FORVM, No. 91/92
Juli
1961

Die beiden Seelen des André Gide

Als sich vor kurzem der Todestag André Gides zum zehnten Mal jährte, befragte eine Pariser Literaturzeitschrift zehn junge französische Autoren, was ihnen Gide bedeute. Alle zehn antworteten: „Nichts!“. Und begründeten das so ausführlich, daß man daraus erst recht ersah, wie sehr André Gide sie immer noch erregte und in Atem hielt ... Für die Deutung der komplexen Persönlichkeit Gides sind die nachstehenden Betrachtungen ebenso reizvoll wie aufschlußreich. Sie entstammen dem soeben bei Albin Michel (Paris) erschienenen Essayband „Comme toi-même“ von Denis de Rougemont und werden hier erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Bald nach dem Tod André Gides schrieb ich für eine ihm gewidmete Gedenkadresse ein paar Seiten, deren persönlicher Tonfall mir damals dem Anlaß angemessen schien. Ich werde sie jetzt ohne Änderungen wiedergeben — nicht etwa, weil ihr Verdienst an sich so groß wäre, sondern weil mich im Gegenteil ihre Unzulänglichkeit interessiert, eine gewisse Verschwommenheit des Blickpunkts, gewisse Irrtümer in der Anleuchtung, und die Möglichkeit, sie durch eine besser informierte Betrachtungsweise richtigzustellen. Es handelt sich darum, ob man durch genauere Kenntnis dessen, was ich den „Mythos“ eines Menschen nenne, auch zu einer genaueren Kenntnis des betreffenden Menschen selbst gelangen kann — eines Menschen, der unter unsern Augen gelebt, uns viel von sich erzählt und uns Geständnisse gemacht hat, die wir zu verstehen glaubten — der sich aber in uns vielleicht ebenso getäuscht hat wie wir in ihm.

Gide und ich kannten einander nur flüchtig, als ich an jenem Junitag 1939 in der Halle eines Hauses der Rue Sébastien-Bottin stand, um zu telephonieren. Ich sehe ihn die Stiegen herunterkommen. Während ich spreche, folge ich ihm mit den Augen. Er bleibt stehen. Er scheint auf mich zu warten. Ich lege den Hörer auf. Wir gehen zusammen hinaus, setzen uns auf eine Bank am Boulevard St. Germain. Die Autos fahren dicht an uns vorbei. In den Lärm hinein artikuliert Gide: „Wo wohnen Sie jetzt?“ Ich antworte mit lauter Stimme, daß ich das nicht wisse; aus dem Hause von Charles DuBos, der aus Amerika zurückkomme, müsse ich ausziehen, und am Telephon hätte ich soeben erfahren, daß eine mir versprochene Wohnung nicht mehr frei sei. „Suchen Sie ein Studio?“ fragt Gide (aber ich höre ihn wirklich sehr schlecht). „Ja, genau das brauche ich.“ Er sieht erstaunt drein, dann belustigt, dann scheint er etwas zu murmeln. Plötzlich steht er auf: „Also los, gehen wir es besichtigen!“ Erst da begriff ich, daß er gesagt hatte: „Ich habe ein Studio ...“

Sehr früh am nächsten Morgen finde ich mich mit meiner Frau bei ihm ein. Das Studio ist groß und freundlich, eine schöne Stiege führt zu einer breiten Galerie. Durch die Polstertüre der Bibliothek, in der er arbeitet, erscheint Gide im grauen Schlafrock. Sein Körper wirkt ein wenig schwer und eckig. Das edle Gesicht, das dem eines tibetanischen Mönches gleicht, zeigt ein kleines, liebenswürdiges Lächeln. Es ist sehr heiß. Gide zieht aus den Taschen seines Schlafrocks zwei Flaschen Bier hervor und bietet uns zu trinken an. In der Mitte des Raumes hängt ein Trapez. Gide stützt sich mit beiden Händen darauf, schaukelt, betrachtet dabei unsere Koffer. „Alles hat sich so plötzlich geregelt“, sagt er, „daß es fast schon beunruhigend ist. Man könnte an Vorsehung glauben ... Aber was wird man dazu sagen, wenn man erfährt, daß Ihr hier wohnt?“ Und er wiederholt mit einem fragenden Lächeln: „Was wird man dazu sagen?“ Ich hüte mich, etwas zu antworten. Gide lacht auf: „Man wird sagen, daß es eine protestantische Verschwörung ist.“

Das hatte etwas für sich. Jeden Morgen gegen elf Uhr öffnete er die Polstertüre, kündigte durch ein sonores „Hallo, hallo“ seinen Eintritt an und bat mich, für „einige Augenblicke“ zu ihm zu kommen. Und jedesmal lenkte er das Gespräch sogleich auf religiöse oder theologische Themen, als hätte er mir nur zu diesem Zweck seine Gastfreundschaft gewährt.

Seine heftigste Abneigung gilt dem heiligen Paulus und der bloßen Idee der Orthodoxie. Er bestreitet entschieden, daß protestantische Orthodoxie einen Sinn habe. Protestant sein bedeutet für ihn: in Opposition sein (was ja der allgemeinen französischen Auffassung entspricht). Der fruchtbare Zwang, den er einstmals für die Kunst gefordert hatte, die „dogmatische Kritik“ der großen Epochen, seien nichts weiter als Lügen, wenn es um die spirituelle Ordnung gehe. „Also halten Sie sich an den liberalen Protestantismus des XIX. Jahrhunderts?“ fragte ich. „Ja, ungefähr. Ich teile den Standpunkt des Pastors Roberty.“

Im übrigen wird er ideologischer Debatten bald überdrüssig. Gedanken, die ihn ursprünglich durch ihre Formulierung bestochen haben, verwirft er. Oft spricht er mit lebhafter Bewunderung über die „Variations“ von Bossuet. Kierkegaard lehnt er ab; er findet ihn „zu langatmig“.

So gibt er ungescheut seine eigenen Grenzen preis — und die Besonderheiten seiner Denkmethodik.

Über ein einziges unserer Gespräche habe ich Notizen gemacht. Es fand am 20. Juni 1939 statt. Ich hatte den Eindruck, daß Gide an diesem Tag alle Vorsicht außer Acht ließ, daß er Bekenntnis ablegte und Dinge aussprach, die er nie wieder aussprechen würde.

Das Gespräch betraf mein Buch „L’Amour et l’Occident“, das er damals gerade las [1] und von dem er zu meiner großen Überraschung behauptete, darin eine Erklärung für „die Verirrungen seiner Jugend“ gefunden zu haben. In langsamen, mühsamen Sätzen, von Pausen und Atemholen unterbrochen, begann er „das Drama seines Lebens“ zu erzählen.

Als junger Mensch, leidenschaftlich und zugleich puritanisch, hatte er die Liebe von der Lust zu trennen versucht. Er glaubte, die „heterosexuelle Liebe“ sei desto reiner, je weniger fleischlich sie sei. [2] „So habe ich mich total verrannt“, wiederholte er mehrmals und betont das letzte Wort. Was ihn bei vielen Frauen frappiert habe, sei ihre Art, „sich dem männlichen Begehren zu verweigern“, Verheiratete Frauen hätten ihm anvertraut, „daß sie den Geschlechtstrieb ihrer Ehemänner für etwas Krankhaftes hielten — immer wieder fängt das von vorne an, sagten sie“. Er schüttelt den Kopf, findet das höchst sonderbar, und hat dabei ein maliziöses Blitzen in den Augenwinkeln. Dann folgen einige Sätze, die offenkundig dem widersprechen, was er vorher gesagt hatte: „Ich habe zu lang in dem irrigen Glauben gelebt, daß die Frauen den körperlichen Kontakt nicht brauchen, jedenfalls nicht in dem Maße wie wir ... Helas! ich habe mich getäuscht ... Ich war dumm genug, ihnen zu glauben ... Und die Folgen ...“ Sein Gesicht nahm einen angstvoll verzerrten Ausdruck an: „Ich spreche sehr offen zu Ihnen. Ich erzähle Ihnen Dinge, die eine große Rolle in meinem Leben gespielt haben ...“ Und plötzlich, nach einer Stille: „So habe ich damals — ich spreche von meinem ersten Aufenthalt in Afrika — aus einem fürchterlichen Irrtum den falschen Weg eingeschlagen.“

Er hustet, klagt, daß er zuviel raucht, und daß er nicht imstande ist, sich zu beherrschen.

In den folgenden Tagen gibt er mir bündelweise die Korrekturabzüge seines „Journal“, das gerade in Druck geht und über das ich in der „Nouvelle Revue Française“ schreiben werde. Hartnäckig — wie nur er es sein kann — weist er darauf hin, was er weggelassen hat: alles, was die intime Beziehung zu seiner Frau betrifft: „Das einzige Wesen, das ich wirklich geliebt habe.“ Alle diese Stellen waren gestrichen. Man wird sie später einmal lesen. Er hat sie in zwei graue Schulhefte abgeschrieben.

Eines Abends teilt er mir mit, daß er für ein paar Tage verschwinden werde, aber sein Studio bleibe für mich geöffnet; ich könne ruhig von seinen Büchern Gebrauch machen.

Natürlich dringe ich gleich am nächsten Morgen bei ihm ein. Überzüge bedecken die Möbel, ein altes, linnenes Tuch liegt über dem großen Schreibtisch. Auf dem Tuch, sehr deutlich sichtbar, ein dickes graues Schulheft. Ich habe die ersten Zeilen gelesen und das Heft rasch wieder geschlossen. Schamhaftigkeit — oder Abneigung, in die Falle zu gehen? Wahrscheinlich beides.

Nach dem Krieg habe ich ihn noch oft wiedergesehen, an verschiedenen Orten, in der Nähe von Lausanne, in Neuchâtel, in Bern. Aber ich bewahre keine Erinnerung an irgendwelche Gespräche, die das Bild, das man von ihm hat, im geringsten verändern würden. Wir sprachen über Stil, über Redewendungen, manchmal über Literatur. (Er begeisterte sich nur noch für Werke, zu denen er selbst sich am allerwenigsten befähigt fühlte, etwa für die eines Marcel Aymé, eines Simenon.) Während eines Frühstücks in Bern wollte er plötzlich meine Meinung über Strindberg wissen. Ich gab ihm eine ziemlich unbestimmte Antwort und wunderte mich über seine Frage.

Acht Tage später erhielt er den Nobelpreis.

Eines Abends bei Richard Heyd in Neuchâtel spielten wir „cadavre exquis“: einer schreibt drei Fragen auf, ein andrer gleichzeitig drei Antworten, dann wird das Ganze vorgelesen. Meine letzte Frage lautete: „Was ist Stil?“ Seine Tochter Cathérine las ihre letzte Antwort: „L’originalité du Bipède“. (So nannte man Gide in diesem Kreis.) Gide räusperte sich, stellte fest, daß das Spiel einen zu persönlichen Charakter bekäme, und schlug vor, „Gegebene Endreime“ (bout-rimes) zu spielen. „Darin brilliere ich“, sagte er.

Nur bei wenigen Menschen habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Religion in ihrem Leben ein permanentes Problem sei. Bei Gide war sie es.

Gide hatte wenig religiösen Instinkt, und noch weniger Neigung zur Metaphysik. Er beschäftigte sich lieber mit dem, was er für wichtig hielt, als mit dem, was die anderen für tief hielten. Einen so amusischen Menschen wie ihn hat es seit Montaigne nicht mehr gegeben. All das mag seine Einstellung zum Christentum — und zu den Mysterien des Christentums — erklären.

Zu wenig religiöser Instinkt bei einem Manne, für den Christentum, Kirche und Evangelium ständige Anlässe der leidenschaftlichsten Betrachtung waren? Das Paradox ist augenfällig. Man vergesse nicht, auf welchem Weg Gide zum Christentum gelangt ist. Die Lektüre der Bibel, seine Liebe zum biblischen Stil; die landläufige Verwirrung, die damals (und nicht nur damals) bei den jungen Bürgersöhnen über die sexuellen und geistigen Tabus herrschte; die Konversion einiger seiner Freunde; schließlich die Frömmigkeit seiner Frau: man versteht immerhin, warum ihm die Religion zum Problem geworden ist.

Was ihn wirklich beschäftigte und quälte, war aber nicht die religiöse Problematik, sondern die moralische; nicht das Heil, sondern die Gerechtigkeit; weder die reine Erkenntnis noch das Mysterium, sondern das Urteil des Lebens. Reduzierte er Religion zu Moral? Ich glaube eher, daß die Moral der Schauplatz seines eigentlichen Lebensdramas war und daß er auf diesem Umweg an die Religion herankam. Christ sein, oder Christ werden, konnte für ihn nur Heiligkeit bedeuten, nicht die Annahme des Mysteriums oder die Zugehörigkeit zu einem Glaubensbekenntnis. Glauben zu haben, ohne heilig zu sein, erschien ihm als Schwindel. Heiligkeit ohne Glauben hätte er gelten lassen. Mehr als das: er hat sie ausdrücklich gewünscht. Aber kann es einen Heiligen geben, der keinen Glauben hat? Nicht Christ noch Muselmann, nicht Mystik noch Mysterium? Ein Flachkopf mit ein paar ethischen Vorurteilen? Nun, das hätte mit der Persönlichkeit André Gides nichts mehr zu tun. Er fühlte sich von der Welt des Christentums angezogen, auch wenn er sich ihren tiefsten Dimensionen verschloß.

Gide suchte das Richtige und hielt es für das Wahre. Er konnte an der Logik eines Kirchentextes Genüge finden, am ethischen Gehalt. Das ist eine sehr protestantische Neigung, oder einfach die Kehrseite einer strengen Nüchternheit. Ich bewunderte Gides Bibelkenntnisse, aber der Gebrauch, den er davon machte, enttäuschte mich. Wo Claudel seine Symbole mit Volldampf durcheinanderwirbelt, wo Valéry sich höflich für unzuständig erklärt, brachte Gide Einwendungen vor, zog Schlüsse, geriet in Erregung ... Wenige Schriftsteller, auch christliche, haben eine ähnliche Liebe zum Evangelium gezeigt, wie Gide es gerade in jenen Jahren tat, da er an der Existenz Gottes zweifelte.

Aber er glaubte an den Menschen. Individualist aus christlicher Synthese, Häretiker unter Häretikern, immer auf Andersartigkeit bedacht, aber auch darauf, sie zu legitimieren —: man konnte nicht abendländischer sein. Und nicht weiter entfernt von jeglicher Mystik, sei es die der traditionellen Religionen, der Gestirne, der kosmischen Ordnung, oder der fatalen Kollektivgesetze irgendeiner Partei.

Ich weiß nicht, ob die Art, wie Gide sich mit dem Problem der Religion auseinandergesetzt hat, schlecht oder gut ist. Ich halte weder Glauben für eine Tugend, noch Ungläubigkeit für ein Zeichen von Mut. Es bleibt jedem unbenommen, über Tugend und Laster nach den landläufigen Gesetzen zu urteilen. Aber der Glaube und das Heil des Einzelnen haben nichts mit Wohlanständigkeit zu tun und fallen nicht in die Kategorie der Verdienste. „Der Herr allein kennt die Seinen“, sagt die Schrift. Wenn man Christ ist, soll man das glauben und soll dem Ungläubigen das Recht des Besserwissens lassen.

Wenn es etwas gibt, was Gide total abgelehnt hat, so ist es gerade der Totalitarismus, der eine logische Weiterentwicklung des Parteigeistes darstellt, auch in der Religion. Vielleicht wird einmal derjenige als der wahre Gläubige gelten, der zu sagen wagt: „Ich glaube nicht!“ Denn es gibt keinen echten Glauben ohne echte Zweifel, so wie es kein Licht ohne Schatten gibt.

Ich will nicht behaupten, daß Gide ein Glaubender war. Aber er bleibt ein exemplarischer Zweifler.

[1„Sie werden mich für einen Besessenen halten“, sagte er lachend, „aber ich kann nicht umhin zu glauben, daß Ihre Troubadours zum großen Teil homosexuell waren.“ Ich antwortete ihm, daß das für einige von ihnen tatsächlich zutraf.

[21960 lese ich in seinem Buch „Et nunc manet in te“, S. 27: „Ich konnte übrigens sehr wohl beweisen, daß ich einer Leidenschaft fähig war (ich meine: einer zeugenden) — unter der Bedingung, daß nichts Intellektuelles und nichts Sentimentales sich einmischte.“

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