FORVM, No. 445-447
März
1991

Die Geheimnisse von Gorbatschows „Charme“

Anatolij Korjagin ist Psychiater, stammt aus Kansk/Krasnojarsk, wurde 1981 wegen Protests gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie zu 9 Jahren Straflager und 5 Jahren Verbannung verurteilt; nach Haft in Perm/Ural, Tschistopol/Tartarei, Kiew, Swerdlowsk und Charkow auf westliche Proteste freigelassen, ging er 1987 in die Schweiz. Seine Ehrenmitgliedschaft bei der Internationalen Psychiatrievereinigung legte er zurück, als diese die USSR-Psychiater wieder aufnahm. Die nachstehende Meinung des Ost-West-Dissidenten wollten „Zeit“ wie „Weltwoche“ lieber nicht publizieren — wir schon.

Heute ist an allen Ecken und Enden der Welt Wehgeschrei zu hören, das uns das Chaos, und zwar offenbar auf dem ganzen Erdball, prophezeit, „... wenn Gorbatschow geht“, „... wenn die Sowjetunion auseinanderfällt!“ — Es schreien alle und überall, vom ehemaligen sowjetischen Dissidenten und KGB-Funktionär bis zum letzten Clochard in der Pariser Metro, aber am lautesten von allen schreien Gorbatschow selbst und seine gleichrangigen Partner Bush, Kohl und die andern, zusammen mit ihrer Mannschaft.

In diesem Chaosgeschrei geht die feste und ruhige Stimme der baltischen Länder unter, die sagen: „Verlaßt uns, Besetzer, wir wollen als eigene Staaten leben, wie früher.“ Aus irgendeinem Grunde haben sie keine Angst vor dem Chaos, ja nicht einmal vor einer erneuten Blockade. Und deshalb wurden sie an der letzten Pariser Konferenz von sämtlichen Helsinki-Friedensstiftern, die bisher ihre Einverleibung durch die UdSSR nicht anerkannt hatten, nach der Laune des sowjetischen Nobel-Friedensstifters, der diese Einverleibung im Gegenteil „gesetzlich“ (!) findet, aus dem Saal gejagt, nachdem sie sich erdreistet hatten, die Integrität des Sowjetimperiums anzutasten. Auf einmal haben heute alle die drei Völker unrecht, wenn sie nicht länger besetzt sein wollen. Ihnen, deren Freiheit 1940 mit Panzern niedergewalzt worden war, gibt man heute die Empfehlung, „den Gesetzen Rechnung zu tragen“, welche die Eindringlinge für sie schrieben. Gesamthaft, einträchtig, einhellig. Selbst Havel, der die Wirkungskraft der bolschewistischen Gesetze am eigenen Leib erfahren hat, riet den Litauern einst, „die Verfassung zu berücksichtigen“, Verblüffende Einigkeit!

Jedem nüchtern Überlegenden muß doch der Gedanke kommen: Sieht denn wirklich keiner von ihnen, daß das Sowjetmonstrum auch unter Gorbatschow auseinanderfällt und endgültig auseinanderfällt, und daß Gorbatschow selbst sich dabei ausnimmt wie der „Krüppel bei der Feuersbrunst“ im Sprichwort, der ohne Sinn und Verstand herumschreit und den anderen zwischen die Beine gerät? In der Tat — sind denn alle dermaßen gepackt von der Angst vor der nahenden Apokalypse?

Das Ziel der Politik verrät nicht immer ihre Gründe. Bemühen wir uns, einmal alles objektiv und möglichst unvoreingenommen zu betrachten.

Es scheint, am meisten Grund, sich vor dem Chaos zu fürchten, hat das bis heute im Land herrschende System, das hinter Gorbatschow steht. Es braucht gar kein Chaos — jede beliebige Explosion im Land wird es endgültig hinwegfegen. Wie geruhsam und einfach hatten es doch die früheren kommunistischen Führer, die ihren Sowjetsklaven die Leistungsnormen des „Gemeinnutzens“ in Stück, Kubik, Tonnen, Kilometern oder, sagen wir, in Stunden Radio-Falschsendungen zumessen konnten. Besonders in den Konzentrationslagern. Wie leicht war es, anhand der Anzahl Sklavenhände den Ertrag und den Aufwand für die Existenz ihrer Besitzer zu errechnen. Die ganze Mühe bestand darin, die Bruttoproduktion zu steigern und am Futter zu sparen. Aber dann diese verfluchte wissenschaftlich-technische Revolution! Die Qualität verdrängte die Quantität, der zur Arbeit anspornende Imperativ „dawaj, dawaj!“ („hopp, hopp!“) wandelte sich in „denk nach! erschaff etwas!“ Und sobald die physischen Produktionseinheiten in die Abhängigkeit nicht steuerbarer und schwer zu messender geistiger, schöpferischer Stimuli gerieten, weigerte sich der Sklave, zum Nutzen des Herren und Meisters um ein kärgliches Brot zu arbeiten.

Und der Gang der Wirtschaftsmaschine geriet ins Stocken, die Mittel der sowjetischen Produktion begannen abzusterben. Wohl oder übel mußte an irgendeine Umgestaltung, eine „Perestrojka“, gedacht werden. Und man fand eine bolschewistisch geniale Lösung: es wurde vorgeschlagen, zur bisherigen Kombination aus zwei Fingern: Herr — Sklave noch einen hinzuzufügen. Das ergab: Herr — Pächter — Sklave. Herr aller Mobilien und Immobilien bliebe selbstverständlich wie eh und je der Klan der Nomenklatura-Parasiten. Und wer wird denn der Pächter? Doch der, welcher auf die vom Herrn diktierten Pachtbedingungen eingeht, die erschöpfte und verseuchte Erde in blühende Gärten und Felder zu verwandeln, die zerfallenden Gebäude und die zu nichts nutze Technik in rentable Produktion.

Da die Hoffnung, den vom Bolschewismus in den eigenen Landsleuten abgetöteten schöpferischen Genius des Unternehmertums wieder zu beleben, illusorisch blieb, wurde beschlossen, zu dieser Kombination noch das westliche Kapital herbeizuziehen. Es galt, dieses ebenfalls als Pächter und Auftragnehmer ins Land zu locken, damit es unter Verwendung seiner modernen Technologie und Organisation der Produktion das Maximum an Profit aus der von den Bolschewiken in Besitz genommene Erde und dem, was darin liegt, herauspressen würde, und zwar mit Hilfe von Arbeitskräften, deren Preis gerade noch annehmbare Kost und ein armseliges Angebot an primitivem Wohnkomfort wäre. Natürlich war nicht vorgesehen, alles in Pacht zu geben, sondern nur das, was die staatlichen Kornkammern rasch auffüllen könnte: Land und Massenbedarfsartikel. Der mutmaßliche Gewinnanteil aus diesem Pacht-Business müßte dafür genügen, die Macht und das Luxusleben der Lenker der Geschicke zu gewährleisten und die Hungerexistenz des sowjetischen „Gestalters der Geschichte“, des Volks, wenigstens auf einem beständigen Niveau zu erhalten.

Man hoffte, dieser Plan eines Formenwechsels des Parasitismus würde noch erfolgreicher funktionieren, wenn man ihn mit einigen Dekorationen aus dem Bereitschaftssortiment von Attributen der Demokratie ausstattete. In der Tat, warum auch nicht spielen, wenn man sämtliche Trümpfe in der Hand hat? Also, lassen wir die Leute sich mit Schreien ein wenig den Rachen putzen. Sollen sie doch alle, im Verein mit den Dissidenten und KGB-Leuten, laut (und am besten im Chor) „unsere gemeinsame Vergangenheit“ verfluchen. Wir nennen das dann einfach „Glasnost“ oder, je nachdem, auch „Reue“. Und dann lassen wir sie auch ein wenig „Wahlen“ spielen. Was verstehen sie schon davon, oder was gar vermögen sie schon damit? Alle die Schreihälse und Klageweiber, die sie unter der Aufsicht unseres wachsamen Auges wählen, sind ja doch wie der Schwan, der Krebs und der Hecht oder sonst noch irgendwer in der Fabel, die jeder in seiner Richtung ziehen und darum nicht vom Fleck kommen. Wir ziehen sie dann schon, und zwar zu den „Konstruktivisten“, nach unserem Programm. Von den eigenen aber, da ziehen wir die, die etwas mehr Verstand haben, dorthin, wo jeder hinpaßt, und erst noch verbuchen wir die ganze Prozedur bei unseren propagandistischen Aktiven. Und dann geben wir den Unsrigen die Erlaubnis, „nach drüben“ zu reisen. Was macht es schließlich aus, wo man ihnen gestattet, sich auszusprechen, wenn man ihnen den Knebel schon einmal aus dem Mund genommen hat? Aber die Hauptsache: die „Dortigen“ sollen hierher kommen. Sollen sie nur Währung bringen — wir werden schon Mittel und Wege finden, sie auszusaugen. Sie müssen nur verstehen: Ausreise und Einreise sind frei, und es gibt etwas zu sehen!

Natürlich, man riskierte etwas. Man wußte ja, daß es im eigenen Haus auch solche gibt, die nicht Pacht-, sondern Privarunternehmertum fordern, echte Redefreiheit und echte Demokratie; und auch, daß die haushälterischen westlichen Geschäftsleute sich nicht auf einmal in den unermeßlichen Dschungel der sowjetischen Wirtschaft stürzen würden. Um mit den eigenen Leuten fertig zu werden, brauchte man bloß die allgemeine Lage im Land bis zu einem solchen Zustand zu bringen, daß das Volk vor lauter Ausweglosigkeit sämtliche Ansprüche auf irgendetwas wie Demokratie aufgeben und zetermordio zu schreien beginnen würde: „Brot und Ordnung!“ Bei dieser Stimmung wäre es dann ein leichtes, die Schläulinge und die Schwätzer unschädlich zu machen und die vor übermäßiger Freiheit durchgedrehten Massen zu zwingen, die Bedingungen der Herren der Lage anzunehmen. Den Westen jedoch müßte man mit der Aussicht auf mühelosen Gewinn aus den sowjetischen Rohstoffquellen und dem sowjetischen Absatzmarkt verführen und ihm gleichzeitig mit „unkontrollierbaren Folgen für die ganze Welt“ im Falle des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums drohen. Für die einen wie die andern wären einmal mehr Zuckerbrot und Peitsche durchaus geeignet. Nachdem man noch eine geniale Bewertungsskala ausgearbeitet hatte: „Perestrojka-Aktivist“, „Sympathisant“, „Konservativer“, fuhr die Perestrojka-Kutsche los. Der Kutscher erhielt den lebenswichtigen Befehl, die Zügel nicht aus der Hand zu lassen.

Nur ein völlig naiver Mensch kann Gorbatschow einen „genialen Reformer“ nennen. Ihm fiel lediglich die Durchführung eines Programms zu, das von immer demselben „kollektiven Parteiverstand“ aufgestellt worden war — das System ein bißchen aufzufrischen und zum Weiterleben und -funktionieren zu bringen. Jetzt scheint es vielen ab und zu, Gorbatschow verliere bereits die Kontrolle über die Situation im Land, er lasse das Steuer aus der Hand, er haste in seinen Äußerungen und Entscheidungen von einer Seite auf die andere, auf der Suche nach einem rettenden Ausweg. Ja, er sagt sogar selbst, man habe den Startknopf gedrückt und dabei den Sicherheitsmechanismus vergessen. Doch er verstellt sich, der Preisgekrönte. Einen Ausweg muß er, nebenbei gesagt, gar nicht suchen, es gibt für ihn nur einen — die Macht um jeden Preis zu behalten. Und was den „Sicherheitsmechanismus“ anbelangt, so ist die ganze produktive „Perestrojka“-Aktivität des Generalsekretärs gerade auf die Schaffung eines solchen ausgerichtet. Eben zum Zweck, der Demokratie einmal sagen zu können „stopp“, hat er sich zum Oberhaupt von allem gemacht, was er nur wollte, hat er sich alle erdenklichen Vollmachten herausgenommen, hat er die Roboter-Häscher der „Polizeiabteilung zur besonderen Verwendung“ („OMON“) geschaffen, deren Bestand er laufend vergrößert, hätschelt er das verbrecherische KGB und die parasitäre Armeebeamtenschaft. Mit ihrer Hilfe hält der Generalsekretär die Zügel noch immer in der Hand, wenn auch die Kutsche über Schlaglöcher holpert.

Während er sein Volk beschwört, „die Sache nicht bis zum Chaos zu treiben“, hebt Gorbatschow, und zwar nicht etwa beiläufig unter dem Wortmüll, mit dem er überall um sich wirft, sondern direkt und unzweideutig beständig seine Treue zu den „Idealen des Sozialismus“ hervor, als dessen unabdingbare Eigenschaften er das vergesellschaftete Eigentum und die „Ziele der Erhaltung des Sowjetstaats“ betrachtet. Hierin liegt der Sinn und der Schlüssel seiner ganzen gegenwärtigen Taktik. Der politische Possenreisser in Präsidentenaufmachung hofft, mit Hilfe des Schlagworts vom „Kampf gegen die Bürokratie“ und mittels durchtriebener Manipulationen im Verwaltungsapparat, die über Manöver zur Maskerade nicht hinausgehen und die er großtönend „Reformen“ nennt, genau dasselbe Kommandoverwaltungssystem (man braucht es ja nicht unbedingt leninistisch zu nennen) zu erhalten, in dessen Händen sich dann die politische und wirtschaftliche Macht des Landes vollumfänglich konzentrieren würde. Die Untertanen jedoch, erschöpft von den Beschwernissen der Jahrzehnte des Bolschewismus, müßten, wie bisher, besitzlos bleiben, mit den ihnen vom System durch den sogenannten Arbeitslohn zugeteilten lebensnotwendigen Gütern als nach wie vor einzigem Eigentum.

Und der Westen? Sollte er in der Tat rein gar nichts verstehen und sich irren, wie die „extremsten“ Wahrsager und notorischen „Sowjetexperten“ heute schon gerne sagen?

Es kommt darauf, welcher Westen. Derjenige, der von den westlichen Pressemedien gelenkt wird, erhält politische Vorstellungen, deren Umfang und Qualität man sich unschwer vergegenwärtigen kann, wenn man sich des trivialen Satzes erinnert: „Im Westen ist die Presse natürlich frei, aber keine Zeitung, die auf sich hält, wird Information drucken, die ihren Ruf kompromittiert.“ Dieser Westen hat keine Zeit, die Politik zu verstehen. Die Menschen, passiv ihr Hirn mit Bits unverarbeiteter Informationen belastend, schlagen sich im täglichen Leben nicht mit politischen, sondern mit Alltagsproblemen herum. Genau diesem Westen hat der „Archipel Gulag“ Solschenizyns „plötzlich die Augen für die Existenz der Konzentrationslager Stalins geöffnet“.

Der Westen jedoch, der sich von den Interessen des Big Business lenken läßt, der Westen der mächtige Monopole, Firmen und Staatsmänner kann gar nicht anders, als die Weltpolitik verstehen, da er selbst ja diese Politik macht. Eben auf diesen gilt es das Augenmerk zu richten, wenn vom Westen als von einem Subjekt der Weltpolitik die Rede ist.

In den Beziehungen des Westens zur UdSSR spielten zwei Faktoren immer eine wesentliche Rolle: die Bedrohung, die von der Kriegsmacht des totalitären Staats ausging, und die Perspektive, das gigantische und unermeßlich reiche Territorium der UdSSR als Quelle billiger Rohstoffe, Ort zur Kapitalanlage und Absatzmarkt zu gebrauchen.

Die militärische Bedrohung seitens der Sowjetunion wurde während Jahrzehnten unter dem Lärm der Verhandlungen über Frieden und Abrüstung mit hoher Profitrate nicht allein vom westlichen Kriegsgeschäft ausgebeutet, das nicht nur Berge von Waffen anhäufte und erfolgreich absetzte, sondern gleichzeitig die Forschungsarbeit und Produktion auf dem Gebiet der Physik, Chemie, Elektronik und anderen stimulierte. Und der westliche Steuerzahler öffnete den Geldbeutel williger, wenn er befürchtete, daß „die Bombe in seinen Gemüsegarten fällt“. Ich fragte einmal einen führenden Vertreter des amerikanischen Raketengeschäftes, was er mit seiner Produktion anzufangen gedenke, wenn das Sowjetimperium zusammenbreche und Rußland ein vollkommen friedlicher Staat werde? — „Das geschieht nicht auf einmal“, versicherte er mir. „Nun, und wenn man mit Rußland einmal frei Handel treiben kann und sich nicht mehr davor zu fürchten braucht, so können ja andere Feinde auftauchen.“ — „Und wenn keine auftauchen, kann man sie ja schaffen oder erfinden?“, fragte ich wiederum. Er lachte laut heraus, in unverhohlenem Vergnügen. Heute führe ich unser Gespräch ab und zu in Gedanken weiter zu Saddam Hussein ... Es sieht so aus, als stände es den islamischen Fundamentalisten bevor, noch während langer Jahre die Rolle einer Bedrohung für die ganze Menschheit zu spielen.

Die sowjetische Führung brauchte ihrerseits das „Feindbild“ ebenfalls als Bedrohung, zu deren Fernhaltung vom Sowjetvolk ein Maximum an Einsatz aller Kräfte und an Selbstbeschränkung gefordert wurde. Der „Kalte Krieg“ zeitigte für beide Seiten reichliche Früchte. Liebhaber von Statistiken können leicht ausrechnen, um wieviel die Stärke der Weltmächte z.B. in den 50er bis 70er Jahren zunahm.

Die Krankheiten der sowjetischen Wirtschaft machten den Kommunisten mit der Zeit die Unsinnigkeit ihrer Doktrin einer bewaffneten Übernahme der Weltherrschaft augenfällig und nötigten die bolschewistischen Strategen, zur Politik der „Entspannung“ überzugehen. Der Erfolg dieser Politik, in Verbindung mit der unerträglichen Last der staatlichen Militärausgaben, die dem Steuerzahler vom westlichen Geschäft aufgebürdet wurde, verringerte die Rentabilität des „sowjetischen Schreckgespenstes“ merklich. Die geschäftlichen Perspektiven in dieser Richtung wurden enger. Dafür winkte in der Ferne eine andere, die „Perestrojka“-Perspektive, nicht minder einträglich und weniger gefährlich, wenn auch zunächst riskant.

Die gigantischen Weiten und Ressourcen des Sowjetimperiums als Objekt wirtschaftlicher Interessen waren für das westliche Geschäft während langer Zeit nicht mehr als ein faszinierender Traum gewesen. Der Zugang zu den Vorratskammern Sibiriens war ihm ganz einfach versperrt. Das kommunistische Kolonialreich konnte keine Rohstoffe zu für den Westen vorteilhafte Preisen absetzen, da es sich selbst im Rüstungswettlauf verausgabte und seine Kolonien versorgte. Zudem war es für den Westen widernatürlich, mit Hilfe von Kapitalanlagen und Handel die wirtschaftliche Entwicklung seines gefährlichen Feindes zu fördern. Heute nun winkt der sowjetische Führer mit seinem Gesinde die westlichen Geschäftemacher selbst herbei.

Jegliches Geschäft trägt in sich ein Element von Risiko, das durch bestimmte Garantien vermindert wird. Eine solche Garantie kann in der UdSSR nur eine diktatorische Gewalt bieten. Wenn die UdSSR als einheitlicher Staat erhalten bleibt, wird die bisherige Diktatur der Nomenklatura-Bürokratie darin Herr bleiben. Gerade das strebt Gorbatschow an, und da der Westen gewohnt ist, „auf den Favoriten zu setzen“, mag der Anschein entstehen, als ob er nur deshalb Gorbatschow mit allen Kräften unterstütze. Umso mehr als Bush direkt sagt: „Die Unterstützung Gorbatschows muß davon abhängen, wie weit er imstande ist, die Macht zu behalten“. — Das ist, was an der Oberfläche liegt und sich als erste Erklärung aufdrängt. Aber eine noch wesentlichere Rolle spielt die verborgene Seite der Sache.

Einer der Teilnehmer an einer Konferenz für Wirtschaftsfreizonen in der UdSSR sagte einmal zu mir: „Wie gut, daß wir heute keinen ‚Kalten Krieg‘ mit der Sowjetunion mehr zu führen brauchen, sondern mit ihr Handel treiben können!“ — „Womit?“ fragte ich ihn, „Sie verkaufen ihr Waren, und sie Ihnen Rohstoffe?“ „Was können die denn sonst noch verkaufen?“ erfolgte die Gegenfrage. Eine andere Persönlichkeit des westlichen öffentlichen Lebens, die sich Russen gegenüber als Franzosen betrachtet und vor Franzosen in einen Russen verwandelt, äußerte sich vertraulich mir gegenüber: „Wozu brauchen wir (gemeint waren diesmal die Franzosen) ein demokratisches und wirtschaftlich starkes Rußland? Es genügt, wenn es nicht mehr aggressiv ist und imstande, aus unseren Krediten zu zahlen und unsere Waren zu kaufen.“ — Aber es fand sich auch einer, der sich überaus kurz und klar ausdrückte: „Die Amerikaner und Europäer haben genug am ‚japanischen Wunder‘ Wozu noch ein ‚russisches‘?“

Der Westen möchte und strebt danach, daß die UdSSR in ihrem bisherigen Status verbleibt, das heißt, ihre Territorialgrenzen und ihre wirtschaftspolitische Struktur behält, weil das für ihn direkt vorteilhaft ist. Hinter dem Begriff der westlichen Politiker vom „Chaos“ und den „unvoraussagbaren Folgen, die der ganzen Welt drohen könnten“, steckt ein anderer Sinn als der, den sie selbst und die heuchlerische, im Dienste des Big Business stehende Presse öffentlich verbreiten. Für den Westen ist es nachteilig, wenn aus den ehemaligen Republiken der UdSSR selbständige Staaten entstehen, mit demokratischen Machtstrukturen und freiem Unternehmertum in der Wirtschaft. Die auf ihrem Territorium lebenden Völker haben in ihrem historischen Erbe jahrhundertelange Erfahrung im Staatswesen und Traditionen, die ihnen unter normalen Bedingungen gestatten würden, sich bei ihren noch erhaltenen hıistorischen Beziehungen zueinander wirtschaftlich und kulturell rasch zu entwickeln, gestützt auf das russische Rohstoffpotential und den nahezu 300 Millionen-Binnenmarkt. Die Geschichte der USA zeugt davon, was für ein Entwicklungstempo eine freie Gesellschaft erreichen kann, die sich überwiegend auf den Verbraucher des Binnenmarktes stützte, dessen Kapazität bedeutend geringer war als das Ausmaß des heutigen Sowjetreichs. In diesen Kreis würden zweifellos auch die früheren Satellitenländer mit eingeschlossen.

Diejenigen, die heute am lautesten schreien, das russische Bauerntum sei durch die Kollektivierung vernichtet worden, verstehen nur all zu gut, daß bei Besitz von eigenem Grund und Boden (wogegen die heutige sowjetische Führung so erbittert ankämpft) die Bauernbetriebe Russlands und der Ukraine binnen zwei bis drei Jahren das Ernährungsproblem des ganzen riesigen Territoriums ohne jegliche westliche Hilfe lösen könnten, und nach einigen weiteren Jahren könnte ihre landwirtschaftliche Produktion, wie früher schon, mit der europäischen und amerikanischen in Konkurrenz treten. Dann müßte man ja am Ende die Bauern im Westen noch mehr subventionieren! — Natürlich würde die wirtschaftliche Entwicklung dieser neuen Staaten mehr Zeit und Anstrengung erfordern, indes, da diese Völker weder nach fähigen Köpfen, noch nach Rohstoffen und Energie über den Ozean zu fahren brauchten, würde ihre industrielle Produktion bedeutend rascher internationalen Standard erreichen, als die heutigen Wahrsager prognostizieren. Mit anderen Worten: die in einiger Zeit zu erwartende Perspektive der Konkurrenz für den Westen seitens einer in der Zukunft möglichen freiwilligen Union freier Staaten, und in erster Linie eines Industrielandes Rußland — das ist das Problem, auf das der Westen später nicht stoßen möchte und das ihm „unvoraussagbare Folgen“ bringen könnte.

Den ehemaligen sowjetischen Satelliten paßt die Perspektive der Erhaltung der UdSSR mit ihrer dahinsiechenden Wirtschaftsstruktur, einer UdSSR, die ihnen (am liebsten zu den früheren Preisen!) Rohstoffe und Energie im Austausch gegen Fertigprodukte und landwirtschaftliche Erzeugnisse liefern würde, ebenfalls besser. Die gegenwärtigen Regierungen dieser Länder möchten so gerne eine „Rolle im europäischen Prozeß spielen“, sich der Kohorte der „wahrhaft europäischen Völker“ anschließen, daß sie schon jetzt so weit sind, sich unter den „in europäischen Kategorien Denkenden“ zu sehen. Das ist der Grund, weshalb weder die Tschechoslowakei, noch Polen, noch die übrigen die Eigenstaatlichkeit Litauens anerkannt haben.

Bei weitem wünschenswerter ist für den Westen eine andere Perspektive: ein militärisch ungefährliches und wirtschaftlich immer schwaches Imperium (man kann es ja auch „auf dem erneuerten Unionsvertrag errichtete Föderation“ nennen), ein Staat, beherrscht von einem Diktator, der willig ist, für seine persönliche Macht mit Gas, Erdöl, Holz, Gold, Diamanten und allem zu bezahlen, was jenen paßt, die ihn materiell und moralisch zu unterstützen bereit sind. Und er ruft ja sogar, dieser Diktator: Kommt, preßt aus diesem Land und aus diesem Volk alles heraus, was ihr könnt, aber teilt den Profit mit mir! Auf so einen lohnt es sich schon zu setzen, Erfahrung mit solchen hat man bereits von Lateinamerika und Afrika her. So einen lohnt es sich zum „Mann des Jahres, des Jahrzehnts, des Jahrhunderts (?)“ zu erheben, ja gar zum Nobelpreisträger; Werke über „Gorbomanie“ ist er wert, man kann ihm öffentlich Carte blanche für die „Gewährleistung der Ordnung im Land und die Verhütung des Chaos in der Welt“ geben. Und Kredite, Kredite, Kredite! — Natürlich kann man den Nobelpreisträger öffentlich ein wenig zurechtweisen im Fall der Wiederbesetzung des Baltikums und anderer ehemaliger Kolonien. Er habe da offenbar dem Druck der konservativen Kräfte nachgegeben. Aber das ist schließlich trotzdem noch lange nicht das Ende der Perestrojka, höchstens eines der von ihrem Szenarium vorgesehenen heißen Themen.

Und niemand schämt sich, und niemandes Ehre nimmt Schaden. Von den Helsinki-Friedensstiftern ganz zu schweigen — auch kleinere Organisationen im Westen haben sich der Kampagne zur „Aufrechterhaltung der Ordnung in der UdSSR“ angeschlossen. Sie sind von Herzen betrübt, daß das eigene Volk Gorbatschow haßt, und ziehen daraus den Schluß: „Deshalb muß man Gorbatschow noch mehr helfen“ — das heißt also, gegen den Willen des Volkes handeln, zur Unterstützung eines Politikers, der sich auf jedem Forum gegen die Einführung von Privateigentum und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ausspricht und den Leninschen Idealen Treue schwört. Übrigens, was hat das schon zu bedeuten, wenn doch dieser Leninist verspricht, Zonen mit völliger Betätigungsfreiheit für das westliche Kapital zu errichten und dabei dem nationalen nicht erlaubt, sich zu entwickeln (die auf allen Vieren kriechenden Kooperativen fallen kaum ins Gewicht!), wenn er bereit ist, Landwirtschaftsspezialisten aus dem Westen einzuladen, aber das eigene Farmwesen im Land nicht aufkommen läßt. Und schon beeilen sich die westlichen Geschäftemacher, russisch zu lernen, schon kaufen ausländische Firmen in Moskau, Leningrad und anderen Städten Gebäude, der Zeitungsmagnat Maxwell schließt Verträge mit 40 bis 49% Aktien, Hunderte von Firmen arbeiten mit sowjetischen staatlichen Firmen zusammen, bewogen von der Perspektive, die der neue „Adidas“-Besitzer, Bernard Tapie, veranschaulicht hat: „In fünf Jahren wird ein Drittel unserer Produktion im Osten und 20% werden in Lateinamerika erfolgen.“

Dem Druck einer solchen Massenbegeisterung über den gegenwärtigen „Retter der Menschheit vor der Weltkatastrophe“ können sogar ehemalige Dissidenten nicht standhalten, die auf den stinkenden Köder des „neuen Unionsvertrags“ gebissen haben; die einen aus Unüberlegtheit, andere wohl auch aus „strategischer“ Berechnung, da sie „keine Alternative“ zu Gorbatschow sahen. Als ob er selbst bereit wäre, eine solche Alternative zu gestatten, da er ja ein „treuer Leninist“ bleibt.

Und obwohl der Reformator und Liebling aller unter begeisterten Zurufen treubrüchig beliebige Vollmachten an sich gerissen hat, rechtfertigt der objektive Verlauf der Ereignisse in dem auseinanderbrechenden Reich die rosigen Hoffnungen aller seiner Partner keineswegs. Der heutige Friedensnobelpreisträger, oder jemand an seiner Stelle, würde bereits morgen sein Stammgut mit Blut überschwemmen, doch weiß er nur allzu gut, ebenso wie auch seine Verehrer, daß das nichts bringen würde: die Menschen in der ehemaligen UdSSR werden nicht mehr wie Sklaven für das frühere System arbeiten und es unterhalten. Deshalb weiß Gorbatschow, der sich auf solche Krücken stützt wie den eifrig gehüteten und dauernd verstärkten sowjetischen Unterdrückungsapparat und die westliche „öffentliche Meinung“; nicht, wie er diese seine Vollmachten praktisch gebrauchen soll. Der Schleier des grossen Betrugs wird augenblicklich fallen, sobald er die Tbilissi-Variante im Maßstab des ganzen Landes anwendet. Da helfen weder seine eigenen Drohungen, noch das Brüllen des blutrünstigen KGB, nicht der vorgeplante Unfug mit der Versorgung, noch der provozierte Kriminalitäts-Terror, noch auch das Spektakel mit den Lebensmittelpaketen. Die ehemaligen Sklaven heulen nicht mehr: „Gib uns, Gorbi, die frühere Ordnung!“

Nebenbei, übrigens, demonstriert der Generalsekretär heute im Baltikum dem Westen bereits seine Fähigkeit, die Macht zu behaupten. Die Methoden sind freilich diejenigen Stalins, aber das muß man schließlich begreifen — ist es doch immerhin der Sowjetstaat.

Für Gorbatschow und seine Clique existiert nur ein Ausweg: so rasch wie möglich eine neue Form der sozialistischen Sklaverei einzuführen — die pachtwirtschaftliche Betätigung, um endlich die wirtschaftliche Situation im Land wenigstens einigermaßen zu stabilisieren und damit seine Macht in den alten Grenzen zu bewahren. Das westliche Großkapital aber ist weiterhin des Schicksals seiner weiteren Anlagen in der Staatswirtschaft der Union nicht gewiß, da die Idee eines Unionsvertrags nicht nur von mehreren Republiken nicht angenommen wird, sondern sogar von jenen Oppositionellen, denen endlich „die Augen aufgegangen sind“, sodaß sie angefangen haben, ein klein wenig weiter als die eigene Nasenspitze zu sehen. Der Westen steht vor der Wahl, weiter auf Gorbi zu setzen, oder zu den Behörden der Republiken direkt in Beziehung zu treten.

Kann man dem Westen seine Politik des gegenwärtigen Bremsens echter Prozesse der Demokratisierung in den auseinanderfallenden Teilen der UdSSR zum Vorwurf machen? Natürlich nicht, ebenso wenig, wie man es der Boa zum Vorwurf machen kann, daß sie ein Kaninchen verdaut. Nackter Pragmatismus, reiner Profit — das ist das Credo der internationalen Politik der westlichen Länder, deren Banner Schlagworte von Freiheit und Menschenrechten zieren. Daher müssen die Völker des heutigen Sowjetimperiums den Westen davon überzeugen, daß er keinen Vorteil gewinnen wird, wenn er damit rechnet, mit Hilfe des Demokraten-Leninisten sie selbst und ihre Erde auszurauben, wie etwa, sagen wir, lateinamerikanische und afrikanische Völker und Länder. Er muß diesen Vorteil mittels Kontakten zum privaten Unternehmertum in den neuen Staaten suchen, die sich aus den ehemaligen Sowjetrepubliken bilden. Damit, daß er den Behörden Geld gibt, sei es auf Unionsebene oder in den Republiken, verlängert der Westen lediglich die Agonie der Kolonialmacht oder der Filialen des Kommandoverwaltungssystem. Es ist Sache der aufkommenden wahrhaft antisowjetischen und demokratischen Kräfte, dem Westen zu beweisen, daß die Geschichte dieses System zur endgültigen Negation verurteilt hat. Der Westen könnte den Demokraten helfen durch seine Bereitschaft, nur den privatwirtschaftlichen Sektor im Land zu stimulieren. Aus den oben aufgezählten Gründen wird er das solange nicht tun, bis er sich davon überzeugt hat, daß dieser Schritt für ihn selbst unausweichlich ist.

Die Bürger des noch immer existierenden Sowjetimperiums müssen sich ganz klar bewußtmachen, daß sie weder auf Gorbatschow, noch auf westliche Hilfe, und schon gar nicht auf jene hoffen dürfen, die große Reden vom Rechtsstaat führen (und das in der UdSSR!). Nur sie selbst können sich ein würdiges Leben in der Zukunft sichern, wenn sie aus eigener Initiative (die Erlaubnis von oben werden sie dazu nicht erhalten) zwei direkt antigorbatschowsche Leitsätze von existentieller Wichtigkeit verwirklichen: die Liquidierung des Sowjetimperiums und den Besitz des absoluten Rechts auf Privateigentum für alle Bürger der neuen Staaten. Das Bekenntnis zu diesen Leitsätzen ist eine Art Test, nach dem die Bestrebungen der einzelnen Persönlichkeiten zu beurteilen sind, ob sie sich dazu eignen, zum Fortschritt und Wohlergehen der Völker beizutragen, die heute noch zum Sowjetreich gehören. Werden diese Leitsätze nicht befolgt, so steht eine neue Periode sowjetischer Sklaverei bevor, vielleicht noch schwerer und noch schmachvoller als bisher.

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