Wurzelwerk, Wurzelwerk 25
November
1983

„Die Gefahr in unserer Welt ist die Partialdimension“

Wurzelwerk sprach mit Prof. Dr. Erwin Ringel, Vorstand des Psychosomatischen Instituts am AKH in Wien. Das Gespräch führte Robert Weninger.

„mit vorsichtiger Selbsteinschätzung einer der prominentesten Selbstmordverhüter der Welt“
Wurzelwerk: Herr Professor Ringel, ich freue mich sehr, daß das Wurzelwerk die Ehre hat, so schnell mit Ihnen ein Interview zu bekommen; wir sind es von einigen Politikern nicht gewohnt.

Ich möchte zunächst einmal fragen, die Statistik belegt Jahr für Jahr, daß Österreich — pro Kopf der Bevölkerung gerechnet — eine der höchsten Selbstmordraten im sogenannten freien Westen aufzuweisen hat, wir haben gleichzeitig eine der höchsten Sterblichkeitsraten bei Krebs. Nun weiß man, daß Krebs über weite Strecken eine psychosomatisch bedingte Krankheit ist. Woran, glauben Sie, liegen all diese Phänomene?

Prof. Ringel: Es besteht in Österreich eine sehr starke Selbstschädigungstendenz. Das spricht dafür, daß hier sehr viele Menschen in der Kindheit neurotisiert werden, die besondere Neurotisierung ist, glaube ich, ein Kennzeichen dieses Landes und der nächste Punkt ist dann, daß diese neurotisch verbitterten Menschen keine Chance bekommen, die Aggressionen, die in der Neurose entstehen, die Verbitterung über die Frustrierung durch die Eltern in irgendeiner Weise nach außen abzureagieren. Ich glaube persönlich, daß hier eben auch die Sprache eine ganz entscheidende Rolle spielt, denn unsere Sprache ist formelhaft, nichtssagend. Der Talleyrand hat einmal gesagt, aus der diplomatischen Sicht, Worte sind dazu da, Gedanken zu verbergen, was für einen Diplomaten ja verständlich ist, man könnte sogar sagen, die Sprache dient dazu, die Gefühle zu verstecken, es ist eine spanische Hofzeremoniellsprache, nach wie vor, und das, was wirklich in seinem Inneren ist, das läßt er nicht heraus, weil er Angst hat, teils weil er es nicht gelernt hat, teils weil er sagt, der andere will das sowieso nicht hören. Also: es sind eine Fülle von Faktoren, die das hervorrufen und auf diesen Selbstmord hingehen. Ich möchte aber doch noch zu dieser Frage in einem Punkt antworten, man müßte jetzt natürlich fragen, haben wir neben diesen zwei Faktoren, die ich Ihnen jetzt genannt habe, haben wir auch eine todeszentrierte staatliche Form? In der Monarchie waren wir ein Land, das den Untergang gesucht hat, in der Zeit von 1918—1938 waren wir ein Land, das wir gar nicht wollten. Wir haben Selbstmord begangen schon mit dem ersten Satz unserer Verfassung: „Deutsch-Österreich ist ein Teil der Deutschen Republik“. Das war der erste Satz unserer Verfassung. Heute bekennt sich der Österreicher zu seinem Land, die staatliche Todeszentriertheit ist weg, aber die Todeszentriertheit, die ich vorher beschrieben habe, im Konflikt zwischen Alten und Jungen und der Dominanz der Alten mit dieser Starrheit, die ist noch da.

Wir sind junge Leute, die nicht unbedingt nur immer nach den Wurzeln des Bösen suchen, sondern konkret und konstruktiv versuchen, positiv zu verändern. Nun gibt es bestimmt nicht nur in Österreich das Phänomen, daß spätestens vor 15 Jahren sich deutlich zeigte, daß dieser Planet im Begriff ist, sich selbst zu ersticken, in einer Art Wegwerfgesellschaft sich aufzulösen bzw. sämtliche Lebensgrundlagen systematisch zu vernichten. Dann gab es die vielzitierte und bewährte 68-er Bewegung, deren Relikte wiederum seit geraumer Zeit, seit mindestens zwei, drei Jahren versuchen, nun den politischen Weg zu gehen und zwar nicht so, wie es in den 70-er Jahren propagiert wurde, die Institutionen zu durchwandern oder zu unterwandern, sondern neue politische Gruppierungen zu bilden. Es ist ein Faktum, daß derartige Gruppierungen, so sie nicht von der extremen Rechten kommen, extrem scheel betrachtet werden, öffentlich und von den Verwaltern und Gesetzgebern, daß ihnen Fußangeln gelegt werden, daß sie auf vielfältige Art und Weise diskriminiert werden. Auch die Medien spielen hier eine relativ obszöne Rolle. Glauben Sie nicht, daß man ein grundsätzlich anderes Verständnis für diese Anliegen, für diese Leute und für diese Bewegung von staats wegen sozusagen installieren müßte, um all diese Probleme, diese Sprachlosigkeit, Sprachverborgenheit zu bewältigen?

Ich beantworte diese Frage mit einem klaren Ja und verweise auf das, was ich schon früher gesagt habe. Es geht nicht nur darum, diese neuen Bewegungen, welcher Art auch immer, zuzulassen, das würde ich mit größtem Nachdruck sagen. Davon würde ich rechtsextreme Kreise absolut ausnehmen ...

Aber gerade hier ist aber die Toleranz am größten ...

Gegenüber den Rechtsextremen, selbstverständlich, das ist ganz klar, das hängt damit zusammen, daß bis zum heutigen Tage von Österreich die Zeit zwischen 1938 bis 1945 nicht verarbeitet worden ist. Die „Unfähigkeit zu trauern“ des Mitscherlich gilt auch für Österreich, ganz besonders. Wir haben noch nicht einbekannt, wie wir uns damals, wie sich dieses Land und die Einwohner damals benommen haben, und wir bilden uns immer noch ein, die ersten Opfer Hitlers gewesen zu sein — nicht wahr und in der großen Mehrzahl hat aber dieses Land begeistert an der Seite Hitlers gefochten. Das wirkt sich also heute noch diesbezüglich aus. Ich wollte aber sagen, daß ich gerade vorhin gesagt habe, diese Kräfte der Jugend sind absolut zu fördern, ob man jetzt mit ihnen einzeln übereinstimmt oder nicht, ist völlig gleichgültig. Was gelernt werden muß, ist das, was Friedrich Heer das „Gespräch der Feinde“ genannt hat, gelernt muß werden, daß man miteinander zu sprechen anfängt und versteht den anderen zuzuhören und nicht einander mit Emotionen zu beleidigen und zu kränken, sondern auf die Argumente des anderen einzugehen.

Herr Professor Ringel, wir vertreten die Theorie, daß der Faschismus in einem jeden von uns eigentlich drinnen steckt, denn wir alle kommen aus der Natur, und gerade in der Natur dominiert ein Prinzip, das der Selektion, und das entspricht durchaus den Intentionen angewandter Faschismen. Wir sind jedoch der Meinung, daß man diese Faschismen jeder für sich und dann in seiner Umgebung aufarbeiten müßte, und daß man sie nicht sozusagen wegschreiben oder wegbeschwören kann. Jetzt zeigt sich z.B. auf einem Gebiet sehr deutlich, daß das schon sehr existent ist; es hat vor vier, fünf Jahrzehnten die Juden u.a. als schwarze Schafe gegeben, es gibt seit geraumer Zeit offensichtlich Haschischkonsumenten, Drogenkonsumenten im allgemeinen als schwarze Schafe. Die Gerichtsurteile werden immer schärfer, die Strafen werden höher. Unter einem Justizminister Dr. Broda galt zumindest das Prinzip „heilen statt strafen“, nunmehr scheint sich das Prinzip „strafen statt vorbeugen“ installieren zu wollen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der österreichischen Justizpolitik im speziellen auf dem Gebiet der Drogen und im allgemeinen?

Ja bitte, mit Nachdruck möchte ich bestätigen, daß die Möglichkeit zum Faschismus in jedem einzelnen von uns drinnen ist, daher von jedem einzelnen sehr sorgfältig beobachtet werden muß, jeder einzelne sich und seine nähere Umgebung damit konfrontieren muß. Für mich sind die Drogensüchtigen eine besondere Form des Aussteigens in unserer Zeit, wir haben kein Recht, das den Leuten vorzuwerfen, sondern wir müssen viel eher sagen, welchen Beitrag haben wir dazu geleistet, daß sie diesen Weg ins Abseits oder ins „magische Theater“ gehen, wie das der Hermann Hesse im Steppenwolf ausdrückt, und ich möchte daher auch mit größtem Nachdruck sagen, daß dieses Problem mit der Bestrafung niemals zu lösen ist; sicher, mit den Dealern muß man größte Vorsicht walten lassen, aber auch vom Dealer her ist das Problem nicht zu lösen. Man kann nicht sagen, der Dealer ist an allem Schuld. Schuld ist, daß Menschen heranwachsen, die für diese Versuchung anfällig sind. Und dort liegt das wahre Problem, hier müssen wir erziehen, hier müssen wir vorbeugen, hier müssen wir therapieren, von der Bestrafung dieser Menschen halte ich gar nichts, bin also der Auffassung, das habe ich auch in mehreren Arbeiten festgehalten, daß wir hier den Weg des Verständnisses gehen müssen, und nicht den des Feindes.

Eine abschließende Frage. Das Wurzelwerk hat in den ersten Ausgaben des Jahres 1983 das Tagebuch eines Doppelselbstmordes abgedruckt, in dem zwei junge Menschen im Drogenmilieu, um das ganze einmal ein bißchen abzugrenzen, zwei junge Menschen auf 60 Seiten exemplarisch beschrieben haben, warum sie sich umzubringen gedenken, womit sie nicht einverstanden sind, und sie taten es dann schließlich auch, sie haben auf diesen 60 Seiten permanent betont, daß es sich nicht um Selbstmord, sondern um Freitod handelt, und daß jeder Mensch das Recht haben müßte, diesen Freitod zu wählen. Ist das so, und glauben Sie, daß gerade unsere heutige Gesellschaft, unsere Wirtschaftsordnung, unsere politische Ordnung eine derartige Prädisposition, eine Bereitschaft zum Freitod begünstigt?

Ich bin mit vorsichtiger Selbsteinschätzung einer der prominentesten Selbstmordverhüter der Welt. Ich will aber gar nicht bestreiten, daß der Mensch grundsätzlich ein Recht auf Selbstmord hat, er hat ein Recht, Hand an sich zu legen, man kann ihm dieses Recht grundsätzlich nicht abstreiten. Aber wenn man die Umstände sieht, unter denen sich die meisten Menschen umbringen, dann sind sie entweder aus dem eigenen Inneren heraus, aus ihrer seelischen Entwicklung oder aus dem Äußeren heraus, nämlich durch die Gesellschaft in eine solche ausweglose Situation gebracht, oder fühlen sich in eine solche ausweglose Situation gebracht, daß sie sozusagen keinen anderen Ausweg mehr sehen als zu sterben. Sie wollen ja eigentlich nicht sterben, sondern sie wollen nur unter diesen Umständen nicht weiterleben, das scheint mir also ein wichtiges Problem zu sein und ich würde sagen, wenn junge Menschen schon diesen Weg gehen, dann finde ich das ganz besonders tragisch. Und meine persönliche Meinung ist eben die, daß wir in diesen Fällen doppelt ansetzen müssen. Wir müssen uns einerseits dieser bedrohten Persönlichkeiten annehmen, es kann aber nicht genügen, daß wir nur um sie ringen, das sollen wir, das möchte ich mit Nachdruck sagen, einen Süchtigen therapieren, einen Selbstmordgefährdeten therapieren, das ist nichts Unmenschliches, und das ärgert mich manchmal, daß das heute schon sozusagen als Unmenschlichkeit dargestellt wird. Das ist sehr menschlich und ist richtig, den Bedrohten die Hand reichen, wie es Zuckmayer aufgeschrieben hat: „Kommt mit, sagte der Hahn, etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden“.’ Nicht diese Todesverherrlichung heute scheint mir bedenklich. Wir haben die Pflicht, diesen Menschen beizustehen, ihnen zu helfen in der Notsituation, aber, und jetzt kommt etwas Wichtiges, ich komme jetzt auf einen Begriff des Horst Eberhard Richter, die Partialdimension. Schauen Sie, die Gefahr in unserer Welt ist die Partialdimension, ich bin nur partiell kompetent und zuständig, ich erzeuge die Atombombe, was der andere damit tut, geht mich nichts an, ja ich mache dies und jenes, aber was der andere damit macht, interessiert mich nicht, ich bin dafür nicht zuständig. Ich behandle einen Neurotiker, damit er gesund wird, ob die Gesellschaft ihn aber neurotisiert, interessiert mich nicht. Ich möchte also hier in diesem Sinne zu einer Überwindung der Partialdimension kommen. Diejenigen, die sagen, ihr seid ja Verbrecher, daß ihr diese Menschen therapiert, weil ihr therapiert sie ja nur zu diesem Zweck, daß sie sich an eine unmenschliche Gesellschaft kuschend anpassen, das ist nicht richtig. Aber umgekehrt haben wir die Pflicht, nicht nur zu therapieren, sondern jeder auf seinem Gebiet, wo er eben in der Gesellschaft steht, politisch tätig zu werden, um die Gesellschaft zu verbessern. Das ist, möchte ich sagen, die große Arbeit. Ich will also sagen, keine Einseitigkeit, nicht sagen, nur therapieren, aber um die Gesellschaft kümmere ich mich nicht, aber auch nicht sagen, nur die Gesellschaft ist wichtig, und für den Einzelnen soll es gar keine Therapie geben, denn wenn die Gesellschaft geändert ist, dann braucht er die Therapie nicht. Verstehen Sie, was ich meine, denn das würde ja die Verantwortung auch des Einzelnen aufheben, und auf diese Verantwortung des Einzelnen möchte ich hinweisen, die bleibt erhalten, die kann nicht in der Gesellschaft untergehen, denn dann haben wir das Kollektiv, wie wir es beim Hitler gehabt haben: Führer befiehl, wir folgen. Wir müssen jeder Einzelne selber denken, der Psychotherapeut, der Patient, in diesen beiden Dimensionen, darum fordere ich auch alle meine Patienten hier auf, wenn sie die Therapie hier gehabt haben, sage ich: „begnügt euch nicht damit, daß ihr jetzt diese Therapie gehabt habt, sondern geht hinaus und kämpft dafür, daß andere sie auch bekommen können, und daß immer mehr sie bekommen können“. Das würde also meine Bitte sein.

Wir danken herzlich für das Gespräch.
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