wollen, um die beiden gegeneinander auszuspielen oder sonstwie hievon zu profitieren;
  • eindeutige Definition, daß es in keiner Weise unsere Absicht ist, uns in die inneren Angelegenheiten Chinas einzumischen, in neuer Form zu versuchen, China unter geistig-politischen Einfluß des Westens zu bringen oder den Status quo in der „Dritten Welt“ zu konsolidieren. Dialog ist kein Opium der Völker.

Positiv wäre zu erklären, daß für uns der Dialog die den Menschen in besonderem Maß kennzeichnende, ihn in seiner Autonomie und Würde bestätigende und auf seine personale und gesellschaftliche Verantwortlichkeit verweisende Form jenes dialektischen Wechselspiels von Spruch und Widerspruch ist, das für Mao die Entelechie dieser Welt bedeutet. Mao erklärt: „Von allen Dingen der Welt ist der Mensch das Kostbarste.‘‘ [3] Wer dies sagt, für den kann der Mensch nicht nur Spielball objektiver Widerspruchsgesetze sein. Der schreibt dem Menschen selbst die autonome Fähigkeit des Widerspruches und damit des Dialoges zu.

Deshalb wäre Mao als unser allgemeines Ziel zu nennen: wir wollen den Dialog nicht als Gegenposition zum Weltprinzip des Widerspruchs, sondern als diejenige Form menschlicher Dialektik, die der Auffassung vom Menschen als dem kostbarsten Ding dieser Welt am adäquatesten ist. Der Dialog soll und kann revolutionäre Entwicklungen — dort, wo Taubheit und Stummheit herrschen — nicht ersetzen. Er ist bloß ein Versuch, im außerdiplomatischen Raum ein Feld abzugrenzen auf dem der Kampf der Waffen in einen Kampf der Worte, die Kanonade der Ideologien in ein Wechselspiel von Vernunftargumenten verwandelt wird. Denn ein Dialog ist nur so lange Dialog, als er an Wahrheit orientiert ist, und nicht an Interesse.

Was soll dann dieser Dialog praktisch-politisch? Wir können das Ziel gar nicht bescheiden genug formulieren: der Dialog soll Kommunikationskanäle legen, durch die ungehinderte Informationen fließen, damit Spruch und Widerspruch überhaupt erst in Gang kommen. Derzeit herrscht zwischen dem Westen und Mao kein Wechselspiel von Informationen, sondern von Mißinformationen, Propaganda, Ideologie und Verteufelung.

Dies ist also das bescheidene Ziel des Dialogs: in Spruch und Widerspruch geduldig am Abbau falschen Bewußtseins bei uns und beim Dialogpartner zu arbeiten, durch sachliche Informationen verhüten zu helfen, daß in einer atombombenverseuchten Welt, voll objektiver Konfliktsituationen von zum Teil revolutionärem Charakter, politische oder militärische Entscheidungen getroffen werden, die für die Beteiligten und die ganze Menschheit katastrophal sein könnten. Der Dialog will keine Proselyten machen, sondern bloß dem geistigen Verstehen dienen. Das kann bestehende Widersprüche und Konflikte keineswegs schon aufheben, wohl aber beitragen, diese Konflikte ihrer gefährlichen ideologischen Verzerrungen zu entkleiden, sie auf das Tatsächliche zu reduzieren, die Voraussetzungen zu schaffen, daß sie emotionell entschärft, vielleicht rational-konstruktiv gelöst werden.

Wenngleich in der bisherigen Geschichte die Marxsche Charakteristik der Revolution: „Ohne Köpfen geht das Ding nicht“ [4] allzuoft bestätigt wurde, so hieße es doch an der potentiellen Mündigkeit der Menschheit verzweifeln, wollte man nicht wenigstens versuchen, in unserer Zeit das Ding auch ohne Köpfen zu machen.

Wir können Mao bis an die äußerste Grenze des Möglichen entgegenkommen, um den Dialog mit ihm einzuleiten. Aber selbst diese Bereitschaft kann ihn zum Dialog nicht zwingen, wenn er ihn nicht will. Die Frage lautet also, ob solche minimale Dialogbereitschaft bei ihm erkennbar ist oder nicht.

II. Maos Theorie

Mao hat in jungen Jahren Adam Smith, Darwin, John Stuart Mill, Rousseau, Spencer, Montesquieu gelesen. Das ins Chinesische übersetzte „System der Ethik“ des deutschen Neokantianers Friedrich Paulsen hat er mit etwa 12.000 Schriftzeichen Anmerkungen versehen. Später las er sowjetische Literatur über Marxismus, Kropotkin, Bakunin, Tolstoj. Mao hat zeit seines Lebens ungewöhnlich viel gelesen, sogar auf dem mörderischen „Langen Marsch“ soll er immer die Taschen voll Bücher gehabt haben. Außerdem hat er auf dem „Langen Marsch“ einige seiner schönsten Gedichte geschrieben, im Stile altchinesischer Lyrik. Wer mit einer Seite seines Wesens dem Geiste lebt, bringt wohl Voraussetzungen mit, daß man ihn im Geiste ansprechen kann.

Mao hat in seiner politischen Theorie immer wieder auf die Notwendigkeit geistiger Auseinandersetzung, des Diskutierens und Überzeugens — statt des Einschüchterns — hingewiesen. Wenn während der Revolution in Maos Armee, im Gegensatz zur Armee der Kuomintang, ausgezeichnete Moral und Disziplin herrschte, dann wohl nicht zuletzt wegen der von Mao eingeführten Praxis, nach jedem Gefecht eine freie Diskussion zu führen, in der die Soldaten ihre Offiziere kritisieren durften. Mao hatte für die Armee folgenden Moralkodex aufgestellt:

  1. Sprich höflich.
  2. Bezahle mit einem gerechten Preis, was Du gekauft hast.
  3. Gib alles zurück, was Du entliehen hast.
  4. Bezahle für alles, was Du beschädigt hast.
  5. Schlage niemanden und beschimpfe niemanden.
  6. Beschädige die Ernte nicht.
  7. Nimm Dir keine Freiheiten mit Frauen heraus.
  8. Mißhandle die Gefangenen nicht. [5]

Maos Soldaten und Offiziere haben sich im Rahmen des Möglichen an diesen für chinesische Verhältnisse revolutionären Moralkodex gehalten, was im Memorandum eines amerikanischen Bevollmächtigten an das Staatsdepartment aus dem Jahr 1944 staunend festgehalten wurde. Dialog ist nur möglich, wo gewisse ethische Voraussetzungen gegeben sind; aus obigem Moralkodex Maos für seine Rote Armee — es ist keineswegs der einzige — darf man schließen, daß Mao ein Verhältnis zu solchem Ethos hat.

1947 erteilte Mao dem General Peng Teh-huai Direktiven, endete aber mit dem Satz: „Bitte antworte, ob Du meine Ansichten für richtig hältst.“ [6] 1948 sandte er Lin Piao Direktiven für die Kampagne in der Mandschurei, endend mit den Sätzen: „Was hältst Du von diesem Plan? Welches sind seine Lücken ? Bereitet seine Verwirklichung Schwierigkeiten? Bitte überlege Dir das alles und antworte mir telegraphisch.‘‘ [7] Mao ist der Ansicht: „‚Sich für unfehlbar halten‘ und ‚sich als Lehrer aufspielen‘ sind törichte Haltungen, die nicht helfen, irgendein Problem zu lösen.‘“ [8]

Immer wieder warnte Mao vor Hochmut und Stolz; er forderte, man müsse dauernd von denen lernen, die von einer Sache etwas verstehen. Wenn man etwas nicht weiß, müsse man dies zugeben. [9] Beschimpfen und Einschüchtern sei nicht dasselbe wie Kämpfen. Die Wahrheit bedürfe nicht der Einschüchterung, sie siege durch Worte und ernsthafte Handlungen. Wer sich des Zwanges bediene, zeige zu wenig Sinn für Verantwortung. [10] Nun, wenn es eine Grundvoraussetzung des Dialogs gibt, dann ist es Sinn für Verantwortung. In seiner Rede ‚‚Zur Frage der richtigen Lösung von Widersprüchen im Volk“ (1957) erklärte Mao:

Alle Fragen ideologischer Art und alle Streitfragen innerhalb des Volkes können nur auf demokratischem Weg gelöst werden, durch Diskussion, Kritik, Überzeugung, Erziehung, nicht durch Zwang und Unterwerfung. [11]

Diesen Prinzipien ist Mao in der gegenwärtigen Kulturrevolution weitgehend treu geblieben; im programmatischen Beschluß des ZK der KP Chinas über die Kulturrevolution vom 8. August 1966 heißt es:

Es ist unzulässig, eine Minderheit, die anderer Ansicht ist, mit Gewalt zum Nachgeben zu zwingen. Die Minderheit soll geschützt werden, denn manchmal liegt bei ihr die Wahrheit. Auch wenn sie unrecht hat, soll ihr erlaubt werden, zu sprechen und ihre Meinung zu behalten. Wenn es eine Debatte gibt, soll sie mit Argumenten und nicht mit Gewalt geführt werden. [12]

Am 31. August 1966 warnte der präsumtive Mao-Nachfolger Lin Piao die Roten Garden:

Man darf die Leute nicht schlagen ... Mit Gewalt kann man nur ihre Haut und ihr Fleisch berühren, nur durch Überzeugenwollen kann man sie auch im Innern berühren. [13]

Am 7. März 1967 schrieb die Pekinger „Volkszeitung“:

Der Kampf muß weiter mit Argumenten geführt werden, und nicht mit Gewalt. [14]

Mao ist einer der größten Revolutionäre der Geschichte; er hat fast sein ganzes Leben als Guerilla- und Armeeführer verbracht und versteht sich somit auf die Gewalt; wenn er es — wie 1951 — als revolutionär notwendig erachtet, kann er gnadenlosen Terror befehlen. Aber in diesem Mao steckt auch ein konfuzianischer Weiser, der die Würde des Menschen als eines geistig bestimmten Wesens kennt und der sein revolutionäres Ziel, wenn möglich, im geistigen Dialog erreichen will. Der Exorzismus der ‚‚Gehirnwäsche“ ist eine Extremform des Versuches, durch geduldiges Überzeugenwollen den Andern für sich zu gewinnen; freilich entartet hier der Dialog zu einem pädagogischen Indoktrinierungs-Instrument im Dienste der Revolution — oder dessen, was gerade als Revolution gilt —, statt wechselseitiges Infragestellen zu sein.

Eine andere Sonderform maoistischen Dialogs sind die „Wandzeitungen mit großen Schriftzeichen“, die seit Beginn der Kulturrevolution eine so große Rolle spielen. Hier sind die seinerzeitigen „Hundert Blumen“ der Diskussionsfreiheit wieder etwas aufgeblüht, wie ja die Kulturrevolution überhaupt — zumindest von der intellektuellen Jugend — als Befreiung vom Druck einer bureaukratisch erstarrten Partei begrüßt wurde.

In der Periode der „Hundert Blumen“ hatte Mao die Parteiherrschaft so gelockert, daß in den Zeitungen die heftigsten Angriffe auf die Partei, den Marxismus-Leninismus und auch auf ihn selbst erscheinen konnten. Was dann allerdings als des Dialogs zu viel erachtet und rasch unterbunden wurde. Mao ist nicht nur Moralist, sondern auch Pragmatiker, der dem intellektuellen Dogmatismus mit dem Mißtrauen des Bauern gegenüber aller grauen Theorie begegnet. Auch das hilft als Voraussetzung für einen Dialog. 1942 erklärte Mao bei Eröffnung einer Parteischule:

Unsere Genossen müssen verstehen, daß wir den Marxismus-Leninismus nicht studieren, weil er unseren Augen gefällig oder weil er irgendeinen mystischen Wert besitzt wie die Doktrinen der taoistischen Priester ... Der Marxismus-Leninismus hat keine Schönheit und keinen mystischen Wert. Er ist bloß äußerst nützlich. Es scheint, daß bis zum heutigen Tage manche den Marxismus-Leninismus als ein gebrauchsfertiges Wundermittel betrachten: wenn man es besitzt, kann man alle Übel mit wenig Anstrengung kurieren. Das ist kindische Blindheit. Wir müssen eine Bewegung beginnen, um diese Leute aufzuklären. Wir müssen ihnen offen sagen: ‚Euer Dogma taugt nichts‘, oder, um eine unhöfliche Formulierung zu verwenden: ‚Euer Dogma ist weniger wert als Mist.‘ Wir sehen, daß Mist die Felder düngen kann ... Dogmen können die Felder nicht düngen ... [15]

Man sollte meinen, mit einem so pragmatischen Revolutionär ließe sich ein von Tatsachen ausgehendes und nicht ideologisch kanalisiertes Gespräch führen.

Maos erkenntnistheoretischer Grundbegriff ist die Praxis: Nicht wie im Diamat, als bereits wieder dogmatisierte Theorie, sondern wie sie das chinesische Zeichen für dieses Wort umschreibt: „vollends einen Weg betreten, etwas konkret tun.“ [16]

Erkenntnis geschieht nach Mao durch sinnliche Erfahrung, vermittelt durch Praxis und dann auf einer höheren Stufe qualitativ umschlagend, nach vielfachen Wiederholungen, in die Formulierung von Begriffen. [17] Im Gegensatz zur leninistischen Erkenntnistheorie, von der Mao ausgeht, neigt sein Denken zum Relativismus, ja Skeptizismus. Er traut der sinnlichen Erfahrung nicht, da sie ‚‚einseitig und oberflächlich“ sei; man müsse, um die Dinge rational richtig zu erfassen, „über sie gründlich nachdenken.“ [18]

Mit dieser rationalen Erkenntnis ist die erste Hälfte des Erkenntnisweges zurückgelegt; dann gilt es, zur Praxis zurückzukehren, um zu erkennen, ob die Erkenntnis wahr oder falsch ist. Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Praxis. Infolge praktischer Erfahrungen „kommt es ... nicht selten vor, daß Ideen, Theorien, Pläne, Projekte teilweise, ja, manchmal völlig geändert werden müssen“. Oft „gelingt es erst nach vielen Mißerfolgen, fehlerhafte Erkenntnis richtigzustellen ...“ [19]

Die Wahrheit liegt in der Praxis verborgen; nur wenn wir uns in die Praxis stürzen und kämpfend immer neue Erfahrungen erwerben, können wir uns ihr nähern. Das ist ein dialektischer Prozeß, und zwar ein unendlicher. Wir können immer nur relative Wahrheit erkennen. Zwar ergibt sich ‚‚aus der Summe der unzähligen relativen Wahrheiten ... die absolute Wahrheit“, [20] aber da die relativen Wahrheiten „unzählige“ sind — in der entsprechenden Formulierung Lenins fehlt das Wort „unzählig“! —, können wir die absolute Wahrheit nie erfassen. So gelangt Mao zu folgendem, weit mehr durch Skepsis als marxistisch-leninistische Eschatologie geprägtem erkenntnistheoretischem Credo:

Der Prozeß der Entstehung, Entwicklung und des Untergangs in der gesellschaftlichen Praxis ist unendlich, und ebenso unendlich ist der Prozeß ... in der menschlichen Erkenntnis ... Der Prozeß der Veränderung der objektiv existierenden Welt ist ewig und unendlich. Ebenso ewig und unendlich ist die menschliche Erkenntnis der Wahrheit durch die Praxis. Der Marxismus-Leninismus bedeutet keineswegs endgültige Wahrheit, sondern eröffnet der Erkenntnis der Wahrheit durch die Praxis ununterbrochen neue Wege. [21]

Maos undogmatische, „offene“ Erkenntnistheorie mit ihrem Kernsatz der permanenten Notwendigkeit, aus der Praxis und den in ihr begangenen Fehlern zu lernen, erscheint als denkbar günstige Voraussetzung für den Dialog.

Der Kern von Maos Theorie (und Praxis) ist seine Widerspruchstheorie. Was Mao meint, ist nicht sosehr ein Widerspruch zwischen den Dingen als vielmehr ein ontologischer Widerspruch, der den Dingen innewohnt, und zwar in Form eines Gesetzes von der Einheit der Gegensätze.

Der Widerspruch ist universal: „Allen Dingen wohnen Widersprüche inne.“ [22] Ohne Widersprüche gäbe es kein Leben, was auch für die Kommunistische Partei gilt. [23] „Der Widerspruch ist allgemein, absolut; er existiert in allen Entwicklungsprozessen der Dinge und durchdringt alle Prozesse von Anfang bis Ende.“ [24] Der Widerspruch in Form einander ausschließender Gegensätze bildet das Grundgesetz von Natur, Gesellschaft und Denken. [25]

Dieser Widerspruch ist ewig: „Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der ständigen Entwicklung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. Diese Geschichte ist unendlich.‘‘ [26] Deshalb gibt es auch im Sozialismus Widersprüche — im Extremfall sogar antagonistische. [27] Auch ‚‚dieser Kampf wird in Ewigkeit fortdauern.“ [28] Wie soll die Partei sich in diesem Kampf verhalten?

Gegenüber offenen Konterrevolutionären ... ist die Sache einfach, man entzieht ihnen die Redefreiheit und damit gut. Gegenüber falschen Ideen innerhalb des Volkes ist die Sache aber anders ... Es ist nicht nur nutzlos, sondern sogar äußerst schädlich, plumpe und summarische Methoden für die Behandlung ideologischer Fragen im Volke und für die Probleme der geistigen Welt anzuwenden. Auch wenn man die falschen Anschauungen nicht zu Worte kommen läßt, werden sie schließlich doch weiter bestehen. Und wenn richtige Ansichten im Treibhaus hochgepäppelt werden, ohne je Wind und Regen gesehen zu haben ... werden sie über falsche Ansichten nicht siegen können. Darum kann man richtige Ansichten ernstlich nur mit dem Mittel der Diskussion, der Kritik und der Überredung fördern; nur so kann man falsche Ansichten überwinden und Streitfragen wirklich lösen. [29]

Nach welchem Kriterium teilt Mao die Gegner seiner Ansichten in „offene Konterrevolutionäre“, denen das Wort zu entziehen ist, und in Belehrbare, mit denen zu diskutieren ist? Gilt die Diskussionsfreiheit auch für die von Nicht-Chinesen aufgeworfenen „Probleme in der geistigen Welt“?

Nimmt man Mao beim Wort seiner Theorie vom absoluten, ewigen, universalen, lebensnotwendigen Widerspruch, dann müßte er darauf brennen, sich im geistigen Kampf zu messen, da dies die einzige Möglichkeit ist, auf der weltgeschichtlichen Fortschrittspirale geistig höher zu kommen.

Die politische Konsequenz seiner Widerspruchstheorie ist jenes Prinzip der permanenten Revolution, die, falls sie sich nicht von selbst ergibt, voluntaristisch „angekurbelt“ werden muß. Die Kulturrevolution ist der bisher spektakulärste Versuch Maos, die Revolution permanent zu erhalten. Sie ist ein Indiz dafür, daß Mao seiner Widerspruchstheorie treu bleiben und den chinesischen Sozialismus in Theorie und Praxis davor bewahren will, dogmatisch und bureaukratisch zu erstarren.

III. Maos Praxis

Beweist nicht eben diese Kulturrevolution mit ihren vielen uns unverständlichen Erscheinungen, daß Mao die Pfade Stalins eingeschlagen hat? Ist nicht die Sintflut der roten „Mao-Bibeln“, in der China heute geistig ertränkt wird, der gewaltigste Indoktrinierungsversuch der Geschichte? Ist nicht Maos extrem intransigente Außenpolitik ein Beweis, daß mit diesem Mann nicht nur nicht zu reden, sondern nicht einmal zu koexistieren sei? Übertrifft nicht Maos Nationalismus und Imperialismus in seinen Möglichkeiten selbst die Politik Hitlers, mit dem Dean Rusk bekanntlich Mao zu vergleichen beliebt?

Auf all das muß zunächst geantwortet werden, daß Asien nicht Europa ist, China nicht die — wesentlich europäische — Sowjetunion und schon gar nicht ein amoklaufender zentraleuropäischer Industriestaat, der sich einem hysterischen Gefreiten in die Arme geworfen hat.

Ist Mao ein gelber Stalin? Manche europäischen Kommunisten neigen heute dazu, die mangelnde Intensität der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Stalinismus dadurch zu kompensieren, daß sie den Popanz eines stalinistischen Mao aufbauen.

So wird die Kulturrevolution identifiziert mit Stalins „Säuberung“. Aber Klaus Mehnert — dem keine besonderen Sympathien für Mao nachgesagt werden können — hat auf einen entscheidenden Unterschied hingewiesen: „Stalin liquidierte die Revolutionäre zugunsten der Bürokraten und Apparatschiki; Mao und Lin liquidierten die letzteren zugunsten der ersteren.‘‘ [30]

Doch die auch darin noch enthaltene Parallele Stalin—Mao entspricht nicht den Tatsachen, denn Mao ‚‚liquidiert“ seine Gegner gar nicht, jedenfalls nicht physisch. Stalin ließ beinahe sein ganzes ZK erschießen oder deportieren; Mao hat jahrzehntelang mit einem beinahe unveränderten ZK zusammengearbeitet, in den meisten Fällen selbst seine schärfsten Gegner in ihren Ämtern gelassen und bis heute den ‚‚chinesischen Chruschtschow“ und seine Gesinnungsgenossen — soviel man weiß — weder verhaftet noch gar an die Wand gestellt. (Es ist noch nicht einmal sicher, ob Liu Schao-tschi als Staatspräsident abgesetzt ist.)

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Stalin seine alten revolutionären Kampfgefährten — und Millionen Unschuldige dazu — erschießen oder deportieren läßt, um eine vor ihm zitternde Bürokratenpartei aufzubauen, oder ob Mao die Jugend des Landes mobilisiert, um den bürokratisch-stalinistisch erstarrenden Parteiapparat aufzubrechen nach seinem Grundsatz, daß der Widerspruch das Gesetz allen Lebens ist und auch eine Partei nur so lange lebendig bleibt, als sie vom Geiste der permanenten Revolution beseelt ist.

Die Roten Garden haben von Mao nicht den Auftrag erhalten, ihre Opfer aus dem Bett zu holen und an die nächste Wand zu stellen. Im Gegenteil wurde ihnen von keinem Geringeren als Lin Piao eingeschärft:

Wir müssen, gemäß den Lehren des Vorsitzenden Mao, den Kampf mit Vernunftgründen führen, nicht mit Zwang und Gewalt. Man darf die Leute nicht schlagen. Das gilt sowohl für den Kampf gegen die Machthaber, die den kapitalistischen Weg einschlagen, als auch für den Kampf gegen die Grundbesitzer, die reichen Bauern, die Konterrevolutionäre, die schlechten Elemente und die Anhänger der Rechten. [31]

Im programmatischen Beschluß des ZK über die Kulturrevolution vom 8. August 1966 heißt es u.a.:

Macht den größtmöglichen Gebrauch von den Wandzeitungen mit großen Schriftzeichen und von großen Debatten, um die Dinge auszudiskutieren ... Die in Diskussionen zu verwendende Methode ist die Darlegung der Tatsachen, die Argumentation und mit Hilfe dieser Argumentation die Überzeugung. [32]

Freilich heißt es dann noch, die „parteifeindlichen, antisozialistischen Rechten“ müssen ‚‚restlos entlarvt, schwer getroffen, niedergeschlagen“ werden, aber das scheint nicht physisch gemeint zu sein. Jedenfalls wird sofort hinzugefügt: ‚‚Zugleich soll ihnen ein Ausweg offen gelassen werden, damit sie ein neues Leben anfangen können.“ [33]

Daß es in der Kulturrevolution trotzdem zu Gewaltakten, Exzessen, blutigen Auseinandersetzungen, vielleicht sogar zu vereinzelten Hinrichtungen kam, dementiert den Geist dieses eindeutig von Mao inspirierten — wenn nicht von ihm selbst verfaßten — programmatischen ZK-Beschlusses nicht. Es handelt sich schließlich um eine Revolution, und dies im volksreichsten Lande der Welt, das in mancherlei Hinsicht noch ‚‚unentwickelt“ ist und eine Tradition unvorstellbarer Grausamkeit hat. Nicht zu vergessen die amerikanischen Bomben, die seit Jahr und Tag an Chinas Grenze abgeworfen wurden und deren wahrer Adressat dieses China Maos ist; der Vietnamkrieg und die Frage, wie China darauf reagieren solle, haben in der Kulturrevolution eine entscheidende Rolle gespielt.

Der Lyriker und Guerillaführer Mao gibt dem Menschen den Vorrang vor der Waffe — auch der Atomwaffe. [34] Und doch hat er auch den Satz geprägt, politische Macht wachse aus einem von der Partei kommandierten Gewehrlauf hervor. [35] Mao hat Sinn für die Würde des Menschen. Und doch kann er, wenn er es für nötig hält, unbarmherzig Menschenleben vernichten. Mao ist ein genialer Stratege und Taktiker. Und doch auch ein konfuzianischer Weiser, der sich für Tage und Nächte mit einem Pack Bücher von der Welt zurückziehen kann. Solcherart feststellen, daß Mao aus ganz anderem Holz ist als Stalin, heißt nicht, sich mit Mao identifizieren; europäische Maoisten sind politische Narren. Aber wenn wir uns überlegen, ob wir mit Mao einen Dialog beginnen können und sollen, dann müssen wir zunächst versuchen, ein möglichst von europazentrischen Projektionen unverzerrtes Bild unseres potentiellen Partners zu gewinnen.

Bleibt das Problem des Personenkults, der heute mit Mao getrieben wird. Ich habe von einem nichtkommunistischen europäischen Sinologen, der die Anfänge der Kulturrevolution in China miterlebt hat, folgende Deutung erhalten: China ist so unvorstellbar groß und noch so unentwickelt, daß Peking, wenn es im hintersten Winkel des Landes gehört werden will, gar nichts anderes übrig bleibt, als ohrenbetäubenden Lärm zu machen.

Das mag richtig sein, aber man darf nicht übersehen, daß dieser Lärm für Mao — er selbst zeigte nie auch nur Spuren von Größenwahn und hatte ursprünglich jeden Personenkult untersagt — doch wohl dazu dienen soll, dem Volke Mao als einen neuen Konfuzius zu präsentieren, der auch noch die Rolle des früher als Himmelssohn verehrten Kaisers spielt. Die großen Schwierigkeiten Maos in der Partei und mit seiner Politik der voluntaristischen permanenten Revolution: „Großer Sprung“; Volkskommunen; innerparteiliche Folgen des Streites mit der Sowjetunion; außenpolitische Isolierung — scheinen ihn davon überzeugt zu haben, daß sein Werk gefährdet sei, wenn er nicht für Kontinuität seines Einflusses sorge, und dies scheint er nur durch die Schaffung eines Mythos zu erreichen. Georges Sorel würde zustimmend nicken.

Der Mao-Mythos ist Ersatz für die fehlende marxistische Revolutionsreligion, wonach die Revolution sich notwendig aus der dialektischen Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ergibt. Maos Bauernrevolution war von Anfang an durch Voluntarismus ihrer Führer, nicht durch ökonomische Entwicklungsgesetze bestimmt.

Was soll aus dieser permanenten Revolution werden, wenn eines Tages der oberste Wille verschwunden ist? So gesehen erscheint der Mao-Mythos als Appell an jene, in den chinesischen Massen mit beinahe archetypischer Macht lebendige und wirksame konfuzianische Tradition, die offiziell von den Kommunisten radikal bekämpft wird. Die Kontinuität des revolutionären Voluntarismus soll für die nächsten Jahrtausende garantiert werden durch Entrückung in die Transzendenz jenes chinesischen Himmels, dessen Sohn schon immer den obersten Willen des Reiches verkörperte. Der revolutionäre Voluntarismus wird numinos geladen.

Aber wiederum müssen wir uns vor einer europäischen Sicht hüten. Das letztlich areligiöse China hat einen Mythos, dessen Held gleichzeitig Weiser und „Heiliger“ ist, ausgezeichnet vor allem durch intellektuelle Qualitäten. Die ‚‚Heiligung‘‘ Maos entspricht dem; im Zentrum stehen nicht etwa seine Kriegs- und Revolutionstaten, sondern seine intellektuellen Taten: die „Mao-Zitate“.

IV. Chancen des Dialogs

Aber nicht nur die Erhebung Maos zum Heiligen stellt den Dialog in Frage. Noch schwerer wiegt, daß er seit etwa zehn Jahren — d.h. seit dem Bruch mit der Sowjetunion, dem Beginn des amerikanischen Engagements in Vietnam und dem Experiment des „Großen Sprungs nach vorne“ — im Innern wie Äußern die permanente Revolution zu forçieren versucht, indem er Widersprüche auf die Spitze treibt oder bewußt schafft. Seine Politik erhält dadurch den Charakter absoluter Intransigenz: bedingungslose Negation der sowjetischen und osteuropäischen kommunistischen Politik; kompromißloser Kampf gegen Liu Schao-tschi und seine innerparteilichen Gegner; radikales Nein zu Friedensgesprächen in Vietnam; kategorische Verweigerung eines „modus vivendi“ mit den USA.

Widersprüche werden für Mao nur dann fortschrittswirksam, wenn sie auf jene Spitze getrieben werden, auf der sie umschlagen in temporäre Synthesen von höherem qualitativem Rang, die dann ihrerseits wieder in neue Widersprüche auseinanderfallen. Die destruktive Intransigenz ist also für Mao das Mittel schlechthin einer konstruktiv-fortschrittlichen revolutionären Politik. Der Klassenkampf hat heute auch eine internationalisierte Form: die Welt der „Armen“ gegen die Welt der „Reichen“; die Weltrevolution hat für Mao, der seine eigenen revolutionären Erfahrungen universalisiert, den Charakter einer Einkreisungsbewegung, in deren Verlauf die „Dörfer“ der Entwicklungsländer die ‚‚Städte“ der Industrienationen erobern werden. Von dieser Revolutionsmetaphysik her wäre jeder Dialog mit Vertretern der „Städte“ — sofern sie sich nicht zu Maos Revolutionstheorie bekennen — konterrevolutionär.

Ohne einen Krieg provozieren zu wollen, stellt Mao die Notwendigkeit der permanenten Revolution über die Notwendigkeit des Friedens. Sosehr er sich der ‚‚kurzfristigen“ Zerstörungsgewalt der Atombombe bewußt ist, sosehr ist er davon überzeugt, daß sie „langfristig“ nur ein Papiertiger sei; am Ende werde der Mensch über die Bombe siegen, die „geistige Atombombe“ des Maoismus über die bloß ‚‚physikalische Atombombe“ der Amerikaner (und Russen). [36]

Roger Garaudy meint in seinem jüngsten, dem ‚‚Problème Chinois“‘ gewidmeten Buche, Maos Theorie der permanenten Revolution und die ihr zugrunde liegende Widerspruchsphilosophie seien bloß Rechtfertigungsideologie, theoretische Weihe der voluntaristischen Politik Maos, der ohne Rücksicht auf die sozio-ökonomischen und geistigen Gegebenheiten ungeduldig den Kommunismus aufbauen wolle. [37] Darin liegt wohl eine Unterschätzung der Widerspruchstheorie Maos; weil sie nicht in den Rahmen der Hegel-Marxschen Dialektik paßt, verdient sie deshalb noch keineswegs, als bloße Ideologie deklariert zu werden. Das Prinzip des Widerspruchs ist für Mao beinahe so etwas wie der Stein der Weisen und nimmt ungefähr die Rolle ein, die bei den Christen der Liebe zukommt.

Nun verweist zwar schon das Wort Wider-Spruch auf Dialogik hin, aber in den letzten Jahren hat Mao — jedenfalls in seinem Verhalten zur nicht-maoistischen Außenwelt — diesen Widerspruch so ausschließlich verdinglicht gesehen, daß von der Bereitschaft, ihn auch als geistiges Prinzip aufzufassen und sich dem Wider-Spruch des „Gegners“ dialogisch zu stellen, nicht mehr viel übrig blieb.

Durch diese Politik ist Maos China — das dürfte ein Hauptargument seiner innerparteilichen Gegner sein — in eine weltpolitische Isoliertheit geraten, die verkrampfte defensiv-nationalistische Züge annimmt. So besteht die Gefahr, daß der ohnehin sehr tief im vieltausendjährigen Humus der chinesischen Tradition wurzelnde Bauernsohn Mao auch hier zum Geist der Ahnen zurückfindet, die in stolzer Überheblichkeit um China eine Mauer zogen; von Barbaren umgeben, sahen sie ihr Reich der Mitte als dem Himmel am nächsten und auf Erden in entsprechender Eliterolle.

Das ist nicht identisch mit Anspruch auf Weltherrschaft, sondern eher nach innen gekehrter Nationalismus, der sich darauf beschränkt, der Welt die — ohnehin viel wirksamere — „geistige Atombombe“ der Lehre Maos als Revolutionstheorie darzubieten, ohne auch nur einen einzigen chinesischen Soldaten zu engagieren. Aber ein solcher Rückzug in die Igel-Neurose würde echten Dialog auf lange Zeit zumindest ungemein erschweren.

So kann das vorläufige Nahziel eines Dialogs mit Mao wohl nur sein, Peking davon zu überzeugen, daß wir entschlossen sind, die geistig-politische Blockade zu sprengen, die der ‚‚Westen“ — und sei es nur durch Stillschweigen zur Politik der USA — über China verhängt hat; wir wollen China zu dem Platz in der Völkerfamilie verhelfen, der ihm gebührt. Das vorläufige Fernziel müßte sein, durch die Lockerung des ‚‚westlichen“ Isolierungsdrucks die chinesische Tendenz zur Verkrampfung in einen nach innen gekehrten Nationalismus zu bremsen und dadurch gleichzeitig zu einer gewissen Entdinglichung von Maos Widerspruchstheorie und -praxis beizutragen.

Dies käme einem Versuch gleich, eine Plattform jenseits dieses „verdinglichten“ Widerspruchs aufzubauen. So könnten die zwischen China und dem Westen bestehenden Widersprüche entideologisiert, auf ihren Gehalt an Wirklichkeit reduziert und dann eben geistig, im Dialog ausgefochten werden. Wir haben gesehen, daß Maos Theorie und Praxis früher durchaus „dialogfreundlich“ waren und es innerchinesisch zum Teil heute noch sind. Wenn sie es im Verhältnis zum Westen heute nicht mehr sind, dann sind weitgehend wir selbst schuld daran. Wir haben den ersten Schritt zu unternehmen, um den dialogischen „Status quo ante“ wiederherzustellen.

[1Selected Works of Mao Tse-tung (im folgenden: SW), Peking 1963, Vol. III, p. 306f. (hier und im folgenden handelt es sich um eigene Übersetzungen).

[2SW III, p. 335f.

[3Originaltext in der französischen Ausgabe: „De tous les biens du monde, l’homme est le plus précieux“, in: Oeuvres choisies de Mao Tse-tung, Peking 1962, tôme IV, p. 478. — In der englischen: „Of all things in the world, people are the most precious“, in: SW IV, p. 454.

[4Brief an Engels vom 8.12.1866

[5S. Jerome Ch’ên: Mao and the Chinese Revolution, London 1965, p. 254, Anm. 17.

[6SW IV, p. 134.

[7SW IV, p. 292.

[8Mao Tse-toung: La Démocratie Nouvelle, Peking 1955, p. 2.

[9SW IV, p. 423.

[10Siehe Maos Rede: „Oppose stereotyped party writing“, in: SW III, p. 53ff.

[11Mao Tse-tung: Ausgewählte Schriften, übers.u.hg.v. Tilemann Grimm, Frankfurt a.M. 1963, S. 85.

[12Siehe Ost-Europa, H. 11/12, 1966, S. 793.

[13Mener la Grande Révolution Culturelle Prolétarienne jusqu’au Bout, Peking 1966, p. 38.

[14Peking Rundschau, Nr. 11, 1967, S. 16.

[15Zit. bei Stuart R. Schram: The political thought of Mao Tse-tung, London 1963, p. 120.

[16Ausgewählte Schriften, Frankfurt, S. 28, Anm. 1.

[17Siehe „On Practice“, SW I, p. 295ff. Hier zitiert nach der Pekinger deutschen Ausgabe: „Über die Praxis“, Peking 1964.

[18Ebd., p. 17.

[19Ebd., p. 22.

[20Ebd., p. 25.

[21Ebd.

[22Siehe „On Contradiction“, SW I, p. 311ff. Hier zitiert nach der Pekinger deutschen Ausgabe: Über den Widerspruch, Peking 1964, S 7.

[23Ebd., p. 17.

[24Ebd., p. 19.

[25Ebd., p. 84f.

[26Peking Rundschau, H. 1, 1967, S. 6.

[27Siehe „Zur Frage der richtigen Lösung von Widersprüchen im Volke“, zit. nach Ausgewählte Schriften, Frankfurt, S. 87.

[28Ebd., S. 96.

[29Ebd., S.98. Vom Verf. gesperrt.

[30Klaus Mehnert, Maos zweite Kulturrevolution, in: Ost-Europa, 16. Jg., H. 11/12, 1966, S. 755.

[31Ansprache von Lin Piao an revolutionäre Studenten usw. am 31.8.1966, in: Mener la Grande Révolution Culturelle Prolétarienne jusqu’au Bout, Peking 1966, p. 38.

[32Zit. in: Ost-Europa, 16. Jg., H. 11/12, 1966, S. 792f.

[33Ebd., S. 794.

[34„Der entscheidende Faktor ist der Mensch, und nicht das Ding.“ In: On protracted war, SW II, p. 143.

[35Ebd., p. 224.

[36„Ein Wort des Vorsitzenden Mao ist eine geistige Atombombe.“ „Die Lehre Mao Tse-tungs ist eine geistige Atombombe.“ Zit. in: Peking Rundschau, H. 2, 10.1.1967, S. 13 u. 17. — „Die geistige Atombombe, welche die revolutionären Völker besitzen, ist eine weitaus gewaltigere und nützlichere Waffe als die physikalische Atombombe.“ Zit. in: Peking Rundschau, H. 32, 8.8.1967, p. 35.

[37Roger Garaudy: Le Problème Chinois, Paris 1967, p. 136 u. 190.

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