MOZ, Nummer 45
Oktober
1989

Die große Flucht

Die Berichterstattung zur DDR-Flüchtlingswelle hat erfolgreich Verwirrung gestiftet. Die Wirklichkeit für die zur Zeit 15 Millionen Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, sieht anders aus als am österreichisch-ungarischen Grenzbalken. Auf die allermeisten wartet in der Fremde nicht Humanität und Solidarität, sondern Restriktion und Vertreibung.

Die MONATSZEITUNG hat dazu zum Streitgespräch geladen:
Klaus Feldmann, Hochkommissär der Vereinten Nationen für Flüchtlinge.
Gabriel Lansky, Rechtsanwalt, ehemaliger Vertreter von Amnesty International.
Manfred Matzka, Kabinettchef im Bundeskanzleramt.
Haydar Sari, Verein zur Betreuung von Ausländern.
Das Gespräch führte Hannes Hofbauer.

(v.l.n.r.) Hannes Hofbauer, Gabriel Lansky, Manfred Matzka, Haydar Sari, Klaus Feldmann
Hofbauer: Als „Flüchtlinge“ sind Mitte September über 10.000 Bürger/innen aus der DDR über Österreich in die BRD gekommen. In vollbepackten Trabants und Wartburgs sind sie an der österreichisch-ungarischen Grenze vom österreichischen Bundesheer mit Gulasch und Getränken versorgt und vom Roten Kreuz mit je 700 öS Benzingeld ausgestattet worden. Für Autolose wurde ein extra Bus- und Bahnservice eingerichtet. Sieht so die Wirklichkeit für die Mehrzahl der Flüchtlinge auf dieser Welt aus, die vor politischer Verfolgung oder ethnischer Unterdrückung davonlaufen müssen?

Feldmann: Weltweit betrachtet sehen „Flüchtlinge“ sicherlich nicht so aus wie in Europa. In Europa haben wir prozentmäßig gesehen überhaupt sehr wenige Flüchtlinge. Derzeit gehen wir davon aus, daß es 12 bis 14 Millionen Menschen auf der Welt gibt, die sich auf der Flucht befinden. Das Flüchtlingsbild außerhalb Europas unterscheidet sich ganz wesentlich von der europäischen Vorstellung eines Flüchtlings. Während in Asien, Afrika und Lateinamerika die Definition der Flüchtlingskonvention von 1951 nicht mehr das allein ausschlaggebende Instrumentarium ist, Flüchtlinge als solche anzuerkennen, ist in Europa die 1951-Konvention, wonach Personen, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung verfolgt werden, Leitfaden der Regierungen geblieben. In den Ländern der südlichen Halbkugel dagegen werden Kriege und Hungerkatastrophen zunehmend als Fluchtgründe genannt und auch anerkannt.

In diesem Sinne ist es fraglich, ob diese große Gruppe von Menschen, die kürzlich über Österreich in die Bundesrepublik geflohen ist, überhaupt Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sind.

Matzka: Im osteuropäischen Raum haben wir es großteils mit Migrationsbewegungen zu tun, also Wanderungsbewegungen, wobei sich Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention und andere Leute, die aus dem Osten in den Westen kommen, vermischen. Insofern sind diese Menschen aus der DDR, die ihr Land verlassen haben, sicher nicht typisch.

Lansky: Der kleinste Teil der Leute, die hier von der DDR gekommen und durch Österreich durchgereist sind, ist voraussichtlich im Sinne der Genfer Konvention als Flüchtling zu bezeichnen. Die DDR-Ausreisewelle hat nur marginal etwas mit der Flüchtlingsproblematik zu tun. Vielmehr hat die ganze Sache etwas mit ideologischer Wiederaufrüstung des Westens zu tun. In einer Zeit, in der Gorbatschow propagandistisch einen Erfolg nach dem anderen landet, bedeutet so eine Ausreisewelle einen massiven Imagegewinn des westlichen Bündnisses. Auch das österreichische Image im Ausland wird durch derlei scheinbar humanitäre Aktionen kräftig aufpoliert.

Matzka: Die Durchwanderung der DDR-Bürger/innen hat auch etwas Positives. Die öffentliche Meinung in allen Massenmedien ist positiv gegenüber Flüchtlingen. Das ist deswegen gut, weil ja der Staat, der im Sinne der Genfer Konvention Flüchtlingspolitik machen will, einen gesellschaftlichen Konsens braucht. Die Kronenzeitungsschlagzeile — „600.000 Österreicher waren einmal Flüchtlinge“ — hilft uns sehr viel, wenn’s um budgetäre Mittel für Flüchtlingspolitik geht.

Hofbauer: Dieser Optimismus vergißt aber, daß in dieser ganzen Flüchtlingsdebatte mit zweierlei Maß gemessen wird. Denn während die Schlagzeilen der Boulevardpresse das DDR-Flüchtlings„drama“ bringen, steht auf Seite 7 oder 8 eine kleinen Notiz über einen kurdischen Flüchtling, der sich aus einem fahrenden Polizeiauto stürzt und dabei schwer verletzt wird, weil er nach seiner Festnahme an der grünen Grenze abgeschoben werden soll. Da wird von den Massenmedien keine Verbindung hergestellt zwischen diesen zwei Ereignissen, obwohl sie zeitgleich passieren. In beiden Fällen handelt es sich um durchreisewillige ausländische Staatsbürger, die in die BRD wollen. Während zehntausende Ostdeutsche am Zollschranken durchgewunken werden, wird jeder einzelne Kurde und Türke gejagt. Warum wird da mit zweierlei Maß gemessen?
Haydar Sari

Sari: Überall in den Massenmedien wird von der sogenannten freien Welt gesprochen, die, selbstlos und einem humanistischen Ideal folgend, den Menschen, die Hilfe suchen, diese zuteil werden läßt. Das ist die propagandistische Seite. In Wirklichkeit gleicht die DDR-Flüchtlingshilfe viel eher einer organisierten Aktion, in der Österreich wieder einmal die Helferrolle übernimmt; allerdings weniger für die Menschenrechte als für die Bundesrepublik Deutschland. Die Gründe, warum die BRD diese Menschen aufnimmt, sind bekannt: Diese Menschen sind junge, gutausgebildete Arbeitskräfte. Sie haben dieselbe Hautfarbe und keine schwarzen Haare. Sie sind deutschsprechend und arbeitswillig. Und noch eines: Die aktuelle wirtschaftliche Konjunktur braucht solche disziplinierten Facharbeiter.

Feldmann: Ich stelle in Abrede, daß Österreich im Falle der DDR nicht das Richtige getan hätte. Ich bin auch ein Gast in Österreich, und wenn Österreich nicht so geholfen hätte, möchte ich Sie hören, was Sie dazu zu sagen hätten.

Sari: Meine Kritik zielt nicht auf das Verhalten Österreichs im Falle der DDR-Flüchtlinge. Ich klage nur ein, daß sich Österreich in all den anderen Fällen von hilfesuchenden Türken, Kurden, Tamilen, Iranern usw. keinesfalls so humanistisch gibt wie bei der DDR-Durchreiseaktion.

Feldmann: Warum nimmt die Bundesrepublik diese Leute? Dazu ist ganz leidenschaftslos zu sagen, daß es dort ein Gesetz gibt, das den DDR-Bürgern das Recht einräumt, bundesrepublikanische Staatsangehörige zu sein.

Hofbauer: Manche meinen, in dieser Praxis den revanchistischen Charakter des bundesdeutschen Grundgesetzes zu erkennen. Wo gibt es denn sonst eine solche Politik, daß ein Staat die Bürger/innen eines anderen Staates als seine eigenen anerkennt? Das mißachtet doch in gewisser Weise die Integrität des zweiten Staates, in unserem Fall der DDR; zumindest aber ist so eine Politik extrem konfliktorientiert.

Wie dem auch sei: Konsens scheint in dieser Runde darüber zu bestehen, daß die 10.000 DDR-Bürger/innen, die da unlängst via Ungarn und Österreich in die BRD gewandert sind, in ihrer Mehrheit keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sind. Da stellt sich die Frage: Was ist überhaupt ein Flüchtling?

Feldmann: Um es ganz kurz zu sagen: Ein Flüchtling ist jemand, der wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat. Aber soziologisch gesehen — oder auch in der Presse — werden als Flüchtlinge viel mehr Menschen bezeichnet. Wir haben heute in Europa eine Million Menschen, die sich bewegen, die fern von ihrer Heimat eine andere suchen. Davon sind — wenn’s hochkommt — 200.000 Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention. Eines ist klar: Wir können nicht einer Million Menschen helfen, wir müssen uns auf die gefährdetsten und schlimmsten Fälle konzentrieren.

Hofbauer: Warum nimmt man sich dann, Manfred Matzka, gerade der doch relativ wohlsituierten DDR-Flüchtlinge an und steckt seine Flüchtlingspolitik nicht auf die Schutzbedüftigsten ab?
Manfred Matzka

Matzka: Der Fall eines DDR-Durchreisers ist mit dem eines flüchtigen Kurden nicht vergleichbar. Wir nehmen keine DDR-Auswanderer auf, wir erleichtern administrativ die Tätigkeit des Roten Kreuzes und anderer Organisationen. Türken und Kurden, die an unsere Grenze kommen, stehen in einer ganz anderen Lebenssituation als die DDR-Bürger. Sie wollen entweder politisches Asyl in Österreich oder wollen — und das ist das größere Problem — in die BRD, um sich dort eine Existenz aufzubauen. Und da ist der Unterschied sichtbar: Wenn die türkischen Staatsbürger in die BRD einreisen, bekommen wir sie zehn Tage später zurückgestellt, die DDR-Bürger werden schon vor der österreichisch-ungarischen Grenze bundesdeutsche Staatsbürger.

Gegenüber den Flüchtlingen im Sinne der Genfer Konvention muß Österreich dafür einstehen, deren Aufenthalt ökonomisch zu sichern und ein schnelles Verfahren zu garantieren, das eine Entscheidung so oder so bringt. Bei jährlich 40.000 Menschen, die entweder um Asyl ansuchen oder sonstwie eine Aufenthaltsgenehmigung erwirken wollen, scheint mir ein rascher Weg zur Entscheidungsfindung der einzig mögliche.

Lansky: Ich habe es immer für einen unerhörten Wert der bisherigen österreichischen Anerkennungspraxis gehalten, daß sie verantwortungslos schlampig war. Begründung: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, mit dem österreichischen Flüchtlingsrecht umzugehen. Möglichkeit eins legt die Genfer Konvention als einzig legale nahe, nämlich ein korrektes Asylverfahren mit rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wenn das nicht geht, so dachte ich bisher, ist die schlampige Lösung die beste, nämlich jahrelang nicht erledigte Asylverfahren nach dem Motto: Laß den Antrag liegen, es passiert eh’ nix; bever Du einen Blödsinn machst, mach’ lieber gar nichts. Und das hat sich zum Vorteil der wirklichen Flüchtlinge bestens bewährt, auch als Vorteil der Beamten erwiesen, weil sie sich Arbeit ersparen. Wenn jetzt aber der Matzkasche Vorschlag schneller Asylverfahren Wirklichkeit wird, dann scheint mir das eine Verschlechterung der jetzigen Situation zu sein. Wie, bitte, soll denn es mit den derzeitigen Mitteln des österreichischen Asylverfahrens gelingen, auch nur mit einer gewissen Treffsicherheit jene Asylantragsteller herauszufinden, die wirklich einen Kopf kürzer werden, wenn sie abgeschoben werden. Die Beamten haben keinerlei sachliches Substrat, um richtig entscheiden zu können. Sie sind — etwas überspitzt formuliert — nur unter Mühen in der Lage, einen Chinesen von einem Afrikaner zu unterscheiden. Die bisherige Deformation der Beamten, wobei gelegentlich der Fisch auch von oben her stinkt, hat zumindest bewirkt, daß die ganze Schlamperei toleriert wurde. Der Vorschlag von Matzka ist nur erträglich, wenn dazu ein paar begleitende Melodien erklängen: z.B. eine vernünftige Ausbildung der Beamten. Das fängt ja schon dort an, daß die Grenzkontrollorgane wöchentlich aktualisierte Berichte bekommen müßten, die sie in die Lage versetzen, einen Asylbewerber halbwegs politisch einschätzen zu können.

Matzka: Das ist schlichtweg unmöglich. Wesentlich ist doch vor allem, diejenigen Leute auszubilden, die die Entscheidungen treffen.

Lansky: Aber die Asylwerber werden doch schon oft an der Grenze zurückgewiesen und kommen gar nicht in den Genuß eines Asylantrags, geschweige denn eines Verwaltungsverfahrens.

Sari: Es gibt ja oft nicht einmal Dolmetscher an den zuständigen Stellen.

Lansky: Das Lager Traiskirchen allein spricht einer korrekten Flüchtlingspolitik Hohn. Dort gibt es noch immer keinen einzigen Sozialarbeiter, nicht einmal ein Deutschkurs wird dort angeboten, das stelle man sich vor!

Sari: Die Menschen, die aus der „3. Welt“ kommen, sind existenziell bedroht. Sie haben Hungerprobleme. Und sie sind auch oft politisch bedroht. Tagtäglich kommen solche Flüchtlinge. Sie haben keine Möglichkeit, an der Grenze einen Asylantrag zu stellen. Wenn ein Asylsuchender sich trotzdem an einen Grenzbeamten um Hilfe wendet, bekommt er oft ein unbegrenztes Aufenthaltsverbot, woraufhin er dann — rechtlich gedeckt — nach Hause abgeschoben wird.

Matzka: Das stimmt ja nicht. Zwar mag es sein, daß es solche Fälle gibt, daß jemand ohne Überprüfung seines Falles einfach abgeschoben wird, aber das sind Einzelfälle, bei denen man sich überlegen muß, wie sie abgestellt werden können. Die große Zahl der Flüchtlinge erlebt das anders. Hunderte pro Woche kommen zur Behörde, die dann ein Asylverfahren einleitet. Das sind wahrscheinlich mehr als 15.000 in diesem Jahr.

Feldmann: Natürlich gibt es keinen Asylantrag an der Grenze. Im Prinzip muß jemand, der dort um Asyl ansucht, an die zuständige Behörde weitergeleitet werden, die dann das Verfahren aufnimmt.

Sari: Das ist die Theorie. An der Grenze in der Steiermark schaut das ganz anders aus.

Hofbauer: Ausgerechnet dort also, wo die türkischen und kurdischen Flüchtlinge ankommen.

Lansky: Vor einigen Jahren habe ich darüber eine Diskussion mit dem nunmehrigen Polizeipräsidenten Bögl gehabt. Der hat es für empörend gehalten, daß ich in diesem Zusammenhang von systematischen Polizeiübergriffen gesprochen habe. Seit Jahren reden wir über die Praxis der Erteilung von unbefristetem Aufenthaltsverbot in der Steiermark. Das weiß mittlerweile schon jeder, der damit befaßt ist. Trotzdem wird’s nicht abgestellt, woraus ich schließe, daß da System dahinter steckt.

Matzka: Wir haben jetzt im Innenressort eine großflächige Organisationsänderung gemacht, die erstmals alles, was Fremdenintegration und Flüchtlingsproblematik betrifft, unter einem Hut zusammenbringt, um einen gleichen Vollzug im ganzen Land sicherzustellen. Damit sollen Unzukömmlichkeiten abgestellt werden.

Sari: Ich möchte beispielhaft einen Bescheid von der Bezirkshauptmannschaft Fürstenfeld zitieren. Zwei Iraner wollten nach Österreich kommen und wurden nicht aufgenommen. Sie sind bereits abgeschoben worden. Die Begründung liest sich folgendermaßen:

Kivany Farhad hat eine Übertretung des Grenzkontrollgesetzes begangen, weil er am 2.12.1987, aus Jugoslawien kommend, illegal die Grenze nach Österreich überschritten hat.

Weiters hat er keinen Reisepaß ... mit sich geführt. Ebenso konnte der Besitz von Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhaltes nicht nachgewiesen werden. Ebenso konnte Kivany Farhad keine Gründe nennen, die im Artikel 1, Abschnitt A, Zi 2 der Konvention über Rechtsstellung der Flüchtlinge angeführt sind, sodaß spruchgemäß zu entscheiden war.

Auf Grund der angeführten Aspekte ... erscheint ein weiterer Aufenthalt seiner Person im Bundesgebiet eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit.

Wie kann ein Grenzkontrollbeamter wissen, ob ein Flüchtling richtige oder falsche Gründe für einen Asylantrag hat?

Lansky: Fremdenpolizeiliche Kriterien wurden immer wieder angewandt, um Leute rauszuschmeissen, die eigentlich nach asylrechtlichen Bestimmungen das Recht gehabt hätten, hierzubleiben. Vielleicht bessert sich das jetzt mit der innerministeriellen Reform, die Matzka gerade angesprochen hat.

Vorläufig schaut die Sache folgendermaßen aus: Da gibt es einen türkischen Asylwerber, der im Jahre 1982 einen Asylantrag stellt. Daraufhin kommt er in Schubhaft. In der Schubhaft schreibt ein Beamter dem Asylwerber vor, auf Rechtsmittel zu verzichten, nämlich auf das Rechtsmittel gegen den negativen Asylbescheid erster Instanz. Ganz nach dem Motto: Wenn’st hier unterschreibst, dann kommst schneller aus der Schubhaft raus. Das alles liegt schriftlich vor. Im Berufungsverfahren lag dieser Akt dann bis 1989. Erst jetzt erreicht mich ein Berufungsentscheid des Bundesministers für Inneres. Dieser Entscheid ist wieder negativ, und zwar mit folgender skurrilen Begründung: Der in der Schubhaft unterschriebene Rechtsmittelverzicht ist kein Wiedereinsetzungsgrund, weil das freiwillig war. Und im übrigen beweist es die Unglaubwürdigkeit des Asylwerbers, wenn er nach seiner Enthaftung zu einem prominenten Asylanwalt findet, nämlich zu mir. Gezeichnet Dr. sowieso, Bundesministerium für Inneres, 1989. Das ist kein Einzelfall, so funktioniert das System der Asylgewährung.

Hofbauer: Wenn ich mir die UN-Jahresberichte des Hochkommissärs ansehe, dann lese ich eine gewisse Unzufriedenheit über die Praxis der Asylverfahren in allen westeuropäischen Ländern heraus.

Zunehmende Restriktionen werden beklagt. Bekannt geworden sind ja die Sanktionsandrohungen der bundesdeutschen Behörden gegen ausländische Fluggesellschaften, die potentielle Asylanten nach Berlin oder in die Bundesrepublik fliegen, obwohl diese einen gültigen Paß und ein gültiges Ticket vorweisen konnten. Solche Restriktionen sind schon sehr weitgehend.

Ein Bürger aus einem „3. Welt“-Land kommt überhaupt nur unter großen Schwierigkeiten in die gelobten europäischen Metropolen. Wenn heute beispielsweise indische Eltern ihren in Österreich studierenden Sohn besuchen wollen, dann müssen sie auf der österreichischen Botschaft in Delhi nicht nur eine Einladung eines österreichischen Staatsbürgers vorweisen, der für sie bürgt und ihre Aufenthaltskosten übernimmt. Der Botschafter in Dehli will auch ein Hin- und Rückflugticket und einen Bankauszug über 20.000 Rupien sehen, der beweist, daß die Reisenden zuhause etwas zu verlieren haben. Erst dann gibts ein Einreisevisum als Tourist. Um wieviel komplizierter die Sache für Asylantragsteller sein kann, hat uns Gabriel Lansky gerade erzählt.

Klaus Feldmann

Feldmann: Diese Kritik, die in unseren Berichten zum Ausdruck kommt, beruht nicht so sehr auf österreichischen Erfahrungen. Gerade hier ist es für uns schwieriger, Kritik zu üben, weil wir Teil des Systems sind. Dadurch ergeben sich gewisse Komplikationen.

Hofbauer: Wie ist das zu verstehen?

Feldmann: Wir sind in konsultativer Form in Asylverfahren eingeschaltet. Das heißt, wenn jemand im normalen, korrekt durchgeführten Asylverfahren abgelehnt wird, dann haben wir dem in der Regel zugestimmt.

(An dieser Stelle verläßt uns Manfred Matzka aus Termingründen und fährt zu seinem Chef ins Parlament.)

Lansky: Es ist kennzeichnend für verschiedene sensible Bereiche der österreichischen Wirklichkeit, daß es eigentlich nur zwei Gruppen von Menschen gibt. Die eine Gruppe von Leuten, die nicht institutionell eingebunden sind und auch weniger Wissen über den Sachbereich haben: die können offen und ehrlich kritisieren. Die andere Gruppe von Leuten hat etwas mit dem System zu tun, ist Teil des Systems, wie Feldmann gesagt hat: die wissen ungemein viel, auch im Detail, können aber ihre Kritik nicht pointiert äußern, weil sie eben bis über beide Ohren im System stecken.

Hofbauer: Eine ernüchternde Feststellung.
Gabriel Lansky

Lansky: Zweifelsohne. Aber eine notwendige dritte Gruppe von Leuten gibt’s in Österreich halt nicht. Wenn wir als ständige Berater bei Amnesty tätig sind oder im Ministerbüro sitzen oder bei der UNO arbeiten, dann sind wir alle davon abhängig, daß unsere Interventionen akzeptiert werden. Und je mehr man kritisiert, umso weniger werden sie akzeptiert. Das ist die österreichische Wirklichkeit. In diesem Kreislauf befinden wir uns alle.

Noch eine Bemerkung zu Feldmann. Die Abschiebepraxis ist in der Tat in Österreich besser gewesen als in vergleichbaren anderen westeuropäischen Ländern. Aber, das ganze ging Hand in Hand mit einem Laissez-faire-Prinzip, nach dem Motto: Die ruinieren sich schon selber. Und ich weiß aus meiner Praxis von vielen Menschen, die das lange Asylverfahren ökonomisch nicht überlebt haben. Die haben nach einer gewissen Zeit einfach nichts mehr zu essen.

Sari: Wenn wir uns jetzt gegenseitig bestätigen, daß es in Österreich im Vergleich zu den Nachbarländern BRD und Schweiz so viel besser ist, dann machen wir einen großen Fehler. Als Berater von vielen Flüchtlingen weiß ich, daß hunderte Flüchtlinge in Österreich nicht bleiben können, weil ihnen bürokratische Hemmnisse in den Weg gelegt werden. Und selbst die, die bleiben, haben größte Probleme. Soziale und wirtschaftliche Integration passiert einfach nicht.

Und noch etwas scheint mir wichtig: Flüchtlingsaufnahme oder -abschiebung hängt nicht unwesentlich davon ab, ob es eine wirtschaftliche Konjunktur gibt oder nicht; ob die Unternehmer Arbeitskräfte brauchen oder nicht. Es gibt sogar einen diesbezüglichen Erlaß vom Sozialministerium vom 25. August 1989. Demzufolge dürfen Flüchtlinge, die ab 9. Mai 1988 in Österreich sind, von Arbeitsämtern vermittelt werden. Früher war das nicht so; es hängt also nur von der wirtschaftlichen Lage ab, weil seit kurzer Zeit wieder Facharbeiter benötigt werden.

Feldmann: Wir haben besondere Probleme mit Asylwerbern und anerkannten Flüchtlingen, wenn sie aus nichteuropäischen Ländern kommen.

Hofbauer: Das spricht doch sehr für die These von wirtschaftlich-konjunkturellen Kriterien, nach denen Flüchtlingspolitik betrieben wird. Jeder Unternehmer will Arbeitsdisziplin und Facharbeiterausbildung, und da sind (ost-)europäische Menschen eben verwertbarer als afrikanische oder indische.

In Oberösterreich z.B. betreibt das Land eine gezielte Anwerbung von polnischen Facharbeitern, indem sie ihnen bürokratische Hindernisse für Aufenthaltserlaubnis und Wohnungssuche aus dem Weg räumt. Das Salzburger Magistrat sucht in den DDR-Flüchtlingslagern arbeitswilliges Pflegepersonal für die Altenheime der Stadt Salzburg. Gar nicht zu reden vom wachsenden Schwarzmarkt für Ost-Arbeitskräfte, der in Wien schon ganz deutlich zu spüren ist. Große Bauunternehmen arbeiten immer mehr mit Schwarzarbeitskräften aus Jugoslawien, Polen und Ungarn.

Feldmann: Wirtschaftlich ins Gewicht fallen diese Praktiken nicht.

Hofbauer: Das glaub’ ich aber schon.

Feldmann: Zumindest, was die Asylsuchenden im Sinne der Genfer Konvention betrifft, können die paar tausend Flüchtlinge, die jährlich in Österreich bleiben, keine Lohndrückerfunktionen erfüllen.

Nehmen wir das Beispiel des Arbeitsstriches in Traiskirchen. Das ist kein Phänomen der Asylwerber. Die meisten Menschen, die dort auf der Straße stehen, haben nie einen Antrag auf Asyl gestellt und sind auch gar nicht im Traiskirchner Flüchtlingslager untergebracht. Die wissen nur, daß es in Traiskirchen einfacher ist, Arbeit zu bekommen, weil dort diejenigen hinkommen, die preiswerte Pfuscher suchen.

Hofbauer: Wenn wir uns auch in unserer Diskussion auf Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention beschränken, dann muß nichtsdestotrotz darauf hingewiesen werden, daß die Kriterien der Anerkennung sich seit 1951 im wesentlichen nicht geändert haben, obwohl heute viel mehr Menschen vor Kriegen und Hungerkatastrophen fliehen als vor politischer oder religiöser Verfolgung. Wie gehen wir damit um?

Lansky: Asylpolitik ist immer auch Außenpolitik. Österreich wäre gut beraten, aus seiner neutralen Position heraus eine Politik zu betreiben, die sich nicht so sehr auf die Ostflüchtlinge festlegt. Es ist falsch, sich auf Osteuropa zu konzentrieren. Das ist nämlich zum Glück ein immer rarer werdendes Gebiet, was die Asylfälle anbelagt. Mein Vorschlag wäre, Kontingente für afrikanische und asiatische Asylwerber politisch festzulegen und sich dann danach zu richten. Das wäre gerade für die wirklich Asylbedürftigen sinnvoller als die Floskel von der Nahtstelle zwischen Ost und West, die derzeit die österreichische Außen- und Asylpolitik bestimmt.

Sari: Das hieße z.B. für türkische Asylwerber, daß auf Grund der politischen Massenprozesse, wie sie derzeit gegen tausende Linke und Gewerkschafter abgehalten werden, ein entsprechendes österreichisches Aufnahmekontingent für diejenigen zur Verfügung gestellt wird, die vor solchen Prozessen die Flucht ergreifen können. Aktuelle Praxis ist das nieht, das möchte ich betonen.

Feldmann: Wenn österreichische Medien den Anschein geben, daß die größten Flüchtlingsströme aus Osteuropa kommen, dann möchte ich dem entgegenhalten, daß die meisten Flüchtlinge gar nicht aus Europa kommen. Die meisten Flüchtlinge kommen heute aus Afghanistan und halten sich in Lagern im Iran und in Pakistan auf. Ich spreche von 3 Millionen afghanischen Flüchtlingen im Iran und 4 Millionen in Pakistan. Drastisch ist die Situation auch im Horn von Afrika, in Somalia, Äthiopien und im Sudan. Auch dort sind Millionen Menschen auf der Flucht.

Hofbauer: Und nicht zu vergessen die 2,2 Millionen Palästinenser, die in Syrien, Jordanien, Libanon usw. ein Leben in Wartestellung leben.

Feldmann: Richtig. Die Frage ist, inwieweit beteiligt sich der österreichische Staat an den Hilfeleistungen gegenüber diesen Ärmsten der Armen? Und da muß ich leider feststellen, daß Österreich für die teilweise kostenintensiven Aktivitäten meiner Organisation fast nichts leistet. Den finanziellen Beitrag zum UN-Hochkommissariat bestimmt hier das Innenministerium, von dem kann man doch nicht verlangen, daß es nach Asien oder Afrika schaut, und es tut es auch nicht.

Hofbauer: Es würde aber auch nicht besser sein, wenn das Außenministerium den Betrag bestimmte.

Feldmann: Die Frage, ob die Genfer Konvention heute ausreicht, um das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen, muß mit Nein beantwortet werden. Denn seit 1951 hat sich die Wirklichkeit der Flüchtlingsströme geändert. Damals waren es vor allem kommunistische Regimes, die im Aufbau begriffen waren und viele Menschen zur Flucht getrieben haben ...

Sari: ... und heute sondern es viel mehr der Hunger und die Not in der „3. Welt“, die Millionen von Menschen ihrer Lebensgrundlage berauben. Und diejenigen, die dagegen ankämpfen und sich politisch engagieren, sind besonders gefährdet und fallen der Repression anheim.

Feldmann: Heute ist es auch die Verletzung von Menschenrechten, die viele zur Flucht treibt. Die Definition der Flüchtlingskonvention ist auf Menschenrechte überhaupt nicht abgestimmt, sondern beschränkt sich auf politische, religiöse und ethnische Verfolgung. Das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Nahrung ... das kommt in der Genfer Konvention gar nicht vor. Wo solche Rechte nicht respektiert werden, haben Menschen nicht nur den Wunsch zu gehen, sondern sie befinden sich unter einem Zwang.

Lansky: Gerade weil sich die Situation weltweit immer mehr zuspitzt, fordere ich für Österreich die Verwirklichung einer sozialdemokratischen Forderung aus den 20er Jahren, nämlich die Schaffung eines Grundrechts auf Asyl. Das gibt’s in Österreich noch immer nicht, obwohl es schon im seinerzeitigen Dannebergschen Verfassungsentwurf dringestanden hat.

Auch muß sich Österreich von restriktiven asylpolitischen Tendenzen, wie sie derzeit in der europäischen Gemeinschaft Einzug halten, ganz bewußt abkoppeln. Unser Ziel kann es nicht sein, bei einer EG-Politik mitzumachen, die die freie Beweglichkeit innerhalb der EG fördert und gleichzeitig nach außen alles dichtmacht und sich abschottet.

Hofbauer: Danke für das Gespräch.
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