Radiosendungen 2000
November
2000

Die Arbeit, der Wert, die Krise I

Am 18. Juli fand an der Berliner Humboldt-Universität eine Podiumsdiskussion unter dem Titel Was ist der Wert der Arbeit? statt. Die Wochenzeitung Jungle World hatte drei unterschiedliche Vertreter einer wert- und arbeitskritischen Marx-Interpretation eingeladen. Im Folgenden dokumentieren wir die gehaltenen Vorträge. Im zweiten Teil dieser Sendung werden wir die Diskussion wiedergeben.

Clemens Nachtmann, Redakteur der in Berlin erscheinenden, antideutschen und wertkritischen Zeitschrift Bahamas, moderierte die Veranstaltung, leitete zu Beginn in das Thema ein und stellte die Vortragenden am Podium vor:

Der traditionelle Marxismus trat auf als eine Philosophie der Arbeit, die glaubte, deren wahres Wesen — nämlich Vergesellschaftung — zur Entfaltung im Sozialismus kommen zu lassen. Das heißt also: Nicht die Abschaffung der Arbeit, sondern ihre Selbstbestätigung sollte das Ziel des Sozialismus sein. Das war die objektive Ideologie der Arbeiterbewegung, wie sie sich präsentierte in ihren sozialdemokratischen Gestalten und im aktivistischen Flügel der Sozialdemokratie — des Parteikommunismus — und wie er sich dann realisierte im Westen einerseits als etatistisch überformte Kapitalakkumulation, wie sie in den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg zur Regel wurde, und in den östlichen Staaten des Realsozialismus, der de facto ein Staatskapitalismus war. Dieser Staatskapitalismus und dessen Versuch, sozusagen die Quadratur des Kreises zu vollbringen, nämlich eine geplante, gemeinnützige Kapitalakkumulation zu garantieren, eine geplante Wertproduktion, eine bewußte Anwendung der Marktgesetze und wie die Parolen auch immer hießen, ist bekanntlich gescheitert. Und nach dem Scheitern des Sozialismus, nach dessen Untergang, wird, wie wir alle wissen und teilweise erfahren, nun teilweise der Sozialstaat demontiert. Das heißt also: Wir befinden uns in einer recht paradoxen Situation. Seit die vom Kapitalverhältnis konstituierte Welt sich wieder so aufführt, wie es früher die Marxisten — und es spielt hier keine Rolle, ob es Traditionsmarxisten oder kritische Marxisten waren — behauptet hatten, wäre eigentlich Grund genug, an die Marx’sche Theorie, an die Marx’sche Kritik wieder anzuknüpfen, aber genau in dieser Situation gibt es plötzlich keine Marxisten mehr. Wer früher, zur Zeit des sibirischen Sommers der Nachkriegsordnung, der 40 Jahre währte, Marxist war, der hatte sich gegenüber den Leuten, sobald er also „katholisch“ auftrat, immer gegen den unmittelbaren Augenschein zu wehren. Der Kapitalismus beanspruchte damals eine ideologische Formel, die man nach 1989 notwendigerweise nicht mehr hört, beanspruchte damals, die Lösung der sozialen Frage höchstselbst herbeigeführt zu haben. Es gab Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, alle möglichen sozialen Absicherungen, das Kapital erschien als ein Serviceunternehmen, das die Leute jährlich mit immer besseren und immer komfortableren Kühlschränken beglückt. Und heutzutage, wie gesagt, erweist sich das Kapitalverhältnis wieder als das objektive Zwangsverhältnis, als welches ein kritischer Marxismus es immer gekennzeichnet hatte, und die Dinge liegen eigentlich fast schon so offen auf der Hand, daß man sie kaum mehr interpretieren möchte. Aber statt einer radikalen Gesellschaftskritik, statt des Anspruchs, die als falsch erkannten Verhältnisse zu destruieren, also statt Destruktion, herrscht philosophische Dekonstruktion, also die Herrschaft der Postmoderne als des philosophischen Abdrucks der kapitalistischen Erscheinungswelt. Und dagegen wollen wir mit dieser Runde heute ein Kontra setzen.

Auf dem Podium sind, wie gesagt, drei Vertreter eines Marxismus, einer kritischen Tradition versammelt, die sich von diesem traditionellen Marxismus, dieser Philosophie der Arbeit, der von ihm geprägten Arbeitsontologie auf je unterschiedliche Weise verschrieben haben [gemeint wohl: unterscheiden bzw. sich der Kritik des genannten, traditionellen Marxismus verschrieben haben].

Beginnen wird Moishe Postone, Dozent an der University of Chicago. Moishe Postone ist in der bundesdeutschen Linken, in der Bundesrepublik, vor allem durch seinen Aufsatz Nationalsozialismus und Antisemitismus bekannt geworden — ein zunächst nahezu apokrypher Aufsatz, der ungefähr zehn Jahre nachdem er verfaßt wurde von der bundesdeutschen Linken (ich glaube nicht nur von ihr aber von ihr besonders) aufs herzlichste ignoriert wurde, in den letzten zehn Jahren aber eine breite Diskussion erfahren hat. Aber das ist natürlich nicht alles, was Moishe Postone in seinem Leben verfaßt hat. Es gibt, da möchte ich drauf verweisen, einen Aufsatz von 1974, den er zusammen mit Helmut Reinecke verfaßt hatte unter dem Titel Dialektik und Proletariat, abgedruckt in einem mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlichen [Jahrbuch Arbeiterbewegung: Faschismus und Kapitalismus>amazon>3596266106], wo eigentlich viele der Thesen [bereits enthalten sind], die er in seinem Ende der achziger Jahre bereits beendeten, oder weitgehend beendeten, Buch Time, Labor, and Social Dominationdann entfaltet hat — dieses Buch ist 1993 in den USA erschienen und eine deutsche Übersetzung [1] soll jetzt im kommenden Herbst im ça ira-Verlag erscheinen.

Als zweiter Vortrag[ender] des heutigen Abends [folgt] dann Ernst Lohoff von der Zeitschrift Krisis, ehemals Marxistische Kritik, aus Nürnberg. Das ist ein kleiner Zirkel von Leuten, die seit Mitte der achziger Jahre daran arbeiten, ebenfalls im Sinne einer nicht positiv verstandenen politischen Ökonomie, sondern im Sinne einer Kritik der politischen Ökonomie Marx auf der Höhe der Zeit zu reformulieren — insbesondere die krisentheoretische Dimension der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie wieder ins Zentrum zu rücken. Bekannt ist einem breiteren Publikum wahrscheinlich weniger die Zeitschrift Krisis als die Veröffentlichungen von Robert Kurz, also zum Beispiel der 1991 erschienene Kollaps der Modernisierungoder in neuerer Zeit das [Schwarzbuch Kapitalismus>amazon>3821804912].

Und als dritter und letzter Vortrag dann [der] von Joachim Bruhn: Joachim Bruhn ist Mitglied des ça ira-Verlages und Mitglied der ISF, der Inititiative Sozialistisches Forum — das ist ein unabhängiger Arbeitskreis von im südbadischen Winkel der Bundesrepublik, in Freiburg, ansässigen Linkskommunisten, die sich auf die Kritische Theorie beziehen und versuchen das, was Adorno, Horkheimer und Sohn-Rethel auf dem Gebiet der Erkenntniskritik geleistet haben, als konstitutiv auf die Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie zu beziehen, die nach Ansicht der ISF nur in einer Synopse von Kapital- und Staatskritik ihre Berechtigung hat.

Moishe Postone hielt seinen Vortrag auf Englisch — wir bringen die von Clemens Nachtmann verlesene, deutsche Kurzfassung:

Für die Linke ist die historische Wende der neunziger Jahre — Zusammenbruch der kommunistischen Staaten Osteuropas, rollback des Wohlfahrtsstaates, Entstehung des Neoliberalismus — eine Herausforderung. Einerseits muß man diesen Veränderungen inhaltlich begegnen, andererseits ist man mit der Vorhaltung konfrontiert, sie markierten das Ende des Marxismus und seiner Gesellschaftstheorie. Gleichzeitig stellt die erneut sich zeigende, ungebremste Dynamik des Kapitalismus auch poststrukturalistische Geschichtsansätze und Theorien der demokratischen Selbstbestimmung in Frage. Andererseits bestätigt die jüngere Geschichte die Bedeutung von historischer Dynamik und Strukturwandel, was zu einer Neukonzeption von Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie führen sollte. Um der aktuellen Entwicklung gerecht zu werden, kann diese jedoch nicht an die traditionelle, marxistische Kapitalkritik anschließen, die den Kapitalismus in erster Linie als Klassenverhältnis auf der Grundlage von Eigentumsverhältnissen vermittelt durch die Marktkräfte beschrieb und ihm einen Sozialismus entgegensetzte, der durch das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und Zentralplanung gekennzeichnet war. Dabei handelt es sich nur um die Vorstellung, unter Beibehaltung [der] und analog zur industriellen Pruduktionsweise Verteilungsgerechtigkeit erzielen zu können — ein Ansatz, der keine Basis für eine emanzipatorische, kritische Theorie darstellen kann und sich vom tatsächlichen Emanzipationsbedürfnis in den heutigen Industriestaaten weit entfernt. Nötig ist also eine Sozialtheorie, welche der historischen Dynamik seit etwa 1980 gerecht wird. Marxens Kritik der Politischen Ökonomie, wie sie ausformuliert erst in seinen Spätschriften, also im [Kapital>amazon>3320002627] [2] und in den [Grundrissen der Politischen Ökonomie>amazon>B0000BLCVC], vorliegt, stellt dafür eine sehr gute Basis dar. Zunächst muß man sich darüber im Klaren werden, und das ist ein zentraler Punkt, daß Marx’ Kategorien spezifisch für die kapitalistische Gesellschaftsordnung sind. Keine Theorie, auch nicht die von Marx, ist transhistorisch anwendbar und auch der Historische Materialismus des frühen Marx muß heute zumindest relativiert werden. Marx machte als Grundform des Gesellschaftsverhältnisses im Kapitalismus, als strukturierende und strukturierte Praxis, die Ware aus. Die Warenform des Gesellschaftsverhältnisses ist bei Marx durch die Arbeit gekennzeichnet, die in objektivierter Form auftritt und als konkrete Arbeit und abstrakte Arbeit einen Doppelcharakter hat. Konkret ist die allen Gesellschaftsformen eigene Interaktion der Menschen mit der Natur, abstrakt hingegen ist die dem Kapitalismus eigene Form des durch die Arbeit bestimmten Gesellschaftsverhältnisses. In seinem Spätewerk betrachtet Marx das durch die Arbeit vermittelte Gesellschaftsverhältnis nicht mehr als transhistorische Voraussetzung — vielmehr macht er dieses Gesellschaftsverhältnis als das Grundmerkmal der Moderne aus. Wenn die kapitalistische Arbeit aber historisch spezifisch ist, dann sind Ware und Kapital sowohl konkrete Arbeitsprodukte als auch objektivierte Formen gesellschaftlicher Vermittlung. Diese zweite Funktion haben sie in allen nicht-kapitalistischen Gesellschaften nicht. Das durch die Arbeit vermittelte Gesellschaftsverhältnis im Kapitalismus tritt quasi objektiv, formal auf und ist von dem Dualismus einer abstrakten, allgemeinen und andererseits einer konkreten, materiellen Dimension geprägt, die beide als „natürlich“, das heißt also nicht gesellschaftlich vermittelt, erscheinen. Das Selbe gilt auch für den Besitz — Wert. Das heißt also, die dominante Form des Besitzes im Kapitalismus bemißt sich allein in gesellschaftlicher Arbeitszeit, ist also durch ein Gesellschaftsverhältnis vermittelt und im Gegensatz zu „rein materiellem“ Besitz historisch spezifisch für den Kapitalismus. Wert ist eine selbstvermittelnde Form des Besitzes, er bemißt sich nach der für seine Produktion benötigten Arbeitszeit. Diese gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist keine rein deskriptive Kategorie, sondern sie bezeichnet eine Zeitnorm, welche den Produzierenden auferlegt wird. Darin manifestiert sich eine neue, und zwar abstrakte, Form der Herrschaft, welche die Menschen unpersönlichen, zunehmend rationalisierten, strukturellen Imperativen und Beschränkungen unterwirft, nämlich der Beherrschung der Menschen durch die Zeit. Diese von Marx im Kapital analysierte Herrschaftsform ist also als reine Klassenherrschaft nicht ausreichend beschrieben, weil man damit ihrem quasi objektiven, ortlosen und dnamischen Charakter nicht gerecht würde. Die historische Dynamik des Kapitalismus führt zu ständigen Transformationen — und zwar nicht nur des Produktionsprozesses, sondern auch der Gesellschaft als ganzer. Zur historischen Dynamik des Kapitalismus gehört aber auch, daß er sich selbst als Konstante des gesellschaftlichen Lebens immer wieder neu produziert. Soziale Vermittlung erfolgt durch Arbeit und menschliche Arbeit bleibt ein unverzichtbarer Teil des gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses. So ist es also kein Wunder, wenn der Kapitalismus bei all seiner Produktivität bisher weder allgemeinen Wohlstand noch deutliche Reduzierung der Arbeitszeit gebracht hat. Der Kapitalismus selbst verhindert die dafür nötige Neuorganisation des Gesellschaftslebens, für die er doch erst die Voraussetzungen geschaffen hat. Die Marxsche Mehrwert-Theorie wird von traditionellen Marxisten häufig auf die — zutreffende — Tatsache reduziert, daß der Mehrwert von der Arbeiterklasse geschaffen würde. Sie beinhaltet aber auch, daß zu den Kennzeichen des Kapitalismus nicht eine zunehmende Produktion von Waren, also von materiellem Besitz, gehört, sondern eine zunehmende Produktion von Wert, also an Besitz plus sozialer Vermittlung. Dies führt zu einer unkontrollierbaren Art des Wachstums, die unter anderem eine zunehmende Zerstörung der Natur zur Folge hat. Wer zwischen Besitz und Wert unterscheidet, kann den industriellen Produktionsprozeß auch nicht als rein technischen begreifen, der lediglich von den Kapitalisten für ihre eigenen Zwecke mißbraucht werde. Er muß vielmehr zu dem Schluß kommen, daß der Prozeß selbst im Wesentlichen kapitalistisch ist. Damit kommt man auch zu einem der zentralen Paradoxe des Kapitalismus: Während er nämlich einerseits seine technologische Entwicklung befördert, welche die Wertproduktion zunehmend unabhängig von menschlicher Arbeit macht, findet eine bedeutende Verkürzung der Arbeitszeit oder eine Verbesserung der Arbeitsbedigungen kaum statt. Anstelle dessen wird die Arbeit lediglich ungleichmäßiger verteilt. Die Struktur von Arbeit und Produktion im Kapitalismus kann also nicht nur mit technologischen Begriffen erfaßt werden, sondern muß auch in ihrer gesellschaftlichen Dimension gesehen werden: Wie der Verbrauch unterliegt sie der Wirkung von Ware und Kapital. Marx liefert kein lineares Entwicklungsschema, das zu einer Gesellschaft jenseits der existierenden Strukturen und der existierenden Organisation von Arbeit führen würde. Er sieht industrielle Produktion und das Proletariat auch nicht als Grundlagen einer künftigen Gesellschaft. Er argumentiert vielmehr dahingehend, daß sowohl die auf dem Proletariat basierenden Produktionsverhältnisse als auch das unkontrollierte Wachstum durch die Warenform vermittelt sind und daß Produktionsverhältnisse und Wachstum in einer Gesellschaft anders aussehen könnten, in welcher materieller Wohlstand, materieller Reichtum den Wert als dominante Form des Reichtums verdrängt hätte. Das hat übrigens auch zur Folge, daß auch antagonistische Klassengegensätze kapitalismus-spezifisch sind. Diese, in diesem abstract natürlich verkürzte, Reinterpretation von Marx geht weit über die traditionelle Kritik an den bürgerlichen Verteilungsverhältnissen — also jene Kritik, die sich unter Zugrundelegung eines transhistorischen Begriffs von Arbeit und Produktion alleine an der Verteilungsungerechtigkeit durch Zirkulation und Markt festgemacht hat — hinaus. Sie ist mehr, sie muß auch mehr beinhalten, als eine Kritik von Ausbeutung und ungleicher Verteilung von Reichtum und Macht. Sie analysiert die moderne Industriegesellschaft als kapitalistisch und den Kapitalismus als abstrakte Herrschaftsstruktur, als gekennzeichnet von einem zunehmenden Auseinanderfallen von individueller Arbeit, individueller Existenz und einem blinden Glauben an unkontrollierte Entwicklung. Sie sieht die Arbeiterklasse als Grundelement des Kapitalismus und nicht als Verkörperung seiner Negation. Implizit stellt sie ein Konzept dar, in dem der Sozialismus nicht mehr als Selbstverwirklichung von Arbeit und Industrieproduktion dient, sondern der Abschaffung des Proletariats und der auf ihm basierenden Produktionsform sowohl als auch des Systems abstrakter Verpflichtungen, welche die Arbeit als gesellschaftliches Vermittlungsverhältnis mit sich bringt. Sobald im Mittelpunkt der Kritik nicht mehr die ausschließliche Beschäftigung mit Markt und Privateigentum steht, wird der Weg frei für eine kritische Theorie der postliberalen Gesellschaft und womöglich auch der sogenannten real existiernden sozialistischen Staaten als, beide, fehlgeschlagene Verhältnisse der Kapitalakkumulation und nicht als gesellschaftliche Zustände, die — wie schlecht auch immer — den Kapitalismus historisch negieren.

Ernst Lohoff bezieht sich in seinem Beitrag direkt auf Moishe Postone und versucht, die Kritik am Traditionsmarxismus mit einer Krisentheorie zu ergänzen:

Moishe Postone hat in seinen Ausführungen jetzt und mehr noch in seinem Buch einen ganz fundamentalen Unterschied zwischen dem traditionellen Marxismus und der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie ausgemacht: Der Marxismus hat die bürgerliche Gesellschaft im Namen ihrer eigenen Formprinzipien kritisiert. Die Kritik der Politischen Ökonomie zielt dagegen gerade auf eine radikale Kritik dieser Formprinzipien. Der Marxismus wollte die kapitalistische Fabrikarbeit von den Ausbeutern reinigen, um sie unter sozialistischem Kommando im Wesentlichen unverändert weiterzuführen. Im Marx’schen Ansatz steht die ganze Organisation der Produktion zur Disposition. Der Marxismus träumte davon, an die Stelle des bürgerlichen Staates den Arbeiterstaat zu setzen. Marx ging es um die Aufhebung des Staates. Der Marxismus beschuldigte die Bourgeoisie beharrlich, sie habe die bürgerlichen Ideale von Fortschritt, von Vernunft und Gleichheit ihren Sonderinteressen geopfert — die sozialistische Revolution wurde dementsprechend eben auch als die endliche Verwirklichung dieser Ideale verstanden. Die Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie impliziert etwas Anderes, und zwar etwas ganz Anderes: nämlich die Notwendigkeit, die Ideale der bürgerlichen Revolution selber kritisch zu durchleuchten, sie als ideologische Formen der Wertvergesellschaftung zu begreifen und zu kritisieren. Wer mit Moishe Postone eine derart tiefe Kluft zwischen Marx’scher Theorie und marxistischer Diktion konstatiert, ist unweigerlich mit zwei Fragen, eigentlich, konfrontiert. Erstens: Warum ist die Marx’sche Theorie hundert Jahre lang gegen den Strich rezipiert worden? Zweitens: Wie konnte ausgerechnet Marx zum Namenspatron und theoretischen Stichwortgeber einer geistigen Strömung werden, die eigentlich quer zu seinem Ansatz liegt — wie ist die Verkehrung zu erklären? Der Kürze der Zeit wegen beschränke ich mich hier auf die erste Frage, also diese historische Einordnung. Eines ist ja klar, oder es sollte eigentlich klar sein: Wenn so eine beharrliche Fehlinterpretation passiert, wie sie eben der Marx’schen Theorie widerfahren ist, dann dürfte es sich nicht einfach um ein Problem der geistigen Beschränktheit der Rezipienten handeln, denen der notwendige geistige Horizont gefehlt hat — also es müssen mehr als subjektive Gründe sein und die historischen Rezeptionsbarrieren sind woanders zu suchen. Die ganze historische Konstellation, mit der es der Antikapitalismus bis tief in das 20. Jahrhundert hinein zu tun hatte, stand eben dieser Rezeption im Wege. Was soll das bedeuten? Allgemein formuliert ist meine Ausgangsthese recht einfach: Die Grenzen theoretischer Rezeption verweisen allemal auf praktische Grenzen. Die Kritik der Basiskategorien der Warengesellschaft lag jenseits der sozialen Konflikte und realen gesellschaftlichen Widersprüche, an denen sich die Arbeiterbewegung — aber eben auch noch ihre Nachfolger — abgearbeitet haben. Deshalb, wegen dieses Querliegens, blieb sie den marxistischen Vordenkern fremd. Was heißt das im Wesentlichen? Die Arbeiterbewegung trat in einer historischen Phase auf den Plan, wo noch so etwas wie Emanzipation auf dem Boden der warengesellschaftlichen Ordnung auf der Tagesordnung stand und möglich war — und dieser Umstand hat sie auch tief geprägt. Die herrschenden Klassen haben sich im 19. Jahrhundert, aber eben auch bis tief in das 20. Jahrhundert hinein, massiv dagegen gewehrt, den arbeitenden Massen einen gleichberechtigten Platz in der warengesellschaftlichen Ordnung zuzugestehen. Die große historische Leistung der Arbeiterbewegung bestand eben darin, diesen Widerstand zu brechen und auch den unterständischen Schichten den Weg freizukämpfen, eben in den Status des freien und gleichen Warensubjekts, des freien und gleichen Staatsbürgers aufzusteigen. Und eine Strömung, die aber eben den vorhandenen, immanenten Entwicklungsspielraum nutzt, die kann sich nicht kritisch auf die bürgerlichen Prinzipien beziehen, die sie für die eigene Klientel erobern will, sondern eben nur emphatisch, als die wirkliche Verwirklichung dieser Prinzipien. Das gilt natürlich in erster Linie für den positiven Bezug auf die Arbeit. So lange sich das System kapitalistischer Arbeitsvernutzung auf einem säkularen Erfolgskurs befunden hat, hatte die Arbeiterbewegung die Möglichkeit, die kollektive Lage der Arbeiter als Arbeiter, und das ist eben essentiell: als Arbeiter, nachhaltig zu verbessern. Wer dafür kämpft, für dieses Ziel, muß aber die Heiligkeit der Arbeit als das Pfund behandeln, mit dem es zu wuchern gilt und sich wuchern läßt. Das Hohelied der Arbeit begründet eben den eigenen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe: die Arbeiter als die Schöpfer aller Werte. Jede Problematisierung der Arbeitskategorie wäre dagegen schlicht und einfach kontraproduktiv gewesen für diese historische Konstellation, für diese historische Mission. Daß auf dem Boden der Arbeit noch Spielraum für emanzipative Bestrebungen war, ist aber nur ein Grund für die Entsorgung der Marx’schen Formkritik. Genau so wichtig ist etwas anderes: Auch die Verrücktheiten und Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise hatten empirisch noch nicht die Stufenleiter erreicht, die in der Kritik der Politischen Ökonomie logisch eigentlich schon angelegt ist und enthalten ist. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Kapitalistische Produktion ist Produktion um der Produktion willen — es ist völlig egal, was produziert wird, und es ist völlig egal, welche Folgeschäden die Verwandlung lebendiger Arbeit in tote Arbeit an Mensch, Natur und Gesellschaft anrichtet. Daß das Kapital keine stofflichen Gesichtspunkte kennt, sondern sich selber genügt, sein eigener Zweck, Selbstzweck ist und die Welt unter einer Lawine von Waren begräbt, liegt in seinem allgemeinen Begriff. Wirklich handgreiflich wird diese Gewalt der Wertabstraktion aber eben erst mit der Höherentwicklung der Produktivkräfte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es von einem emazipativen Standpunkt aus durchaus noch möglich, sich naiv positiv auf den erzeugten kapitalistischen Reichtum zu beziehen. Die Kritik ließ sich darauf reduzieren, daß zu wenige des Warenreichtums teilhaftig werden — und nicht auf den Inhalt und die Struktur dieses Reichtums selber [beziehen]. Und es macht eben historisch einen Unterschied, ob ein relativ unschuldiges Erzeugnis wie meinetwegen Textilien, die im 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle in der kapitalistischen Produktion inne hatten, oder eben das Automobil, wie im fordistischen Boom dann, mit seinen bekannten Implikationen, Folgeschäden und dem sozialen und ökologischen Zusammenhang. Eine ganz ähnliche Entwicklung läßt sich auch auf der Ebene der konkreten Arbeitsprozesse ausmachen. Die von Marx apostrophierte Reduktion menschlicher Tätigkeit auf die gegen ihren eigenen Inhalt gleichgültige „Verausgabung von Muskel, Nerv und Hirn“ hatte am Ende des 19. Jahrhunderts noch eine andere Bedeutung als sie im Laufe des 20. Jahrhunderts angenommen hat. So lange ein beträchtlicher Teil der gesellschaftlichen Produktion noch von handwerklichen Formen geprägt war oder in der Industrialisierung solche handwerkliche Formen sich reproduziert haben, erschien die Abstraktion als eine bloß äußerliche Unterwerfung. Die Tätigkeit selber, die Identifikation mit der jeweiligen Arbeit und ihrem Endprodukt, war davon nicht zwingend berührt. Es bedurfte eines langen, historischen Prozesses, um diese Konstellation aufzulösen und aufzubrechen. Marx hat in seiner Kritik der Politischen Ökonomie diesen Umschlag als gegeben und bereits vollzogen vorausgesetzt. Er behandelte ihn eben unter dem Stichwort des Übergangs von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital — und eben als bereits vollzogen. Die wirkliche Entwicklung hat sich gut hundert Jahre mehr Zeit gelassen. Die Marx’sche Formkritik ist untrennbar mit krisen- und zusammenbruchstheoretischen Annahmen verbunden. Die Kritik der gesellschaftlichen Basisbeziehung verweist auf die historische Unhaltbarkeit des darauf errichteten gesellschaftlichen Verhältnisses. Als objektiviertes Verhältnis ist es gleichzeitig ein Verhältnis, das sich selber ad absurdum führt. Marx sah im Ausbrennen der kapitalistischen Logik eine unmittelbar anstehende Perspektive. Er ging davon aus, daß das Kapital demnächst als seine eigene Schranke sich erweisen würde und in eine finale Krise stürzt. Die Wirklichkeit hat aber diese Prognose viel länger als Zunkunftsmusik behandelt, als sich Marx das je hätte vorstellen können. Der traditionelle Antikapitalismus hat eben nicht den Abstieg, sondern erst den Siegeszug der großen Wertverwertungsmaschine begleitet. So lange aber der Boden, auf dem sich alle Warensubjekte bewegen, stabil bleibt, rückt schwerlich die gesellschaftliche Basisform in das Blickfeld — Selbverständliches und Alltägliches muß erst zum Problem werden, um hinterfragbar zu werden. Das gilt auch für das Selbverständlichste dieser Gesellschaft, eben die Arbeit. Erst wenn sie einem historischen Auszehrungsprozeß unterliegt und für die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums zusehends überflüssig wird, erscheint es nicht mehr von vornherein als abwegig, sie überhaupt in Frage zu stellen. So lange diese diese Zwangsreduktion von gesellschaftlichem Reichtum auf Arbeitsverausgabung funktioniert, hat die Ehre der Arbeit ein sehr festes Fundament, auf dem sie ruht. Zusammenfassend und um zum Schluß zu kommen: Die Ausblendung der Formkritik im traditionellen Marxismus war alles andere als zufällig. Sie läßt sich eben aus der historischen Situation und den Bedürfnissen der praktischen Bewegung erklären. Eine solche Einordnung gibt — und das ist in gewisser Weise auch ihr clou — negativ indes bereits die Voraussetzungen an, unter denen dieser vergessene, formkritische Strang der Marx’schen Theorie für die Kapitalismuskritik aktuell werden kann. Und es gibt einiges was darauf hindeutet, daß davon heute die Rede sein kann. Die Arbeit steht nicht in einem antagonistischen Gegensatz zum Kapital, darauf hat Moishe Postone eben hingewiesen und insistiert, sie bildet vielmehr das Basisprinzip der kapitalistischen Gesellschaft. Angesichts der Härte der Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie ließ sich die grundlegende Identität von Arbeit und Kapital nur schwer und auch nur auf einer sehr hohen Abstraktionsstufe denken. Mittlerweile drängt die Wirklichkeit längst unübersehbar eben zu diesem Gedanken und es ist von daher auch an der Zeit, die theoretischen und praktischen Implikationen dieser Einsicht für eine antikapitalistische Perspektive ins Auge zu fassen und zu diskutieren.

Joachim Bruhn formuliert eine Kritik sowohl an Ernst Lohoffs als auch an Moishe Postones Vortrag:

Ich möchte zwei, drei Anmerkungen machen zu der Frage, ob es möglich und gar wünschbar ist, einen authentischen Marx zu rekonstruieren, oder ob die Rede einen Sinn hat, die Wirklichkeit habe heute Marx eingeholt, wie Lohoff sagte, oder ob man einfach so den Marx rekonzeptualisieren kann, indem man so, wie Postone das tut, bei der Kategorie der Ware ansetzt. Ich denke, daß das Werk von Marx einfach in sich selbst viel zu uneinheitlich und viel zu uneindeutig ist, als daß diese Konstruktion greifen könnte. Nicht nur ist es so, daß Marx zu 80 Prozent, mindestens, ein Sozialdemokrat von hohen Gnaden gewesen ist. Nicht nur ist es so, daß Marx im ersten Band des Kapitals, am Schluß dieses Buches, eigentlich das Erfurter Programm der SPD geschrieben hat. Nicht nur ist es so, daß Marx zeitlebens nicht verstanden hat, wie sehr ihn sein Genosse Engels in der Werttheorie mißverstanden hatte. Das alles könnte man aufzählen und das alles ist von dem Marxismus, von dem hier tabula rasa gemacht werden soll, zum Teil auch kritisiert worden. Ich erinnere nur an die Ausführungen von Adorno zu Materialismus in seinem Buch [Negative Dialektik>amazon>3518277138]. Das kann ich jetzt hier im Einzelnen nicht darlegen, da gibt es Diskussion. Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Uneindeutigkeiten im Marx’schen Werk selber vielleicht weder historisch bedingt sind noch durch die Person Marx bedingt sind, sondern durch die Natur der von Marx zu untersuchenden Sache selbst konstituiert werden, daß also an der Sache selbst, die Marx begreifen wollte, etwas dran ist, das sich einer vernünftigen Begreifbarkeit an sich selbst entzieht, daß also das, was gedacht werden soll — Vergesellschaftung durch Kapital — eine Struktur, eine Bewegungsform hat, eine Dynamik hat, die es ins Jenseits seiner eigenen Denkbarkeit setzt und daß Marxens Uneinheitlichkeit in der Frage, ob er nun eine Kritik geschrieben hat oder eine Theorie geschrieben hat (das weiß er ja selber nicht, deswegen gibt es keinen authentischen Marx), daß diese Uneindeutigkeit mit dem Gegenstand, der zu denken war, unmittelbar vermittelt ist. Ich finde, daß hier das eigentliche Problem liegt wenn wir heute versuchen, über Marx zu reden. Reden wir über die Rekonstruktion einer Theorie oder versuchen wir das, was der Begriff der Kritik seit Kant, seit Hegel, seit Marx sagt, wirklich als eine Praxis der Ideologiekritik zu rekonstruieren? Hier fällt nun zweierlei auf: Bei Moishe Postone gehen die Begriffe Analyse, Theorie, Kritik willkürlich durcheinander und sind auch gegeneinander austauschbar. Hört man ihm zu, so scheint die Sache doch an sich selbst ganz rational zu sein, scheint doch unser Begriffsvermögen, wenn wir uns nur anstrengen, doch aufs Verschärfte entgegenzukommen und es liegt nur an uns oder an der Reife der Zeit, wie Lohoff ganz in der Manier Karl Kautskys sagt, ob wir nun das heute ergreifen können. Ich glaube man muß Marx, wenn man von ihm heute etwas ernten möchte, anders auslesen. Ich kann das jetzt hier auch nicht entwickeln. Ich will nur ein Indiz geben, das Indiz nämlich, daß in den hundert Jahren Marx-Rezeption immer diejenigen Passagen, in denen Marx sein Scheitern vor dem Gegenstand auch offen ausdrückt, daß immer diese Metaphern, Wortspiele in der Interpretationsgeschichte übergangen worden sind, ignoriert worden sind oder sogar versucht worden ist, wie im Althusser-Marxismus, diese Formulierungen herauszutreiben. Krisis hat ja mit dem Wort vom „automatischen Subjekt“, Kapital Band I, Seite 169, mittlerweile eine regelrechte Industrie angefangen, hat aber immer sich geweigert, das, was an Sakndal in diesem Wort „automatisches Subjekt“ eigentlich drin liegt, wirklich zu reflektieren. Wenn Marx sagt, das Kapital sei „automatisches Subjekt“, sagt er, es ist eine Struktur, die in sich selbst subsistiert, eine Struktur, die sich aus Eigenem produziert und regeneriert, eine Struktur, die wir nur begreifen können, wenn wir in das Vokabular von Theologie und religiöser Metaphorik flüchten. Nicht umsonst hat Marx immer an den schwierigen Stellen eine solche theologisierende Metaphorik. Das kann ich auch nicht weiter ausführen — ich weise nur auf das Buch von Christoph Türcke Vermittlung als Gott[hin], wo diese theologischen Implikate der Marx’schen Ökonomiekritik entwickelt worden sind. Marx sagt also in bestimmten Stellen — keineswegs als eine eindeutige, durchgehaltene These: Der Gegenstand unserer Kritik, unsere eigene Gesellschaft und deren Bewegungsgeheimnis, bewegt sich so, als sei es quasi von göttlicher Struktur, es setzt seine eigenen Voraussetzungen, es schafft sich selbst. Wie kann ein Solches gedacht werden? Ein großes Problem, eine Denkweise zu finden, die dieses an sich Undenkbare nicht rationalisiert, nicht vorschnell dem auf Logik erpichten Verstand zubereitet, so eine Struktur zu finden, so eine Denkweise zu finden, die dieses objektive Skandalon des Gegenstandes auf eine nicht-verdinglichte Art und Weise abbildet. Und ich denke, daß Marx dieses Problem im Auge hatte, als er sein Buch eine „Kritik“ genannt hat. Kritik ist also nicht einfach nur die Bemängelung und Benörgelung von irgend etwas. Kritik ist nicht, wenn man sagt „es kost’ zu teuer“, sondern Kritik ist die geistige Abbildung eines an sich selbst undenkbaren Gegenstandes. Dieses gedacht zu haben, das ist es, was Adorno in seinem Werk Negative Dialektik versucht hat plausibel zu machen und was mir sowohl bei Postone wie auch erst recht bei der Krisis-Gruppe systematisch zu spät kommt. Wenn das nämlich zu spät kommt, dann kann man auch etwas anderes nicht denken, was für die Frage, was nun der Wert der Arbeit ist, zentral wichtig ist: das Verhältnis nämlich von Ware, abstrakter Arbeit, Geld, Wert. Da wird es dann immer sehr kryptisch und sehr merkwürdig. Also Postone schreibt einmal, die Arbeit konstituiert den Wert. Das bestreite ich. Es stimmt auch nicht, wie die Krisis-Gruppe sagt, daß die abstrakte Arbeit es ist, die mit dem Wert etwas anderes zu tun hätte als die reine Setzung der Wertgröße. Nein, Marx beginnt nicht mit der Grundkategorie der Ware als einer sowohl theoretischen als auch sinnlich-praktischen Struktur, sondern er beginnt im Kapital ausdrücklich mit dem Verhältnis von Ware und Geld, also mit der Selbstverdoppelung der Ware in Ware und Geld. Das ist das Spezifikum der Marx’schen Analyse: zu zeigen, wie das Abstrakte, das an der einzelnen Ware nur sichtbar ist und denkbar ist, wie dieses Abstrakte selber in eine sinnlich-dingliche Realität tritt. Das ist der zentrale Begriff, der Begriff der Realabstraktion. Dazu würde ich auch gerne Postone fragen: Wie sieht er den Zusammenhang von Erkenntniskritik, Kritikbegriff und Realabstraktion? Denn man kann nicht sagen, daß das Zentrale die Ware ist. Das Zentrale ist der Zusammenhang von Ware und Geld. Zum Schluß des Statements noch einmal zurück zu Marx: Es ist ja so, daß Marx über die Frage, wie das Verhältnis von Arbeit, Ware, Geld, Wert ist, selbst in seinem Spätwerk niemals zu einer eindeutigen Aussage fähig gewesen ist, sondern die Bestimmungen gehen im Kapital wüst und wild durcheinander. Erst dann, wenn man versucht, etwa mit dem Adorno-Freund Sohn-Rethel, dieses Buch auch erkenntniskritisch zu lesen, kann man etwas Ordnung in das Wirrwarr bringen und kann etwa diese berühmte Stelle [interpretieren], wo Marx seine eigene Methode kennzeichnet, wo er sagt, es ginge darum zu zeigen, warum dieser Inhalt jene Form annimmt — da sagt er „die Arbeit setzt sich als Wert“. Ja ist jetzt Marx doch der Arbeitsphilosoph? Er ist es natürlich. Die Aussage „die Arbeit setzt sich als Wert“ müßte sozusagen revidiert werden in den Satz „die Realabstraktion, die der Wert ist, reduziert die Arbeit, wenn sie eine gesellschaftlich gültige sein will, auf das reine Maß der abstrakten Zeit“. Also zusammenfassend zum Schluß: Mir scheint, daß man von Gesellschaftskritik, gar von Kapitalkritik, nur reden kann, wenn man Kapitalkritik zugleich betreibt als Kritik der Denkformen, in denen sich Kapital uns im Geiste darbietet. Marx ging im Kapital genau so vor: Das Kapital ist immer zugleich die Kritik der Weise, wie das Kapital gesellschaftlich gedacht werden muß. Es gibt keine Differenz von Kapitalkritik und Ideologiekritik — erst wenn der Zusammenhang von Erkenntnis und Gesellschaft gesetzt wird, kann man zu Aussagen über Gesellschaft kommen, die nicht mit diesem leicht metaphysischen touch behaftet sind von wegen „wir sind heute erst so weit, wie Marx damals kommen wollte“. Das sind alles Spekulationen. Die bringen nicht weiter, sondern was weiter bringen würde wäre eben, den Begriff der Kritik systematisch ernst zu nehmen.

Die Zeitschrift Krisis kann bei folgender Adresse bestellt werden: Horlemann-Verlag, Postfach 1307, 53583 Bad Honnef. Die Zeitschrift Bahamas ist zu bestellen bei Bahamas, Postfach 620628, 10796 Berlin. Veröffentlichungen der Initiative Sozialistisches Forum sind im ça ira-Verlag erschienen, der Ende Herbst auch die deutsche Übersetzung von Moishe Postones Buch Time, Labor, and Social Domination herausbringen wird: ça ira-Verlag, Postfach 273, 79098 Freiburg. Weitere Beiträge zu den diskutierten Themen finden Sie unter anderem auch in der Zeitschrift Streifzüge, zu bestellen beim Kritischen Kreis, Margaretenstraße 71-73/23, 1050 Wien.

Musik zu dieser Sendung: Mondstrahlen bei Tage nach Robert Musil, Klaviertrio von Clemens Nachtmann, gespielt vom Ensemble Mosaik. Gestaltung der Sendung: Stephan Grigat und Robert Zöchling.

nächster Teil: Die Arbeit, der Wert, die Krise II

[1[Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx>amazon>3924627584], Freiburg, 2003, ça ira

[2Das Kapital ist — mit den übrigen Marx-Engels-Werken — auch online verfügbar

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