FORVM, No. 241/242
Januar
1974

Die Armen zahlen den Reichen die Stipendien

Europas Schul- und Hochschulreform in der Sackgasse

Michael Huberman ist Verfasser einer offiziellen UNESCO-Studie, die mit ihrer ungeschminkten Kritik an der westlichen Schul- und Bildungsstrategie einen handfesten Skandal hervorgerufen hat. Sofort nach Veröffentlichung ließ der Generaldirektor der UNESCO, René Maheu, alle erreichbaren Kopien beschlagnahmen und vernichten. Der folgende Aufsatz, ein Auszug aus der Arbeit Hubermans, ist unter dem Titel ‚„Reflections on the democratization of secondary and higher education“ im „Times Educational Supplement“ August 1970 erschienen.

1 Lüge der Chancengleichheit

Wenn in der allgemeinen Deklaration der Menschenrechte unterschieden wird zwischen der Mittelschule („für alle zugänglich“) und der Hochschule („zugänglich für alle auf Grund ihres Verdienstes“), ist da der Begriff „Verdienst“ lediglich ein Kniff, um die bisherigen Praktiken der Auslese und Eliminierung zu verewigen? Wenn ja, muß dann die Deklaration nicht im Licht der heutigen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit umgeschrieben werden? Wenn nicht, wie können wir eine so elitäre Institution wie die Universität einer aktiven demokratischen Gesellschaft anpassen?

Oder, um die Sache von einer anderen Seite zu betrachten, ist es „demokratisch“, von dem Grundsatz auszugehen, daß die Grundschule obligat sein muß, wie es die Deklaration der Menschenrechte ebenfalls vorsieht? Praktisch, wenn schon nicht pädagogisch gesehen — wie gut lernen die Schüler, wenn sie gezwungen sind, einem fixen Lehrplan zu folgen, wenn die Schulbildung nicht nur jedem freisteht, sondern für jeden verpflichtend ist?

Die Forderung nach Demokratisierung und allgemeiner Zugänglichkeit der Bildung ist politisch unwiderstehlich, obwohl sie vom pädagogischen Standpunkt aus in vielen Fällen unzweckmäßig sein kann. Die meisten Unterrichtsministerien in Europa rechnen mit einem Ansteigen des Anteils der 19- bis 24-jährigen, die eine Hochschule besuchen, auf 10 bis 20 Prozent innerhalb der nächsten fünf Jahre. In Anbetracht der Überfüllung, des Personalmangels, der hohen Austrittsquote, des Mangels an spezialisierten Einrichtungen, der Unzufriedenheit mit den Lehrmethoden und Lehrplänen und den unzureichenden Mitteln in vielen Ländern könnte der Drang nach Demokratisierung zu einer Katastrophe führen. Doch die Aufnahme aus wirtschaftlichen Gründen dort einzuschränken, wo sie aus pädagogischen Gründen wünschenswert wäre, würde politischen Selbstmord bedeuten.

Die sechste Konferenz der Unterrichtsminister der OECD-Staaten im Mai 1969, die dem Thema „Gleiche Bildungschancen für alle“ gewidmet war, zeigte, daß die Minister zwar einmütig für eine Vermehrung der Schülerzahl und für eine Verbesserung des Unterrichts auf allen Schulstufen plädierten, aber sich nicht darüber einigen konnten, welche Reformen Vorrang haben sollten. Sollte angesichts der knappen Mittel und der Anforderungen anderer Ressorts die Mittelschule vor der Hochschule reformiert werden? Kann ein besserer Lernerfolg durch eine Verbesserung der Volksschule oder der Vorschulerziehung erzielt werden? Hat ein benachteiligtes Kind mehr Anspruch auf die knappen Erziehungsmittel als ein privilegiertes?

Was die Grund- und die Mittelschulen betrifft, wurde der Schüleransturm von den meisten Unterrichtsministerien erwartet. Der Engpaß bildete sich durch den Drang zu den Hochschulen. Besonders in Westeuropa ging die Expansion der Hochschulen viel langsamer und auf einer viel schmäleren Basis vor sich als die der Mittelschulen. Die Krise kam in jenen Hochschulsystemen, die sich am wenigsten um die Zukunft gekümmert hatten. In Großbritannien wurden seit Kriegsende 23 neue Hochschulen gegründet und die Austrittsrate niedrig gehalten. Auch in den Vereinigten Staaten, in Schweden und in der Sowjetunion blieb die Relation zwischen Studenten und Lehrern auf dem akzeptablen Stand von 12 zu 1. In Frankreich, Italien, Österreich und der Bundesrepublik jedoch wurden zwischen 1945 und 1965 insgesamt nur acht neue Universitäten errichtet, und in diesen Ländern haben die improvisierte Vergrößerung der bestehenden Hochschulen und der wachsende Zustrom von Mittelschulabsolventen eine ernste Krise hervorgerufen.

2 Die Ursachen der Krise

Das Fehlen einer klaren Abgrenzung zwischen Mittelschule und Hochschule hängt mit der traditionellen Vorstellung von einer akademischen Elite zusammen, die 5 bis 20 Prozent jedes Jahrgangs repräsentiert. Hier handelt es sich um ein europäisches Erbteil, das unter dem Kolonialismus an die Entwicklungsländer weitergegeben wurde und aus der absolutistischen, ja sogar aus der feudalen Vergangenheit stammt. Die amerikanische und osteuropäische Vorstellung einer Hochschulbildung für alle beschwört im Denken der meisten Hochschulbehörden das Schreckbild eines Massenunterrichts und einer Senkung des Standards herauf. Bildung für alle, so argumentiert man, heißt Bildung für niemand.

Man erinnert sich an die Geschichte und die Entwicklung der Mittelschule, die ebenfalls mit der Zeit allgemeiner zugänglich und demokratischer geworden ist. Auch hier wurde die „Sekundärbildung“ über den traditionellen selektiven, akademischen Schultyp hinaus erweitert und umfaßt nun mehrere „Richtungen“ und weniger theoretische Gegenstände. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Ein ehemals enges, elitäres Schulsystem, das sich erweitern und demokratisieren soll, kann nicht an den Modellen und Normen eines früheren Zeitalters, die zu anderen Zwecken geschaffen wurden, festhalten.

Die meisten hochentwickelten Länder müssen damit rechnen, daß bis zum Jahre 2000 vierzig oder mehr Prozent jedes Jahrgangs ein volles Hochschulstudium absolvieren werden. Schon heute springt der Unterschied in den Inskriptionsprozentsätzen zwischen westlichen und östlichen Universitäten ins Auge.

Die Argumente zugunsten einer strengen Selektion bei der Zulassung zum Hochschulstudium wurden eins nach dem anderen zu Fall gebracht. Jüngste Forschungen, vor allem in England und in Schweden, haben mit dem Vorurteil aufgeräumt, daß nur ein Bruchteil der Bevölkerung für ein Hochschulstudium ausreichend begabt sei. Tatsächlich beweist die wachsende Zahl der erfolgreichen Kandidaten aus jenen sozialen oder kulturellen Gruppen, die lange Zeit willkürlich von den Hochschulen ferngehalten wurden, daß den geistigen Fähigkeiten in keiner Gesellschaft Grenzen gesetzt sind.

Es scheint vielmehr, daß gerade die Verbindung von sozialer Ungleichheit und Unzulänglichkeit des Schulsystems der Hochschule beträchtliche „Fähigkeitsreserven“ verschlossen hat. Zu einer Zeit, da eine neue Welle von Erziehungspsychologen, inspiriert von Bruner und Inhelder, beweist, daß Kinder jedes Alters jeden beliebigen Gegenstand zu lernen vermögen, und da Volks- und Mittelschüler auf Gebieten arbeiten, die noch vor einigen Jahren Hochschülern vorbehalten waren, kann man nicht länger behaupten, daß sich der Wert des Wissens mit seiner Verbreitung vermindere.

Im Namen der Bildungsdemokratisierung stellen wir hier den Wert eines Ausleseverfahrens in Frage, das vorzeitig eliminiert und zugleich Änderungen im Lehrplan und im Prüfungssystem ablehnt, die neue Fähigkeiten ans Tageslicht bringen könnten. Wie der britische Soziologe Halsey sagt, ist ein ökonomischer und sozialer Entwicklungsprozeß ein Vorgang, der Fähigkeiten erzeugt.

Doch die dramatische Zunahme der Inskriptionen kann irreführend sein. Als Ergebnis einer zehnjährigen Untersuchung der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Mittelschulen in den OECD-Ländern wurde festgestellt, daß trotz stark gestiegener Schülerzahl der Prozentsatz der Kinder aus den unteren Schichten praktisch unverändert geblieben ist. In Holland zeigte sich sogar, daß der Anteil der Mittelschichten stärker gewachsen ist als jener der oberen und der unteren Schichten. Die Tendenz scheint dahin zu gehen, den Anteil der unteren Schichten zu begrenzen, bis die Ober- und die Mittelschichten den „Sättigungsgrad“, das heißt einen fast hundertprozentigen Mittelschulbesuch, erreicht haben.

Obwohl in den Ländern Osteuropas die Möglichkeiten, an eine Hochschule aufgenommen zu werden, größer sind als überall sonst, mit Ausnahme Nordamerikas, sind doch die Überreste vergangener Ungleichheit auch dort noch nicht völlig überwunden. Zwar sind fast 40 Prozent aller Hochschüler Mädchen, und mehr als 13 Prozent der Altersgruppe von 20 bis 24 sind an Hochschulen inskribiert, doch kommen mehr als die Hälfte der Studenten aus den Mittelschichten, die 20 bis 25 Prozent der berufstätigen Bevölkerung stellen.

3 Klassenbildung

Man hat sich viel Mühe gegeben, herauszufinden, welcher Faktor bei der Erleichterung oder Erschwerung des Zugangs zur Mittel- und zur Hochschule die größte Rolle spielt. Der Robbins-Bericht in Großbritannien, Huséns 26 Jahre umfassende Studie „Begabung, Chancen, Karriere“, die Arbeiten von Halsey und Janne unter den Auspizien der OECD und der UNESCO — sie alle gelangen zu der Schlußfolgerung, daß Beruf und Bildungsniveau des Vaters ausschlaggebend sind, weit mehr als die wirtschaftliche Lage der Familie.

Sowohl in entwickelten als auch in unterentwickelten Ländern tragen die ärmeren Bevölkerungsschichten einen unverhältnismäBig großen Teil der Bildungskosten, während die wohlhabenderen Schichten einen überproportionalen Anteil an der Nutznießung haben. In den meisten Ländern entfallen auf die oberen 10 Prozent der Bevölkerung schätzungsweise zehnmal soviel für Schulzwecke ausgegebene Mittel als auf die ärmsten 10 Prozent.

Ist es wirklich zu viel verlangt, daß der Staat auch jene jungen Menschen unterstützt, die weder den Wunsch noch die Möglichkeit haben, höhere Schulen zu besuchen? Warum subventioniert der Staat das Hochschulstudium, nicht aber die Berufslehre, unabhängige Fortbildungskurse, kleine kommunale Gewerbeschulen oder auch die Gründung kleiner Geschäfte durch Nichtstudenten? Im Namen der Chancengleichheit könnten jene jungen Menschen, die keine höheren Schulen besuchen, mit vollem Recht eine staatliche Unterstützung in der Höhe des Betrages verlangen, der für jeden Hochschüler aus öffentlichen Mitteln ausgegeben wird.

Macht die Schulbildung einen Unterschied? Diese Frage stellte der schwedische Pädagoge Torsten Husén, nachdem er die mathematischen Leistungen von Grund- und Mittelschülern untersucht hatte.

Ein Schulsystem, das auf die vorherrschenden kulturellen und sozialen Werte eines Teils der Bevölkerung ausgerichtet ist und andere Qualitätskriterien ausschließt, ist nicht geeignet, jungen Menschen aus anderen Schichten zu Lernerfolgen zu verhelfen. Wenn Erziehungsexperten in den Vereinigten Staaten feststellen, daß nur die Hälfte der farbigen Mittelschulabsolventen volle Hochschulreife haben, müssen wir uns fragen, wo der Fehler liegt.

Wie lange noch können speziell die Entwicklungsländer es sich leisten, ein System von Schulen und Hochschulen zu unterhalten, deren Unterrichtspraxis vom Leben isoliert und in Lehrbücher, Unterricht, Heimstudium und Prüfungen aufgeteilt ist? Je größer der Anteil des formalen Schulunterrichts an der Erziehung der jungen Menschen von sieben bis fünfzehn oder bis einundzwanzig Jahren, desto größer wird der Unterschied zwischen Schulleben und wirklichem Leben.

Führen wir diesen Gedanken einen Schritt weiter, kommen wir zu dem Schluß, daß wirkliches Lernen dann stattfindet, wenn der Student sich in den Kontext einfügt, in dem geistige Tätigkeit vor sich geht — wenn er überzeugt ist, daß der vermittelte Lehrstoff in Relation zu praktischen Erfahrungen steht. Das heißt, die Hochschulen dürfen nicht nur das lehren, was von praktischem Wert ist (sonst werden sie zu bloßen Ausbildungsstätten), sondern müssen auch geistige Tugenden als solche aufrechterhalten. Nur zu oft legen unsere Schulen einen doppelten Maßstab an und unterscheiden akademische Wahrheit von empirischer Wahrheit.

Die Vorstellung, daß Menschen nur dadurch Bildung erhalten, daß sie Schulen besuchen, ist längst überholt. Dies ist im wesentlichen ein Überbleibsel aus primitiven, statischen Gesellschaftsformen, wo manche oder alle Menschen nach und nach lernen dürfen, aber nur in dem Maß, als sie älter werden und tiefer in die Stammesgeheimnisse eingeweiht werden. Wissen wird dann zu etwas Heiligem: Es wird entweiht, wenn es in die falschen Hände gerät.

Wir scheinen einen Geschichtszyklus durchzumachen, analog zu dem Verfall der mittelalterlichen Universität, mit ihrer Konzentration auf Methodik und ihrer Vernachlässigung der gesellschaftlichen Entwicklung.

Der Hauptgrund, weshalb Unterricht mit Erziehung verwechselt wird, ist das Zeugnissystem. Die Zeugnisse der Schulabgänger sind weniger wert als die der Weiterstudierenden, und wir haben gesehen, daß weder die Austrittsrate noch der Anteil der Kinder aus ärmeren Familien, die jene höheren Zeugnisse bekommen, sich in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich zum Besseren verändert haben; das gilt für die meisten Länder. Die Behörden anerkennen keinen Unterricht und kein Lernen außerhalb der Schulen und Hochschulen. Offiziell wird der Bildungsgrad an der Dauer des Studiums in öffentlichen höheren Schulen gemessen.

In der ganzen Welt gibt es ein böses Bildungssyndrom: Wer an der Mittel- und der Hochschule am Anfang Erfolg hat, muß weiter Erfolg haben. Er hat es bei den Prüfungen leichter. Er erhält ein besseres Zeugnis, das ihn zu einem besseren Posten berechtigt, ohne daß er seine Eignung noch besonders beweisen muß. Hinter dem Grundsatz der Chancengleichheit in der Schule steht eine geheime Maschinerie sozialer und pädagogischer Ungleichheit.

Wir brauchen eine Methode, ein Wissen, das außerhalb der Schulinstitutionen erworben worden ist, zu bestätigen und zu werten. Sehr viele Menschen, zumeist aus den unteren Einkommensschichten, haben bereits gelernt, was sie brauchen, um einen Beruf auszuüben, dürfen dies aber nicht, nur weil ihnen Zeugnisse fehlen. Und der Unternehmer ist weniger an einem guten Schüler interessiert als an dem Wissen und Können eines Angestellten.

4 Das Ende der formalen Bildung

Nehmen wir an, das Reifezeugnis wird abgeschafft, so daß man nicht mehr unterscheiden kann, wer die Mittelschule abgeschlossen hat und wer nicht. Jene Schüler, die ihr Studium abschließen konnten, hätten davon wohl keinen Vorteil, aber der Unterschied wäre nicht so offenkundig, besonders für jene Stellen, die gewohnt sind, Angestellte auf Grund ihres Reifezeugnisses aufzunehmen. Es wäre dann Sache des Arbeitgebers, die Fähigkeiten der Kandidaten zu beurteilen, statt sich auf das Urteil der Schule zu verlassen. Die Arbeitgeber wären dann gezwungen, Kandidaten auf Grund ihres potentiellen oder erwiesenen Verdienstes aufzunehmen, und der Vorsprung der Kinder aus privilegierten Familien würde sich verringern.

Die Industrieländer erweitern den Zugang zur höheren Schulbildung sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus sozialen und politischen Gründen. Solche Überlegungen sind für Entwicklungsländer unwiderstehlich. Die Annahme, eine Bevölkerung mit Schulbildung würde die wirtschaftlichen und sozialen Probleme lösen und die Ausgaben für das Schulwesen würden in dieser Form Gewinn abwerfen, ist eine gefährliche Extrapolation der Verhältnisse in den westlichen Ländern.

Elementarbildung für die Massen ist vielleicht ökonomisch weniger wirksam als die Spezialausbildung einer kleinen Führungselite. Wir wissen, daß das Wirtschaftsniveau eines Landes hauptsächlich durch die Wissenschaftler, Ingenieure und hochqualifizierten Techniker bestimmt wird. Aber wir wissen auch, daß es solche Fachleute ohne ein gutentwickeltes Schulsystem nicht geben kann.

In diesem Zwiespalt machen internationale Körperschaften und Schulexperten meist den Fehler, den Fassungsraum der Schulen vergrößern zu wollen, statt radikale Änderungen im Inhalt und in der Organisationsform anzustreben. Der „Fortschritt“ besteht dann im Wachsen der Schülerzahl und im Steigen des Anteils der Schüler, die eine gewisse Anzahl von Schuljahren absolviert haben.

Wenn größere Investitionen im Schulwesen keine Umstrukturierung der Wirtschaft und keinen Ausgleich der sozialen Unterschiede bewirken und wenn sie zur Folge haben, daß mehr Studenten ausscheiden als ihr Diplom erwerben, dann ist die Zielsetzung höherer Schülerzahlen unrealistisch.

Schulplaner und Ökonomen werden darin übereinstimmen, daß das Hauptproblem hier die Qualität des Schulsystems ist. Sie unterscheiden zwischen „qualitativen“ oder „Leistungszielen“ und „quantitativen“ Zielen. Statt bloß den Prozentanteil der jeweiligen Altersgruppe in den formalen Schultypen zu beachten, suchen sie nach „Indikatoren menschlicher Fähigkeiten“.

Inwieweit haben diese Indizes etwas mit der „Qualität“ der Schulbildung zu tun? Wir haben gesehen, daß viele von denen, die nach drei oder vier Klassen Grundschule austreten, faktisch Analphabeten sind, und daß die Fortsetzung des Schulbesuchs mehr vom sozialen und wirtschaftlichen Milieu abhängt als von irgendeinem anderen Faktor.

Der Prozentanteil der Unterrichtszeit, der auf die einzelnen Gegenstände entfällt, und die Aufteilung der Schüler auf die verschiedenen Studienrichtungen sagen sehr wenig darüber aus, was innerhalb der Institution vor sich geht: also über das Unterrichtsniveau und über den Inhalt der Lehrpläne. Schließlich können entwickelte Länder mit einem hohen Prozentsatz von Absolventen einer Altersgruppe und von Mädchen unter den Studenten aufwarten, doch erweisen sich die Absolventen dann im Beruf als schwach, und die Mädchen heiraten nach der Promotion oder werden in „Frauenberufe“ gedrängt, die mit ihrem Bildungsgang wenig oder gar nichts zu tun haben.

Die Schlußfolgerungen sind leicht zu ziehen: Sowohl in den entwickelten als auch in den unterentwickelten Ländern übersteigen die Anforderungen des formalen Schulunterrichts die vorhandenen Mittel. Betrachtet man jedoch die anderen Anforderungen (Investitionen in Landwirtschaft und Industrie, in Straßen- und Wohnungsbau, Gesundheitswesen, Sozialversicherung usw.), dann wird klar, daß zwischen ihnen keine Rivalität zu bestehen braucht. Wie Guy Hunter in einer Studie über Tansania festgestellt hat, liegt das Problem darin, daß der Aufwand für das Schulwesen größer ist als der für andere Ausbildungseinrichtungen, die unmittelbar auf Produktionssteigerung und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausgerichtet sind.

5 Revolution der Universität

Ob jemand etwas gelernt hat, erkennen wir daran, daß er sich nachher anders verhält als vorher, daß er eben mehr kann. Der wirkliche Prüfstein für den Wert eines Ensembles von Lehrern, Büchern, Schulgebäuden, Einrichtungen, Verwaltungsstrukturen und Lehrplänen besteht darin, ob die Menschen befähigt sind, auf Grund des Gelernten auch zu handeln. Das gilt gleichermaßen für landwirtschaftliche Fachkenntnisse wie für den Aktivismus derjenigen Studenten, welche soziale und politische Reformen anstreben.

Erforderlich ist also eine Anpassung der Lehrpläne und Unterrichtsmethoden an Milieu und Neigungen jener Bevölkerungsgruppen, die früher von der höheren Schulbildung ausgeschlossen waren und nun erstmals Zugang zu ihr haben. Die Lehrer benachteiligter Kinder wissen dies seit mehr als zweihundert Jahren; sie haben erkannt, daß Lernweisen und Lerntempo sehr unterschiedlich sind und daß, wenn ein Kind nicht lernt, die Lehrer ihre eigenen Methoden und Lehrpläne überprüfen müssen.

Besonders in den Entwicklungsländern wird dies zu einer Vermehrung der Arbeitsproduktivität und des Arbeitspotentials führen und nicht größere Investitionen, sondern eine Neu- und Umverteilung erfordern. In hochindustrialisierten Ländern ist dies vielleicht der einzige Weg, einer komplizierten technologischen Umwelt gerecht zu werden, wo die Menschen auf Aufgaben vorbereitet werden müssen, die heute noch nicht genau definiert werden können. Der praktische Prüfstein für den Wert der formalen Schulbildung in einer Industriegesellschaft ist die Frage, ob sie die Schüler auf Anforderungen vorbereitet, die erst in fünfzehn bis zwanzig Jahren gegeben sein werden.

Unter diesen Umständen kann keine Hochschule, insbesondere keine naturwissenschaftliche Fakultät, davon ausgehen, daß die Leistung eines Studenten an der Aneignung eines fixen „Wissensstoffes“ gemessen werden kann.

Was geschieht also, wenn die Wissensmaterie nicht mehr vorgegeben ist, wenn die Gelehrsamkeit hinter der Pädagogik zurücktritt, für die nur wenige Universitätsprofessoren ausgebildet wurden; wenn das, was der Student hört, wichtiger wird als das, was der Professor sagt; wenn obligate Anwesenheit ersetzt wird durch freies Kommen und Gehen; wenn Bildungsmöglichkeiten außerhalb der Schulinstitutionen vorhanden sind und wenn die Studenten lernen, sich selbst zu unterrichten?

Die Antwort hängt davon ab, ob man der Meinung ist, daß die Hochschule eine „demokratische Lerngemeinschaft“ werden, oder ob man die Auffassung vertritt, daß sie eine administrative Körperschaft bleiben soll. Wenn die Studenten eine Vertretung in den Leitungsgremien verlangen, gehen sie oft davon aus, daß die Universität aus verschiedenen Interessengruppen besteht, deren jede ihren spezifischen Bereich, spezifische Rechte und spezifische Verantwortlichkeiten hat. Die Professoren neigen dazu, Forderungen nach formaler Demokratie oder Gleichheit als ungeeignet für eine Lehranstalt abzulehnen.

Es ist etwas Absurdes an den Diskussionen darüber, ob Hochschüler für „Partizipation“ reif genug seien oder nicht, wenn gleichzeitig Sechsjährige in britischen Volksschulen ihre eigenen Lehrpläne für mehrere Jahre aufstellen und fortschrittliche Mittelschulen demokratische Räte, in denen die Schülervertreter gleiches Stimmrecht haben, als einen wesentlichen Bestandteil der Erziehung akzeptieren.

Im 15. Jahrhundert war der Ausweg aus einer ähnlichen Krise die spontane Entstehung von Forschungs- und Lehrzentren außerhalb der Universitäten. Vielleicht ist die wachsende Zahl von „Gegenuniversitäten“, „freien Universitäten“ und „Versuchsuniversitäten“ in unserem Jahrzehnt Teil eines ähnlichen Zyklus.

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