FORVM, No. 307/308
Juli
1979

Die Angst des Prometheus

25 Thesen zu Technik und Gesellschaft

Daß man mit 81 immer noch kraftvoll philosophieren kann, bewies Herbert Marcuse, als er bei den Frankfurter Römerberggesprächen Mitte Mai zur aktuellen Technikdiskussion sprach. Prometheus brachte den Menschen das Feuer, und das war die Ursünde, die die Götter ihn büßen ließen ...

Wir bringen Marcuses schriftlich niedergelegte Vortragsnotizen, die er für sein frei gehaltenes Referat benutzte. Sie haben den Charakter von philosophischen Werkstattpapieren, die alles auf die knappste Formel bringen. Zum leichteren Verständnis noch einen Auszug aus Iring Fetschers Bericht über die Veranstaltung.

(1) Fortschritt — Kriterien: Stand der Naturbeherrschung, Stand der menschlichen Freiheit. Beide Tendenzen sind positiv und negativ aufeinander bezogen: Herrschaft über die Natur ist zugleich Herrschaft über Menschen, mittels des technisch-wissenschaftlichen Apparats der Kontrolle, Steuerung, Manipulation; Apparat der Unfreiheit.
Aber: Herrschaft über die Natur ist auch Herstellung und Verfügbarkeit über die Mittel zur Befriedung des Existenzkampfes — Apparat der Freiheit.

(2) Die westliche Industriegesellschaft hat von Anfang an den Primat der Naturbeherrschung auf Kosten der Freiheit festgehalten. Das geschah im Rahmen einer politischen Emanzipation (bürgerliche Demokratie). Diese Demokratie kompensierte für die Unterwerfung der Menschen unter ihre Arbeit mit der (weitgehend scheinhaften) Wahl der Herrschenden durch die Beherrschten und durch die Erhöhung des Lebensstandards (quantitativer Fortschritt).

(3) Dieses Herrschaftssystem wird reproduziert durch die Befriedigung materieller und kultureller Bedürfnisse für die Mehrheit der Bevölkerung — bei gleichzeitiger Steuerung der Bedürfnisse und durch den die Ökonomie immer mehr regelnden Staatsapparat.

(4) Der Schein der Selbstbestimmung (oder wenigstens Mitbestimmung) ermöglicht die Internalisierung der das System reproduzierenden Bedürfnisse (systemimmanente Bedürfnisse): Das Aufoktroyierte wird zum Angebotenen und dann zum Eignen des Individuums, zum Gewählten.

(5) Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte ist dem Kapitalismus durch seine eigene Dynamik aufgezwungen: notwendige intensive und extensive Ausbeutung der Natur, Steigerung der Produktivität der Arbeit unter dem Druck auf die Profitrate und auf die erweiterte Akkumulation.
Konsequenz: Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Prinzip produktiver Destruktion — Kernkraftindustrie, Umweltvergiftung, Entmenschlichung der Arbeit.
Aggression auch in der „popular culture": im Sport, Verkehr, Musik, Pornographie ...

(6) Der Prozeß der produktiven Destruktion ist im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft irreversibel. Die Aufhebung des produktiven Destruktionsprinzips widerspricht dem Organisationsprinzip des Kapitalismus.

(7) Notwendigkeit der Expansion und der entfremdeten Arbeit. ln der gegenwärtigen Periode kündigt sich die mögliche Negation des quantitativen Fortschritts nicht primär in der politökonomischen Basis an (keine Endkrise!), sondern in der kulturellen Sphäre (Kulturrevolution!): in der Desintegration der Normen, auf deren Legitimierung und Anerkennung im Verhalten der Menschen das Funktionieren des Kapitalismus beruht (Verhalten in der Arbeit und Freizeit).

(8) Diese nicht mehr als legitim und lebensnotwendig erscheinenden Normen sind u.a.: die puritanische Arbeit, die menschliche Existenz als Produktionsmittel, die bürgerliche Sexualmoral, das Leistungsprinzip ...
Diese Weigerung, das Bestehende zu legitimieren, erscheint nicht nur in den „Katalysatoren-Gruppen” der Gegenkultur (Studenten- und Frauenbewegung, Bürgerinitiativen usw.), sondern auch in der Arbeiterklasse selbst: spontane Sabotage, Absentismus, Forderung nach Kürzung der Arbeitszeit).

(9) Die Negation des quantitativen Fortschritts ist bestimmte Negation: Sie schöpft ihre wirkliche Kraft aus den in der bestehenden Gesellschaft schon diese transzendierenden Tendenzen. Sie erscheinen subjektiv in der radikalen Umwertung der Werte in der Gegenkultur; objektiv in der Reife (Überreife) der Produktivkräfte, die eine Überwindung des Mangels zur realen (nur von den herrschenden politökonomischen Interessen verhinderten) Möglichkeit macht.

(10) Angesichts der Konkretheit der Utopie darf die Umwertung der Werte in der Kulturrevolution nicht als bloße Ideologie, Überbau abgetan werden. Sie ist getragen von einem wahren Bewußtsein, das zugleich antizipierendes Bewußtsein ist. Außerdem realisiert sich dieses Bewußtsein in gesellschaftlichen und individuellen Verhaltensweisen. Zum Beispiel: Enttabuierung der Sprache; Emanzipation des Körpers von seinem Gebrauch als Produktionsinstrument: die „neue Sinnlichkeit"; Ausscheiden aus dem Konkurrenzkampf ...

(11) Technischer Fortschritt ist objektive Notwendigkeit für den Kapitalismus sowohl wie für die Emanzipation. Letztere ist abhängig von einer Weiterentwicklung der Automation bis zu dem Punkt, wo die herrschende „Ökonomie der Zeit“ (Bahro) umgestürzt werden kann: freie, schöpferische Zeit als Lebenszeit.

(12) Aber vielleicht ist es ein Kurzschluß, zu sagen, daß nur der Mißbrauch von Wissenschaft und Technik an der fortdauernden Repression schuldig ist: Die Umwertung der Werte und Zwänge, die Emanzipation der Subjektivität, des Bewußtseins könnte sehr wohl schon in der Konzeption der Technik selbst, im Aufbau des technisch-wissenschaftlichen Apparats wirksam werden.
Die Technik der Emanzipation könnte eine andere als die der Herrschaft sein: andere gesellschaftliche Prioritäten der Forschung, andere Größenordnung des Apparate ...
Vielleicht ist die Technik die Wunde, die nur durch die Waffe, die sie schlug, geheilt werden kann: nicht Abbau der Technik, sondern Umbau zur Versöhnung von Natur und Gesellschaft.

(13) Ein Kurzschluß wäre es auch, wenn die Auflösung der repressiven Konsumgesellschaft durch eine aufoktroyierte Einschränkung des Konsums durchgeführt würde: Das hieße, die Emanzipation mit intensivierter Repression beginnen!
Entscheidende Rolle des „subjektiven Faktors”: Die Emanzipation von der Konsumgesellschaft muß zum vitalen Bedürfnis der Individuen selbst werden. Und das setzt wieder voraus: eine radikale Transformation des Bewußtseins und der Triebstruktur der Individuen.
Voraussetzung ist die interne Schwächung der Konsumgesellschaft in ihrer politökonomischen Basis.

(14) Aber ein sinkender Lebensstandard verändert noch nicht das bestehende System der Bedürfnisse, ihrer Qualität: Selbst wenn die Menschen nicht mehr Automobile, mehr „gadgets“, mehr Komfort haben könnten, würden sie noch diese Waren begehren! Das unerfüllte Bedürfnis bleibt Bedürfnis!
Was sich ändern müßte, wäre der Unterbau unter der ökonomisch-politischen Basis: das Verhältnis zwischen Lebens- und Destruktionstrieben in der psychosomatischen Struktur der lndividuen. Das hieße: Veränderung der heute dominierenden psychosomatischen Struktur, die das Einverständnis mit der Destruktion, die Gewohnheit an das entfremdete Leben, das nicht immer schweigende Einverständnis mit der Aggression und Destruktion trägt.

(15) Wie soll diese Umwälzung in den Individuen selbst zustande kommen?
Die „Kinder des Prometheus" sind nicht „ratlos“: Die über den Fortschritt heute entscheiden, die Herren der Wirtschaft und der Politik, machen weiter. Die lange Sicht interessiert sie nicht übermäßig; die anderen, die diesen Fortschritt nicht mehr ertragen wollen, konstituieren sich, fast spontan, zu einer Opposition in neuen Formen, zum großen Teil außerhalb und gegen die etablierten politischen Parteien und Klassenorganisationen.

(16) Es ist ein Protest aus allen Klassen der Gesellschaft, motiviert von einer tiefen, körperlichen und geistigen Unfähigkeit mitzumachen, von dem Willen, das zu retten, was noch an Menschlichkeit, Freude, Selbstbestimmung zu retten ist: Revolte der Lebenstriebe gegen den gesellschaftlich organisierten Todestrieb.

(17) Dieser Protest gegen den produktivdestruktiven Fortschritt aktiviert den subjektiven Faktor in der Umwälzung: Er verankert die Emanzipation in der zum Objekt gemachten Subjektivität.

(18) Die Verankerung der Revolte in der Subjektivität der menschlichen Existenz macht die Bewegung allergisch gegen umfassende Organisation.
Das schwächt ihre Stoßkraft, isoliert sie von den Massen und gibt ihr den elitären Anschein und die Qualität des Unpolitischen: Flucht aus der politischen Theorie und Praxis.

(19) Fehleinschätzung: Der politische Stellenwert der Subjektivierung liegt in den (von den Massenorganisationen und ihrer Ideologie verdrängten) Werten der Selbstbestimmung. Er liegt in der Konkretisierung der längst ins Abstrakte relegierten qualitativen Differenz.
Es geht um jeden einzelnen und die Solidarität von einzelnen; nicht nur um Klassen oder Massen!

(20) Wenn die traditionellen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen selbst zur Reproduktion des destruktiven Fortschritts beitragen müssen und wenn die gesellschaftlichen Gegensätze zu einer repressiven Einheit zusammengekommen sind: ein unwahres Ganzes, in dem der Fortschritt weitertreibt, ohne je über dieses Ganze hinauszugehen, dann mögen die Kräfte qualitativen Fortschritts sehr wohl in antizipatorischen („frühreifen") Formen einer auf die Individuen zentrierten Gegenkultur zur Erscheinung kommen!

(21) Aber diese Gegenbewegung ist im höchsten Grade ambivalent: Einerseits ist die „Verkörperung“ (im wörtlichen Sinn!) der Revolte gegen den quantitativen Fortschritt negativ, insofern sie bei der Weigerung stehen bleibt; anderseits ist sie positiv, wo sie im Zeitalter der totalen Integration die konkrete Utopie eines Fortschreitens über das Gegebene hinaus bewahrt; wo sie gegen die Produktivität der instrumentellen Vernunft auf die kreative Rezeptivität der Sinnlichkeit, wo sie gegen die Allmacht des Leistungsprinzips auf das Recht des Lustprinzips insistiert.

(22) Dieses Fortschreiten in ein Neues erscheint heute in der Frauenbewegung gegen die patriarchalische Herrschaft, die erst im Kapitalismus zur gesellschaftlichen Reife gekommen ist; in dem die fixierte Klassengliederung überschreitenden Protest gegen die Atomindustrie und die Zerstörung der Natur als Lebenswelt; und: in der trotz aller Totsagung immer noch lebendigen Studentenbewegung in ihrem Kampf gegen die das System reproduzierende Degradierung des Lernens und Lehrens.

(23) Während diese Formen des Protests ihren (unorthodoxen) politischen Stellenwert bewahren, ist die Politisierung gebrochen, wo die Weigerung in der lnnerlichkeit steckenbleibt: Die Verzweiflung am Politischen führt dann zu jener berüchtigten „Reise nach innen“, die in der sogenannten „Politik in der ersten Person“ als Scheinpolitik Ausdruck gefunden hat.

(24) Diese Reise nach innen wird dann zu jener (besonders in der Literatur herrschenden) Veröffentlichung des nur Privaten: Sie wird zur Aufspreizung des Ichs als Zentrum auch der politischen Welt.
Aber — nicht alle Probleme, Sorgen, Erlebnisse des Ich sind gesellschaftlich relevant, auf das Konto der Klassengesellschaft zu schreiben!

(25) Es gibt ein Kriterium, an dem sich zeigt, wie sich heute authentische von nichtauthentischer lnnerlichkeit unterscheidet; jede Verinnerlichung, jede veröffentlichte Erinnerung, die nicht die Erinnerung an Auschwitz festhält, die von Auschwitz als belanglos desavouiert wird, ist Flucht, Ausflucht; und ein Begriff des Fortschritts, der nicht eine Welt begreift, in der Auschwitz immer noch möglich ist, ist (in schlechtem Sinne) abstrakt.

Iring Fetscher:
Revolte der Lebenstriebe*
Marcuse im Frankfurter Römer

Herbert Marcuse sprach in seinem einleitenden Referat von „der Befriedigung materieller und kultureller Bedürfnisse für die Mehrheit der Bevölkerung — bei gleichzeitiger „Steuerung der Bedürfnisse“.

Diese Steuerung erfolgt auf eine doppelte Weise: einmal dadurch, daß die Arbeitenden in ihrer Arbeit ständig unbefriedigt bleiben (nur sehr partiell und unzulänglich durch ihre Arbeit Selbstbewußtsein und Zufriedenheit erfahren), und zum anderen dadurch, daß ihnen von einer allgegenwärtigen Werbung suggeriert wird, sie könnten durch den Kauf von Waren und Dienstleistungen (Reisen in die Ferne ...) sich das Glück „kaufen“, das sie in ihrem werktätigen Alltagsleben so bitter entbehren müssen.

Dieser Mechanismus baut also die Unlust bei der Arbeit, das Arbeitsleid selbst als ein wichtiges Förderungsmittel für den Absatz der Massenproduktion ein. Durch die „freie Wahi der Konsumgüter” wird der „Schein der Selbstbestimmung ... ermöglicht“, durch den die „das System reproduzierenden Bedürfnisse (systemimmanente Bedürfnisse)“ verinnerlicht werden (Marcuse).

Während die Produktivkräfte längst „überreif“ sind, halten eine ständig erneuerte Unzufriedenheit in der Arbeit (Entfremdung) und täuschende Glücksversprechen durch Warenangebote die Dynamik der industriezivilisation des Spätkapitalismus in Gang. Nur so kommt es auch zu jener Forderung nach immer weiter wachsender Bereitstellung von Energie, die schließlich ohne höchst riskante Nuklearkraftwerke oder umweltbelastende Steigerung der Kohlekraftwerke nicht erfüllt werden kann.

Als Ausweg aus diesem Dilemma nannte Herbert Marcuse: eine „Umwertung der Werte“, die im Namen der Forderung nach Emanzipation schon zu einer „anderen Konzeption von Technik“ selbst und zu einem anderen „technisch-wissenschaftlichen Apparat“ führen müßte, „zu anderen gesellschaftlichen Prioritäten der Forschung und zu einer anderen Größenordnung des Apparats“. „Nicht Abbau der Technik, sondern Umbau zur Versöhnung von Natur und Gesellschaft.“ Während Marcuse mit gedämpftem Optimismus jene „Revolte der Lebenstriebe“ apostrophiert und „eine radikale Transformation des Bewußtseins und der Triebstruktur der lndividuen“ annimmt, die zum Ausgangspunkt der Umwälzung werden könnte, sieht er durchaus mit Skepsis, wie vielfach die Politisierung gebrochen ist und „die Weigerung in der Innerlichkeit stecken bleibt“. Als abschreckendes Beispiel jener totalen Entpolitisierung und Privatisierung schwebt ihm unter anderem der Dichter Peter Handke vor.

die Tageszeitung 30. Mai 1979


Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)