FORVM, No. 95
November
1961

Dichter und Waffenlieferant

Zum 70. Todestag von Jean Arthur Rimbaud am 10. November 1961

Am 10. November 1891 stirbt in einem Krankenhaus von Marseille Jean Arthur Rimbaud im 37. Lebensjahr. Der Aufnahmezettel des Spitals nennt den in Charleville, einer kleinen Stadt an der Maas, nahe dem belgischen Charleroi, geborenen Franzosen einen Kaufmann aus Abessinien. Seine Todesursache war bösartige Gelenksentzündung, die Ärzte schrieben Synovitis auf den Totenschein. Ein Jahr namenloser Schmerzen, die Amputation eines Beines war vorangegangen, der hünenhafte, noch in verhältnismäßig jungen Jahren stehende Mann war nicht mehr zu retten gewesen. Ein hartes Leben und die Tropen hatten ihn frühzeitig gezeichnet. Er ist von seiner Schwester begleitet gewesen, und sie konnte ihn nicht mit Unrecht als einen wohlhabenden Mann erklären. Hatte er das von ihm durch zehn Jahre geleitete Handelshaus in der abessinischen Stadt Harrar wegen seiner Krankheit auch mit Verlusten liquidieren müssen, so war er doch immerhin mit 35.000 Francs nach Frankreich zurückgekehrt. Rimbaud wird in Charleville begraben. Das Denkmal, das er dort am Anfang des Jahrhunderts erhält, ist aber nicht dem großen Kaufmann und Waffenhändler gewidmet, sondern dem Dichter, der er auch einmal, so zwischen seinem 17. und 19. Lebensjahr, gewesen ist, und von dem er nie mehr etwas hatte wissen wollen. Im ersten Weltkrieg verschwindet seine Büste vom Sockel. Wurde sie eingeschmolzen, um zu Material für Waffen zu werden? Mußte er sogar im Bildnis den Weg nehmen, den er im Leben gegangen war und mit auch vom Wüstensand nicht verwehten Spuren bezeichnet hatte?

Eine ungewöhnliche Lebenskraft war mit Rimbaud erloschen. War es wirklich Maßlosigkeit, die ihn seiner Zeit wie der Heimat entlaufen ließ, oder muß er nur mit anderem Maß gemessen werden? Er mißtraute dem Wort, das er so meistern gelernt hatte, daß es ihm nichts mehr zu bedeuten schien, er mißtraute allen menschlichen Bindungen, die er, hingegeben der Zeit, hatte versagen sehen, er mißtraute dem Raum, in den er als Sohn und Bürger hineingewachsen war. Europa war ihm zu eng geworden, für die Weite seiner inneren Spannungen genügte ihm auch das Dichten nicht mehr, und er sah in seinem Umkreis keinen Platz für sich. So brach er aus der Zeit, brach aus seiner Nation und suchte fremde Erdteile ab, das ihm Gemäße vielleicht dort zu finden. Schlimmstenfalls wollte er so viel Geld verdienen, daß er sich das Behagen wenigstens kaufen konnte. So hart dieser Kampf ihn auch anpackte, so zäh erwies sich Rimbaud. Er hätte das Zeug in sich gehabt, zum afrikanischen Nabob zu werden.

Den Stationen dieses in seiner Art gigantischen Ausbruchs aus dem XIX. Jahrhundert zu folgen, die wechselnden Kreise, in denen er immer weiter ausschnellte, zu beobachten, ist (in den Biographien von Berrichon und Coulon, in dem ausgezeichneten Lebensabriß, den Alfred Wolfenstein vor seine deutsche Gesamtausgabe gestellt hat) eine ungemein interessante Beschäftigung. Immer wieder scheiterte Rimbaud und mußte an seinen Ausgangspunkt zurück, um es nach wenigen Monaten, neu vorbereitet, doch weiter zu versuchen. Wann hat sein Ausbruch aber begonnen? War es wirklich erst, als der Neunzehnjährige mit Verlaine Paris verließ und er den alternden Dichter, der über Rimbauds faszinierend vehementer Jünglingserscheinung Frau und Kind verlassen hatte, durch die Ardennen, durch die belgischen Fabriksstädte und Brüssel bis nach London nachzog, wo sie in den Hafenvierteln, in Quartieren des Elends und der Verkommenheit, ein sinnloses Leben führten. Hatte es nicht schon beim Sechzehnjährigen begonnen, als er dreimal von zu Hause durchbrannte? Im Kriegsjahr 1870/71, das erste Mal bei Ausbruch des Krieges nach Paris, dann als die Deutschen in seine Geburtsstadt einzogen nach Brüssel, und schließlich nach Ausrufung der Kommune wieder nach Paris. In sechs Tagesmärschen hat er damals das vom Feinde besetzte nördliche Frankreich durcheilt. Und früher noch, hatte nicht der kleine Bub schon — Rimbaud hat es im Gedicht „Die siebenjährigen Poeten“ festgehalten — die strenge mütterliche Wohnung verlassen und war mit seiner Phantasie, die alle irgendwie erreichbaren Zeitschriften mit ihren Bildern aus der ganzen Welt angeregt hatten, ins Weite und in die Ferne ausgebrochen?

Nehmen wir aber nur die letzten Versuche seiner Zeitflucht, die er nach dem Prozeß gegen Verlaine unternommen hatte. Der reizbare und gequälte Dichter hatte ihn angeschossen; obwohl nur an der Hand verletzt, hatte ihn Rimbaud der Polizei überantwortet und Verlaine war zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der Abenteurer Rimbaud hatte Ruhe vor dem beschwerlichen Freund. Er geht wieder nach London, lernt perfekt englisch, geht nach Deutschland, spricht nach vier Monaten die deutsche Sprache fast vollkommen, geht zu Fuß durch die Schweiz und über den Gotthard nach Mailand, lernt in einem Monat italienisch, muß, in Livorno vom Sonnenstich getroffen, wieder zurück nach Frankreich. Rücksichtslos gegen seine Gesundheit hat es ihn immer weiter nach dem Süden getrieben. Er ist Arbeiter in einer Kistenfabrik, Hauslehrer, Zeitungsverkäufer, Schwerarbeiter in Häfen und dazwischen immer wieder Vagabund gewesen. Zuhause zum Überwintern gezwungen, lernt er noch Russisch, Neugriechisch und Spanisch. Bei erster Gelegenheit fährt er wieder los, diesmal nach Wien, wo ihm seine Ersparnisse gestohlen werden, so daß er nicht weiter nach Rußland kann, wie er gewollt hatte. Er muß wieder zurück, kommt durch Deutschland nach Holland, wird hier nach Niederländisch-Indien angeworben und nach Batavia eingeschifft. In den indischen Bergen desertiert er, fährt als Matrose auf einem englischen Schiff um Afrika herum. Bei St. Helena springt er ins Meer, um die Insel Napoleons zu betreten. Im nächsten Frühjahr ist er wieder in Deutschland, wird Kassier bei einem Wanderzirkus, kommt bis Kopenhagen und Stockholm. Bald darauf schifft er sich nach Alexandrien ein, um endlich das Morgenland zu erreichen. Er bekommt das Fieber und wird in Italien ausgeschifft. Genesen erreicht er Cypern und ist Aufseher in einem Steinbruch. Er kann mit dem Auswurf aller möglichen Nationen gut umgehen und erweist sich als gerissener und doch zuverlässiger Bursche. Der Typhus bringt ihn noch einmal zurück in die Heimat, das nächste Jahr sieht ihn jedoch wieder in Cypern, diesmal im höchsten Gebirge, wo er als Oberaufseher die Arbeiten an einem Palastbau für den Gouverneur überwacht. Später geht er nach Ägypten, den Nil hinauf und das Rote Meer entlang. Krankheit hält ihn in Aden nieder. Er tritt dort in ein Handelshaus ein, erwirbt das Vertrauen der Besitzer und wird zum Filialleiter einer Niederlassung in Harrar, dem großen südäthiopischen Handelsplatz, ernannt.

Von 1887 an lebt er in Harrar mit einer Abessinierin als Frau. Die Wirtschafterin seines früheren Chefs schreibt dazu: „Ich ging fast jeden Sonntag nach dem Mittagessen zu Herrn Rimbaud, aber ich wunderte mich, daß er mir den Besuch überhaupt gestattete. Denn ich war wohl die einzige Europäerin, die er empfing. Er sprach wenig. Mir schien, daß er zu der Frau sehr gut war. Er wollte sie unterrichten lassen und sagte mir, er würde sie einige Zeit zu den Missionsschwestern, zum Pater Franziskus geben. Er wolle sich verheiraten, sagte er, weil er in Abessinien bleiben wolle, und nach Frankreich kehre er nur zurück, wenn er ein großes Vermögen erworben habe, sonst niemals mehr ... Die farbige Frau war sehr sanft. Leider sprach sie so wenig französisch, daß wir kaum miteinander plaudern konnten. Sie war groß, sehr schlank. Eine hübsche Gestalt und regelmäßige Züge, nicht zu schwarz.“

Ein Handelsfreund schreibt von ihm: „Rimbaud war den armen Leuten sehr gefällig, die auf gut Glück ausgewandert waren und nun enttäuscht und zerbrochen so rasch wie möglich nach Hause verlangten. Diese geheime und ausgiebige Hilfe war eine der seltenen Sachen, die er ohne Spott und Ekel tat.“ Noch 1890 schreibt er an Mutter und Schwester: „Wundert Euch nicht, daß ich so selten schreibe. Lebt man in einem solchen Lande, dann hat man mehr zu fragen als zu sagen. Einöden, von stumpfen Negern bewohnt, ohne Wege, ohne Boten, ohne Reisende. Was soll man Euch von hier schreiben? Daß ich mich langweile und mich ärgere und verdumme, daß ich genug davon habe und doch nicht Schluß machen kann, das ist alles, was zu sagen wäre. Im übrigen mordet und plündert man nicht schlecht in dieser Gegend. Glücklicherweise bin ich noch niemals dabei gewesen, möchte meine Haut auch durchaus nicht hier lassen. Tatsächlich bringt man mir am Ort und unterwegs eine gewisse Achtung entgegen, dank meinem menschlichen Verfahren. Nie habe ich jemandem Böses zugefügt. Ich tue im Gegenteil Gutes, wo ich Gelegenheit dazu habe, und das ist meine einzige Freude. Die Leute von Harrar sind weder dümmer noch gemeiner als die weißen Neger der sogenannten zivilisierten Länder. Sie sind von anderer Art, das ist alles. Sie haben sogar weniger Bosheit in sich und können sich als dankbar und treu erweisen, wenn man nur menschlich mit ihnen umgeht.“

Drückt sich in seinen Briefen auch oft eine einfach bürgerliche Sehnsucht aus, so heißt es dann doch wieder: „Die Leute, die einige Jahre hier waren, können den Winter nicht mehr in Europa verbringen. Sie würden rasch an einer Lungenkrankheit verrecken. Komme ich also zurück, dann nur im Sommer, und ich müßte im Winter wenigstens ans Mittelmeer gehen. Auf jeden Fall rechnet damit, daß mein Wesen stets vagabundisch bleiben wird. Dies muß sich sogar steigern, denn wenn ich die Mittel zum Reisen habe und nicht mehr beim Broterwerb ausharren muß, wird man mich keine zwei Monate am selben Ort sehen. Die Welt ist voll herrlicher Länder. Um sie alle zu besuchen, würden die vereinten Leben von tausend Menschen nicht ausreichen. In Armut aber will ich nicht herumwandern.“ Und pessimistisch schließt er: „Doch es ist wahrscheinlicher, daß jeder dorthin gehen muß, wohin er nicht gehen will, und daß man eher tun muß, was man nicht tun will, und daß man ganz anders lebt und stirbt, als man jemals dachte.“

Erst in jüngster Zeit im französischen Konsulat von Aden aufgefundene Briefe Rimbauds an den seinerzeitigen Konsul geben Aufschluß über die Beziehungen Rimbauds zu Menelik, dem späteren Kaiser von Abessinien. Die Bekanntschaft datiert von 1885, als Rimbaud seine erste eigene Karawane nach Abessinien führte und Menelik noch Stammeskönig und Vasall des Negus Johannes war. Sie erwies sich für den Franzosen zunächst als nicht sehr erfreulich, und er schreibt darüber: „Am Choâ fanden die Geschäfte unter geradezu entsetzlichen Bedingungen ihren Abschluß. Menelik bemächtigte sich aller Waren und zwang mich, sie ihm zu tief herabgesetzten Preisen zu verkaufen, indem er mir den Detailverkauf verbot und mir drohte, die Waren auf meine Kosten zurückzuschicken. Er gab mir 14.000 Taler für die ganze Karawane, zog davon die Summe von 2.500 Talern für die Kamelmiete und andere Kosten der Karawane ab, desgleichen eine weitere Summe von 3.000 Talern, als Abschlagzahlung für eine Schuld meines jüngst verstorbenen Kompagnons Labatut, wie er sagte, während mir sonst jedermann versicherte, daß der König eher Schuldner als Gläubiger Labatuts gewesen wäre. Verfolgt von einer Bande angeblicher Gläubiger Labatuts, denen der König immer recht gab, während ich von seinen Schuldnern nie etwas wiederbekommen konnte, bestürmt von der abessinischen Familie Labatuts, die unausgesetzt seinen Nachlaß verlangte und sich weigerte, die Vollmacht für meinen Besitz anzuerkennen, fürchtete ich, bald vollständig ausgeplündert zu sein ... Die Nachricht von meinem einwandfreien Verfahren verbreitete sich bis weithin; von nun an meldeten sich überallher Gläubiger Labatuts mit schamlosen Betrügereien, es wurde ihrer eine ganze Kolonne, ein ganzes Regiment und eine wahre Horde. Das änderte meine gute Absicht, und ich beschloß, eilends von Choâ herunterzusteigen. Ich erinnere mich noch an den Morgen meiner Abreise; als ich schon gegen Nordnordost losschritt, sah ich plötzlich aus einem Gebüsch den Boten der Frau eines Freundes von Labatut auftauchen, der im Namen der Jungfrau Maria eine Summe von 19 Talern verlangte, und ein wenig weiter stürzte von der Höhe des Gebirges ein Mensch in einem Schafspelzmantel auf mich zu und fragte mich, ob ich die 12 Damen, die Labatut seinem Bruder schuldete, bezahlt hätte. So ging es endlos weiter ...“

Unter solchen Verhältnissen in Abessinien Geschäfte zu machen, war sicher nicht leicht. Was Menelik anbelangt, so mußte er in Rimbaud aber bald einen ebenbürtigen Partner erkannt und seine Tüchtigkeit sehr geschätzt haben. Er schenkte ihm sein Vertrauen und benützte ihn, wo er nur konnte. Der Kaufmann Rimbaud partizipierte daher reichlich an dem Aufstieg, den Menelik vom König einer einzelnen Provinz zum unabhängigen Kaiser ganz Abessiniens bald nahm. Harrar wurde die erste Handelsstadt des neuen Reiches. Die Briefe Meneliks an Rimbaud trugen die Aufschrift: „Er hat gesiegt, der Löwe vom Stamme Juda, Menelik II., Erwählter des Herrn, König der Könige Äthiopiens richtet an Dich Seinen Gruß.“ Rimbauds Karawanen lieferten ihm riesige Mengen von Gewehren und Patronen und Maschinen zur Herstellung von Gewehren und Patronen. Es war das Arsenal dieser Waffen, mit dem Menelik 1896 bei Adua siegte. Daß Rimbaud über die Art und den Umfang dieser Geschäfte nur wenig geschrieben oder erzählt hat, lag in der Natur der Sache. Wie er aber zu den sieben europäischen Sprachen, die er beherrschte, auch die dortige Landessprache und die verschiedensten arabisch-äthiopischen Dialekte vollendet sprach, wird er auch alles Raffinement des abessinischen Warenhandels und die notwendigen Schliche eines Waffenlieferanten schnell gelernt und den alten Schlaukopf Menelik gut und nicht zum eigenen Nachteil bedient haben.

Jedenfalls hat Rimbaud das Expansionsbedürfnis des Europäers nach dem Osten Afrikas auf seine Weise exemplifiziert und wenigstens für sich einen weiter gespannten Lebensplatz erobert. Daß er von wechselnden Stimmungen auf ihm hin- und hergerissen wurde, zeigt, daß er den Europäer in sich zumindest zu einer guten Hälfte nicht hatte abstreifen können. Wohl waren ihm die phantasievollen Träume nach einem Leben im Orient in Erfüllung gegangen und unter anderen Breitegraden war er manchem verdrießlichem Zwang und den hemmenden Konventionen seines europäischen Erbes entbunden, aber auch das neu gewonnene Dasein zeigte ihm die Kehrseite einer verpflichtenden Realität. Und im tiefsten Kern seiner menschlichen Existenz hat er nichts anderes wieder als den Europäer in sich entdeckt und sich gerade als solcher bewährt und behauptet. Die Dokumente seines afrikanischen Lebens zeigen seinen Charakter, der in der Heimat vielfach verschlossen und von verhaltenen Explosivstoffen bedroht gewesen ist, in übersichtlicher Klarheit. Die überlegenen sittlichen Kräfte des angeborenen Pflichtbewußtseins wurden hier freigelegt, und er bewies mitten in gefährlichen Unternehmungen und zwischen verzwickten Geschäften menschliche Hilfsbereitschaft und europäische Reellität. Als Exponent des christlichen Abendlands im fernen Afrika hat er sich unter schwierigen Verhältnissen äußerlich bewährt und innerlich nicht verraten, das Kleid der Fremde getragen und dabei sich gefunden.

Ein Leben als Abenteuer und als Weg zum Erfolg, so mag uns Rimbauds Biographie im Rückblick erscheinen. Harte Arbeit und Arbeit aller nur denkbaren Art ist es vom zwanzigsten Jahr an gewesen. Viele Enttäuschungen sind über ihn niedergegangen und auch die mit dem Aufwand aller Zähigkeit errungenen Erfolge mochten manchmal vor ihm aussehen, als stünden sie nur auf einem anderen Konto der Enttäuschungen. In seltener Fülle hat er den Becher des Lebens geleert, hat es mit allen Gedanken durchwirkt und in einem ganz offenen, hellen Bewußtsein aufgenommen. Und mit gleicher voller Macht war der Tod über ihn gekommen und hat ihn mit allen Schmerzen und Qualen erfüllt. Hier wie dort aber durfte er ein menschliches Beispiel von seltener Leuchtkraft und Stärke geben. „Ich bin von der Rasse, die bei ihrer Hinrichtung singt“, hat er einmal geschrieben. Und früher schon einmal: „Wäre der Geist immer rege gewesen, so ständen wir bald bei der Wahrheit, die uns vielleicht weinend mit ihren Engeln umgibt ... Wäre er bis jetzt wach gewesen, so hätte ich mich nicht an tödliche Triebe, an unvordenkliche Zeiten verioren! ... Wäre er immer wach gewesen, so schwämme ich in voller Weisheit! ... O Reinheit! Reinheit! Diese Minute des Erwachens schenkte mir die Sicht der Reinheit. Durch den Geist geht man zu Gott.“ In seinen letzten Marseiller Tagen möchte er nur wieder in Harrar sein und am Abend vor seinem Tod schreibt er, der beinlose Krüppel, noch an eine Schiffahrtsgesellschaft und sorgt sich, wie er möglichst schnell an Bord gelangen könne. Erst das große Schiff, das ihn jetzt aufgenommen hat, konnte seinen heißen Lebensdrang zum Frieden führen.

Eines Menschen wunderliches Schicksal — und wäre doch untergegangen in dem großen Meer des Vergessens, hätte dieser selbe Jean Arthur Rimbaud nicht als Jüngling ein paar Dutzend Gedichte und etliche kurze Prosastücke geschrieben. Kein anderer Dichter seiner Zeit hat wie er die Grenzen des Gedichtes erweitert und seine Ausdrucksmöglichkeiten vermehrt. Die Heftigkeit seines Wesens und die Gedrängtheit seines Willens haben den Versen einen einzigartigen Rhythmus, einen Marschschritt des Geistes gegeben, der Stärke mit Weichheit der Farbe, Bildkraft mit visionärem Schwung in seltener Vollendung vermählte. Keiner hat auch wie er das europäische Gedicht der nachgefolgten Generationen befruchtet, und das trunkene Schiff, das er mit seiner Wortkunst bemannt hat, ist längst in den gesicherten Hafen der Literaturgeschichte eingekehrt.

Daß Genie oft ein Danaergeschenk ist, davon hat er ein ganz eigenartiges Beispiel gegeben. Wie er sich von ihm gerettet hat, das entsprach so recht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu dessen Beginn der wunderbare Dichterjüngling Hölderlin an geistiger Umnachtung und die größte tragische Begabung der Deutschen, Kleist — ganz Dramatiker wie Rimbaud ganz Lyriker, im herrlichsten Deutsch dichtend wie jener in seinem wunderbaren Französisch, und beide doch irgendwie verwandt —, durch selbstbeschlossenen Tod verloren gegangen sind. Rimbaud verbiß sich in sein gerades Gegenteil: einen smarten Geschäftsmann. Er brach aus seinem Jahrhundert nach Afrika aus, wie Paul Gauguin wenige Jahre nach ihm in die Südsee. Während der Maler aber noch in Tahiti seiner Kunst treu blieb, befreite sich der Dichter gänzlich von der Last seiner Begabung und wurde Geldverdiener und Waffenlieferant. Sein hinterlassenes Werk, das er von seinem späteren harten und nüchternen afrikanischen Leben weit abgeschoben hatte, wirkte jedoch weiter und umgab ihn mit jener Aureole des Ruhms, der wir es verdanken, daß die Spuren seines menschlichen Schicksals, in dem sich Daseinsprobleme der Zeit wie der Ewigkeit einzigartig vermischen, nicht verloren gegangen sind.

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