FORVM, No. 473-477
Juli
1993

Die milden Wonnen der Vernünftigkeit

Wolfgang Müller-Funk, Die Enttäuschungen der Vernunft. Von der Romantik zur Postmoderne‚ 192 Seiten, Edition Falter im GBV, Wien 1990

Sie kennen vermutlich alle, die Sie hier sitzen um einer „Vernetzung“ beizuwohnen, den traurigen alten Witz von den zwei Männern, die, einander unbekannt, auf einer Party ins Reden miteinander kommen. Doch da wir, Sie und ich, die wir vom Schreiben und Reden leben, meist ohnehin nur alte Witze neu erzählen, will ich auch den zum Besten geben, auch wenn Sie ihn schon kennen.

Die beiden Männer also, allein gekommen und gierig darauf, das Interesse einer großen Blonden zu erwecken, die in der Nähe steht, reden über dies und das, worüber man heute halt so redet, wenn man sich langweilt und sich doch in Szene setzen will, im Grunde nichts zu sagen ist und die Rede nur die Funktion hat, in ihr verborgen sich zu stilisieren; über Gemeinplätze somit, die scheinbar alle angehen und daher niemand, auf denen ex definitione ein jeder sich mit jedem trifft, wo aber keiner in Wirklichkeit zu Hause ist; deren Idole für das reale Leben belanglos sind, und von denen einzig wichtig ist, daß man die Regeln ihrer Verknüpfung kennt, will man am diskursiven Markt seinen symbolischen Stand behaupten. Also z.B. über die Notwendigkeit einer neuen Moral und die Dringlichkeit des Wertewandels; über den Zusammenbruch der Utopien und das Verschwinden des Subjekts; über das Ende der Geschichte und die Wiederkehr des Mythos; über den kommenden Gott und die Befreiung vom männlichen Denken.

Darüber plaudern die beiden also eine zeitlang, bis der eine den anderen an dessen Formulierungen zu erkennen glaubt und ihn fragt: „Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Autor des Bandes: »Différance und Selbstbehauptung. Essays zur Melancholie der Postmoderne«?“

„Ja, ja, der bin ich“, bekennt der glücklich Identifizierte und fragt mit banger Erwartung zurück: „Haben Sie mein Buch gelesen?“ „Natürlich“, erwidert der andere, „ich habe es mir gekauft.“

„Ach Sie waren das!“ kommentiert der überraschte Autor und weiß nicht, ob er sich bedanken, oder aus Scham über sein Geständnis nicht besser im Boden versinken soll. Ein Schuft und Heuchler ein jeder von uns, der in dieser traurigen Figur nicht sich selbst erkennt. Ein Klotz aber auch, wer die Verlegenheit nicht nachempfindet, in der sie sich befindet. Denn die persönliche Begegnung von Autor und Leser ist eine durchaus peinliche Begegnung, die dem Prinzip der Literatur zuwider läuft. Schreiben und lesen sind sehr einsame Akte, und die Literatur ein Mittel, die Menschen zu distanzieren, nicht, wie eine etwas ölige Ideologie es will, sie einander „näher zu bringen“. Zugleich ist Literatur aber auch ein Medium, das die Einsamkeit bewohnbar macht.

Wenn man schreibt, schreibt man zunächst für sich selber, schreiben ist ein kontrollierter, sehr disziplinierter Monolog, und insofern man dabei überhaupt einen Leser im Auge hat, bleibt der anonym und stumm. Wie das Heideggersche Gewissen wirkt er nur im „Modus des Schweigens“. Das gilt vor allem für jene Gattung, um die es hier zu tun ist, um die des Essays, der in seiner kanonischen Form bei Montaigne ein Medium der Selbstverständigung war; eine literarisch-philosophische Versuchsanordnung des Denkens, ein Reflexionsraum des sich bewußt zurückziehenden Individuums, für den allegorisch die Bibliothek im Turm steht, in der Montaigne seine Versuche unternommen hat. Die Materialien und Stoffe freilich, die er der Analyse unterwirft, indem er sie über Literatur, also schon Gedachtes, auf sich selbst zurückbezieht, entnimmt er der Außenwelt, er sammelt sie auf Reisen und bei seiner politischen Tätigkeit, bei seinen häuslichen und sexuellen Verrichtungen.

Der extreme Subjektivismus des klassischen Essays ist also immer durch einen ebenso extremen Objektivismus gebrochen, er ist niemals dialogisch aufgeweicht. Sein subjektivistisches Moment, die — um mit Kant zu reden — produktive Mobilisierung der „reflektierenden Urteilskraft“ neben dem „bestimmenden“ Gebrauch der Vernunft, unterscheidet den Essay vom Traktat und verbindet ihn mit der ästhetischen Formenwelt, die Tatsache aber, daß er in riskanter Weise Neues zu denken versucht, grenzt ihn ab vom Feuilleton, das in ausgewogener Sprache nur eine abgestandene Meinung pädagogisch verbreitet und immer eine Zielgruppe im Auge hat. Der Essayist dagegen spricht grundsätzlich ins Leere: Wie Nietzsche wendet Montaigne sich „an alle und niemand“, d.h. an niemand bestimmten. Wenn man Montaigne liest, hat man immer das Gefühl, eine Indiskretion zu begehen, und sieht sich höflich veranlaßt, jede Zudringlichkeit zu vermeiden. Auf seine Versuche war Montaigne genauso stolz wie jeder kleinere Autor auf die seinen, und die wachsende Berühmtheit hat ihn gefreut; doch über jeden einzelnen Leser ist er erschrocken.

Seine Essays — und nicht nur seine — sollte man daher so detachiert studieren, wie er sie einmal geschrieben hat: mit sich allein in seinem Zimmer. Unmöglich die Vorstellung, sie mit ihm auf einem Podium zu diskutieren. Die einzig angemessene Reaktion auf sie wären wiederum Essays, monologische Reflexionen über die je eigene Wirklichkeit, initiiert und unterstützt durch seine Reflexionen, hinter denen er verschwunden ist. Das „Verschwinden des Autors“, um das in letzter Zeit so viel Wind gemacht wird, ist ja zunächst und vor allem ein Vorgang, der Literatur im strikten Sinn erst ermöglicht, indem es die Autonomie des geschriebenen Textes garantiert; eine Autonomie, die der gesprochenen Rede mangelt. Zugleich ist es ein Akt der Diskretion und eine Schutzmaßnahme vor der Zudringlichkeit des Lesers. Ein „Dialog“ zwischen Autor und Leser ist nur im metaphorischen Sinn zu erstreben, in vitro gleichsam, als schriftlicher Kommentar zu Geschriebenem, in dem jener sich objektiviert hat. Das Wuchern der Kommentare ist selbst der Diskurs, in dem die Individuen verschwinden. —

Was wir hier tun, ist genau das Gegenteil. Wir wurden eingeladen und haben zugestimmt, die Diskretion zu durchbrechen, als mehr oder minder lebendige Autoren in der Rolle von Lesern Autoren in vivo zu besprechen, innerhalb einer ausgewählten, geschlossenen Gruppe, im Kreis herum, wie bei einem Ringelreihn. Jeder ist einmal Opfer und einmal Täter, doch soll er niemals Opfer seines Opfers sein.

Topologisch ergibt das zwar nicht, wie vorgesehen, eine „Vernetzung“, sondern eine lineare rekursive Verkettung, die auch in getrennte, unverbundene Ringe gespalten sein kann (bei dieser Veranstaltungsreihe sind es zwei), wohl aber ergibt das unter Umständen eine Peinlichkeit.

Diese Umstände liegen vor, wenn man seinen Deszendenten in der Besprechungskette persönlich näher kennt und an ihm gerade jene Eigenschaften schätzt, die man an seiner Essayistik als Mangel empfindet. Und genau das ist in meinem Verhältnis zu M.-F. und seinen Schriften in hohem Maße der Fall. Gewiß geht hier nur ein Text mich etwas an, aber hinter diesem steht sehr leibhaftig der Autor, und ich treffe ihn, wenn ich über jenen referiere und ich mich nicht aus persönlichen Gründen hinreißen lasse zur Schulterklopferei, zu der das ganze Setting einlädt. Widerstehe ich aber der Verlockung zur Korruption, so wird das, was ihm direkt gegenüber nur ein Lob sein könnte, durch die Vermittlung zum Tadel. Sie sehen, was für eine teuflische Situation entsteht, wenn man Personen statt über Texte „menschlich“ verknüpft — ein Beispiel für die Fallen gutgemeinter Sozialisation.

Der selbstverschuldeten Zustimmung zur Aufforderung des Programms, mich mit M.-F.s jüngster Publikation öffentlich und „offenherzig“ zu beschäftigen, komme ich daher nur mit einem ordentlichen Schuß Unbehagen und mit vorausblickender Reue nach; dies umso mehr, als die Beschäftigung eine „vertiefende“ sein soll — denn eine Vertiefung kann, wie man weiß, auch eine Verletzung sein. Um welche Eigenschaften handelt es sich nun, die, meiner Meinung nach, so verschieden zu bewerten sind, je nachdem, ob sie Charakteristika einer Person oder eines Textes sind, und die mir hier bei beiden vorzuliegen scheinen, weshalb es mir so schwer fällt, sie an letzterem „offenherzig“ aufzuzeigen, wie es die Ehrlichkeit gebietet?

Es handelt sich um das, was Hegel verächtlich die „Zärtlichkeit für die Dinge“ nennt, um eine einnehmend freundliche Haltung, die auch für die skurrilsten Absonderlichkeiten wohlwollendes Verständnis aufbringt, die zu jedem Nein ein Ja addiert und zu jedem Sowohl ein Alsauch; um einen Mangel an Intransingenz und an Härte, an Mutwillen des Stils und an Mut und Willen zur Überraschung; um das Vermeiden aller Extreme und Risiken der Radikalität, um eine apriorische Neigung zur Synthese gerade durch das Lob der Pluralität; um das Bemühen um Verbindlichkeit des Ausdrucks und um Abrundung aller Spitzen und Schärfen, um die Glättung von Widersprüchen und die Einebnung von Abgründen, um ein mimetisches Verhältnis zum Zeitgeist auf Basis einer fast jovial zu nennenden Gemütlichkeit, die jeden Streit vermeidet und immer umgänglich bleibt. Kurz: Um Moderation als Stilprinzip.

„Die Enttäuschungen der Vernunft“ nennt M.-F. seine Sammlung von 13 Essays, die Ende der 80er Jahre teils in der Wochenendbeilage der Presse erschienen, teils vom Bayrischen Rundfunk gesendet worden sind, und gibt ihr den Untertitel: „Von der Romantik zur Postmoderne“.

Lassen wir die etwas alberne Epochenbezeichnung „Postmoderne“ auf sich beruhen und halten wir nur fest, daß M.-F. einig mit allen ihren Verkündern, von Lyotard bis Vattimo und Kamper, die sogenannte „Postmoderne“ genau über jene Eigenschaften charakterisiert und von der Moderne abhebt, durch die einer der bedeutendsten Denker der Moderne, nämlich Paul Valéry, eben diese Moderne definiert, wenn er schreibt:

Ein Zeitalter empfindet sich als ‚modern‘, wenn es bei sich das Vorhandensein einer Vielzahl untereinander sehr verschiedener, ja sich gegenseitig ausschließender Lehrmeinungen, Richtungen, ‚Wahrheiten‘ feststellt, die gleichermaßen anerkannt sind, nebeneinander bestehen und in den gleichen Menschen zur Wirkung kommen. Diese Zeiten kommen uns darum verständnisvoller und ‚wacher‘ vor als jene, in denen nur ein einziges Ideal, ein einziger Glaube, ein einziger Stil das Regiment führen.

Also war die Moderne, nach dem Urteil eines ihrer Hohepriester und an postmodernen Maßstäben gemessen, schon die reinste Postmoderne und die Verwirrung ist komplett — einzig diese selbst erscheint noch typisch postmodern.

Lassen wir also den Unsinn, doch halten wir im Gedächtnis, daß die sogenannte „Pluralität der Lebensstile“, die M.-F. in fast jedem seiner Essays gegen die angebliche Monochronie der Moderne bemüht, von dieser selbst historisch zur Geltung gebracht wurde.

Bleibt die „Romantik“, und bleiben die „Enttäuschungen der Vernunft“. Was letztere betrifft, so will M.-F. die Botschaft des Titels, wie er im Vorwort schreibt, ambivalent verstanden wissen — Vernunft also gleichsam im genetivus subiectivus und im genetivus obiectivus. Versteht man diese Aussage nicht nur als hübsche literarische Figur, sondern nimmt man sie sachlich ernst, so bedeutet sie per se schon die Formulierung eines antiaufklärerischen Programms, das M.-F. allerdings, zu seiner Ehre sei es gesagt, mit seinen einzelnen Aufsätzen nur unvollkommen oder nur zum Teil erfüllt. Denn was ist es, was ihn an der Vernunft enttäuscht? Eben dies: daß sie ent-täuscht, daß sie Täuschungen zum Verschwinden bringt. Enttäuschend an der Vernunft findet M.-F. nicht, daß sie, wie manche behaupten, täuscht, oder, natürlich, fallweise täuscht, er wirft der Vernunft nicht vor, daß sie selbst es sei, die Täuschungen, die Chimären aufbaut — insofern unterscheidet er sich wohltuend von gängigen Formen des Irrationalismus —, sondern daß sie alle Täuschungen und Illusionen, alle sogenannten letzten Wahrheiten, die den Menschen einen Halt geben, auflöst und zum Verschwinden bringt. Anders gesagt: Was M.-F. an der Vernunft enttäuschend findet, ist nicht, daß sie ihr aufklärerisches Versprechen der Ent-täuschung bricht, sondern umgekehrt: daß sie es im historischen Prozeß tatsächlich erfüllt und letztlich eine Wüste hinterläßt, theoretisch und praktisch, denn eine Welt ohne Illusionen ist ihm — ob mit Recht, sei dahingestellt — eine Wüste.

Die Romantiker haben das geahnt und sind davor zurückgeschreckt oder sind daran zerbrochen, erst Nietzsche hat diesen Sachverhalt in aller Radikalität ausgesprochen — das ist ja eine der beiden konträren, aber miteinander kommunizierenden Bedeutungen des Begriffs „Nihilismus“ bei Nietzsche: er ist ihm bejubeltes Ergebnis des Denkens und dessen Jammer zugleich.

Nietzsche hat die Aufklärung radikal zu Ende gedacht, bis sie in ihr eigenes Gegenteil kippte, er hat die Reflexion nicht abgebrochen aus Angst vor ihren Resultaten und ist nicht, wie die späten Romantiker, wider besseres Wissen wieder in den Glauben eingekehrt oder in den Mythos, um dort ein bißchen Sinn zu finden und sich daran zu wärmen — in einen Glauben, der damals schon, bei dem historisch erreichten Stand der Reflexion, nur mehr ein „Aberglaube aus zweiter Hand“ (Adorno) gewesen ist — man fand zum Glauben, nicht, weil man glaubte, sondern weil man glauben wollte. Nietzsche hat diesen Ausweg verschmäht, und die besten Traditionen der modernen Kunst und Literatur nach ihm auch, wie etwa das Werk Gottfried Benns belegt.

Aber Nietzsches Nihilismus ist nicht die Sache M.-F.s, den will er ja gerade kupieren, mit Hilfe der Romantik. Zwar vollzieht er nicht deren späte Einkehr in den Glauben, aber er spielt mit ihm als Geste, er beschwört ihn immer wieder als angeblich notwendiges Lebensgefühl, als vage religiöse Befindlichkeit, als kosmische Schau auf das Ganze, und dabei fließt ihm sogar hin und wieder ein Satz aus der Feder wie der:

Für den heutigen Menschen könnte der Mythos ein wichtiges Medium der Verständigung darstellen.

(S. 60)

Als ob er das in gewissen Kreisen nicht ohnehin schon täte. Dabei weiß M.-F. natürlich sehr gut, was es im 20. Jahrhundert geheißen hat, als Menschen tatsächlich massenhaft sich via Mythos verständigten. Trotz seiner Belesenheit, die M.-F. in allen, thematisch sehr heterogenen, Essays an den Tag legt, ist ihm der schöne Satz Adornos entweder entgangen, oder er hat ihn nicht ernst genug genommen; der Satz nämlich: „Abgestorbene religiöse Zellen in einer säkularen Gesellschaft werden zu Gift.“ — Man muß das „Zivile“ immer noch, und heute wieder mehr als gestern, vor dem „Religiösen“ militant verteidigen, nicht, wie M.-F. mit abgeklärtem Gestus schreibt, die beiden „Bestandteile“ nur „entsprechend gewichten“. (S. 60) So eine schlampige Haltung qualifiziert in ländlichen Gebieten vielleicht für einen „Kulturstammtisch“, aber sie disqualifiziert für jede ernstzunehmende Essayistik.

„Es spricht“, so heißt es an anderer Stelle, „einiges dafür, die Dauerfehde zwischen aufgeklärtem Rationalismus und dem Numinosen zu beenden-“ (S. 59) — M.-F. erschiene dieser Friede wohl als Ausfluß einer repristinierten romantischen Empfindsamkeit, mir erscheint er als fauler Kompromiß — faul deshalb, weil er in Wahrheit nur bedeutete, dem Numinosen voll das Feld zu überlassen. Das aber will M.-F. natürlich nicht. Was er will, ist ein „vernünftiger“ Umgang mit dem Numinosen, mit dem Mythos, mit dem Geheimnis, mit dem Glauben, mit der Religion. Zugleich will er einen „vernünftigen“ Umgang mit der Vernunft. Tatsächlich ist das Buch „Die Enttäuschungen der Vernunft“ ein zutiefst vernünftiges Buch, es ist nicht im geringsten ein romantisches, es zitiert, es beschwört nur die Romantik, so wie ein Busek die „Kultur“ beschwört oder ein André Heller die „Phantasie“ — als „Bildungsgut“.

In Wahrheit preist das Buch weder die Romantik, noch die sogenannte „Postmoderne“, was immer das sein mag, sondern die Wonnen einer Vernünftigkeit, die möglichst wenig aneckt.

Dieses romantisch drapierte Plädoyer für „Vernünftigkeit“ durchzieht alle dreizehn Essays des Bandes, die ich, aus den oben angegebenen Gründen, eher geneigt wäre, süffig geschriebene Feuilletons zu nennen, und verbindet die ansonsten thematisch kaum zusammenhängenden Stücke — die reichen von einer Würdigung des — sich selbst übrigens durchaus aufklärerisch verstehenden — Mythentheoretikers Friedrich Creuzer, einem Zeitgenossen Schellings und Hegels, bis zu Reflexionen über die anthropologischen Auswirkungen der Gentechnologie; von einer amüsanten Geschichte der sagenumwobenen Insel „Atlantis“, die er liebevoll einer etwas blödelnden akademischen Subkultur widmet, welche die Suche nach ihr wieder aufgenommen hat, bis zu der auf mythologisierenden Umwegen gestellten, ihm nach der deutschen „Wiedervereinigung“ „brennender“ denn je erscheinenden Frage, ob denn Österreich ein Nation sei.

Diese Überlegungen basieren im übrigen, wie der Autor hervorhebt, auf einem Vortrag, den er am Tag des Trauergottesdienstes für Kaiserin Zita gehalten hat, und kommen zu dem, bei so viel deutscher Romantik kaum überraschenden Ergebnis, daß die zweite Republik eine „unmögliche“ Nation sei — hoffentlich ist sie nicht ebenso wenig eine Nation, wie die Zita eine Kaiserin war. Dazwischen finden sich locker informierende Berichte über das, was M.-F., aber durchaus nicht er allein, mit heroischer Vereinfachung die „neuere französische Philosophie“ nennt, und den in ihrem Umkreis ausgetragenen „Streit ums Subjekt“, sowie unter dem Titel: „Mutter Gaia kann sehr kalt sein“ eine kritische Auseinandersetzung mit dem „New Age“, der schärfste und wohl auch beste Text des ganzen Bandes.

Leider folgt auf ihn unmittelbar der höchst fragwürdige Aufsatz „Gott im Exil‘, ein Versuch über Fundamentalismus, Mythos und Moderne. „Die Grenze zwischen Aufarbeitung und Propaganda ist hauchdünn“, hat Peter Gorsen in einem ähnlichen Zusammenhang einmal geschrieben — hier scheint sie mir doch deutlich überschritten.

Ich will ja nicht gerade sagen, daß M.-F. selber mythelt und religiöselt, aber das Verständnis, das er für diese Befindlichkeiten aufbringt und mit dem er sie gegen ihre Verächter verteidigt, schlägt schon um in Propaganda.

Kaum einer wird ernsthaft bestreiten wollen, daß die Menschen in den Kapitalen wie an den Peripherien unter einem Mangel an sozialen Bindungen und Verbindlichkeiten, freiwilligen, d.h. selbstgesetzten, leiden.

(S. 59),

schreibt er. Na, ich weiß nicht. Aber ich glaube mich zu erinnern, daß die Nänie über den Verlust an Bindungen seit eh und je zu den Topoi konservativer Verheultheiten gehört. Es heißt dann weiter:

Es wurde übersehen [von der „Aufklärung“ versteht sich, die seit einiger Zeit für alles Elend dieser Welt haftbar gemacht wird, R. B.], daß Religion in einer ganz zentralen Art und Weise etwas schlechthin Soziales darstellt, einen gemeinsamen Bezugsrahmen, innerhalb dessen eine Gemeinschaft funktioniert, einen gemeinsamen Horizont, wie er in der christlichen Tradition (aber nicht nur dort) durch die Symbolik von Brot und Wein versinnbildlicht ist.

(S. 59)

In einer kapitalistischen Gesellschaft von „Gemeinschaft“ zu reden ist an sich schon Ideologie, und daß Religion, jede Religion, die sich selber ernst nimmt, einen ganz rigiden Wahrheitsanspruch stellt, daß es der Religionskritik daher darum ging, diesen Wahrheitsanspruch zu destruieren, von den Materialisten der französischen Aufklärung über Feuerbach, Marx, Schopenhauer, Nietzsche bis Freud, wird ausgeklammert. M.-F. wendet sich gegen beides: gegen den verpflichtenden Ernst der Religion und gegen die Konsequenz der Religionskritik; was bleibt, ist Reklame für ein vages religiöses Bedürfnis ohne Inhalt, für Religiosität als psychischer Weichmacher, der eine soziale Gemeinschaft kitten soll. M.-F. lehnt natürlich jeden Fundamentalismus ab, aber auch jede Radikalität der Kritik, womit er sympathisiert, ist ein verschnittenes „Opium des Volkes“, das zwar nicht berauscht, aber doch in einen angenehmen psychischen Dämmerzustand versetzt. Er möchte die „Dauerfehde zwischen aufgeklärtem Rationalismus und dem Numinosen beenden“, nicht weil er an das Geheimnis glaubt oder an die positiven Inhalte der Religion, welcher Provenienz auch immer, sondern weil er es für gesund hält und dem Wohlbefinden des Volkskörpers für förderlich, einen Glauben zu haben und einen „Sinn“.

Was jedem großen Theologen der Vergangenheit erbärmlich erschienen wäre und wovon die Redlichkeit David Humes sich noch nichts hatte träumen lassen (weshalb es in dessen „Dialogen über natürliche Religion“ auch keine Erwähnung findet), das taucht bei M.-F. als postmodernes Theologumenon auf: eine sozialtherapeutische Gedankenfigur, die ich auf den Namen „utilitaristischer Gottesbeweis“ taufen möchte. Im Unterschied zum kosmologischen oder ontologischen Gottesbeweis trifft dieser Beweis aus Bedürfnis in der heutigen Therapiekultur auf breites Einverständnis. Hauptsache, man glaubt irgendwas und nicht vielmehr nichts, dann ist man schon halb gerettet. Tatsächlich ist so ein schlampiger Umgang mit der Religion objektiv zynischer als der eines späten Nietzsche, der sie noch inhaltlich ernstgenommen hat, weshalb M.-F.s Plädoyer fast schon wieder, in einer zweiten Drehung gleichsam, sympathisch ist; allerdings nur so lange, als man vergißt, daß jede „liberale“ Religion nur ein schlafender Totalitarismus ist.

Es ist bezeichnend, daß in dem ganzen Aufsatz, und, wenn ich recht sehe, in dem ganzen Buch, in dem so viel von Religiösem, von religiösem Bedürfnis, von Numinosem, von Glaube und von Mythos die Rede ist, der Begriff „Ideologie“ kein einziges Mal vorkommt. Das ist weder Zufall noch ein Versehen.

Denn in seiner klassischen Bedeutung als „notwendig falsches Bewußtsein“ verweist der Begriff Ideologie über die ideologische Sphäre selbst hinaus auf materielle Verhältnisse, die ihrerseits diese Sphäre notwendig machen im doppelten Sinn: im Sinne von unausweichlich und im Sinne von unverzichtbar.

Jede Religionskritik, wie jede Kritik der ideologischen Formen überhaupt, muß daher, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden, diese transzendieren und zu einer Kritik der Verhältnisse übergehen, deren verquerer Ausdruck jene bloß sind. „Das Ideologische hat keine Geschichte“, schreibt Althusser im Anschluß an Marx, und das heißt: es hat keine eigene, aus sich selbst heraus verstehbare Geschichte, als Phänomen des Überbaus ist es abhängig von dem, was man die Basis nennt. M.-F. aber erschiene schon eine solche Terminologie, wie seine unzähligen kleinen Sticheleien und Seitenhiebe, die aber nie argumentativ ausgeführt sind, beweisen, als Ausdruck eines verbrauchten „altlinken“ und „altmarxistischen“ Diskurses, wie er sich ausdrückt, und deshalb gilt ihm das religiöse Bedürfnis als ewig und sein Ausdruck heute wieder legitim und an der Zeit.

Tatsächlich verhält es sich umgekehrt, und bei dem ganzen postmodernen Mythengeschwafel nur um eine Flucht: Je härter es an der Basis zugeht, desto weicher denkt man im Überbau, und in diesem an jene am besten gar nicht; da fährt man lieber nach Atlantis.

Wenn M.-F.s Essayband „Die Enttäuschungen der Vernunft“ in mindestens gleichem Maße ein Dokument wie eine Kritik des Zeitgeistes der späten 80er Jahre darstellt, dann hängt das mit jenem Umstand ursächlich zusammen: Mit dem Umstand, daß ein Buch, das vom Titel und vom Anspruch her als Zeitdiagnostik auftritt, auf die politische Ökonomie des Zeitalters mit keinem Wort und mit keinem Gedanken eingeht und die ideologischen Formationen als selbständige Gestalten behandelt ohne sie als ideologische Gestalten auch nur zu benennen, geschweige denn analytisch zu betrachten. Darin gründet auch der unterschwellige Moralismus des Buches: Man gewinnt den Eindruck, daß es genüge, seine Meinung über die Welt zu ändern, um diese selbst zu ändern, oder auch nur, wenn es denn unbedingt sein muß, zu erhalten. Insofern ist es tatsächlich einer, freilich etwas romantischen, Form von Aufklärung verpflichtet.

Dieses Urteil gilt allerdings nur für die thematischen, nicht für jene Teile des Buches, in denen M.-F. Autoren und Werke bespricht, die für sein eigenes Denken wichtige Orientierungsmarken darstellen. Dieser Rezensionsteil beansprucht immerhin mehr als ein Drittel des Umfangs des ganzen Buches — zusammen etwa 70 Seiten.

Neben dem schon erwähnten einleitenden Aufsatz über den Mythenforscher Friedrich Creuzer findet sich ein Porträt des Philosophen Hans Blumenberg, eine Vorstellung von Gregory Batesons „Ökologie des Geistes“ sowie ein Psychogramm des jüdischen, von den Nazis ermordeten (Anti-) Geschichtsphilosophen Theodor Lessing. In diesen Arbeiten zeigt sich die Prosa M.-F.s von ihrer besten Seite, und gerade jene wohlwollende, unverbindliche Verbindlichkeit, die ich in den thematischen Arbeiten als Schwäche empfinde, jene Offenheit des Denkens nach allen Seiten, die dort nur Zugluft schafft und die Hegel, jener Autor, der M.-F. Anathema ist, in seiner drastischen Art wohl als „eine Art kotzebuescher Versöhnung, eine liederliche Verträglichkeit der Empfindsamkeit mit dem Schlechten“ genannt hätte, die wirkt hier als positive Eigenschaft seiner Hermeneutik sich aus. Es gelingen ihm einfühlsame, plastische Porträts und verständnisvolle, informative Werkkommentare, die Appetit darauf machen, die Originale zu lesen.

M.-F. schließt seine Sammlung mit einer Kritik der gegenwärtigen Literaturkritik. Am Ende des Bandes plaçiert, ist sie dessen überraschende, wenn auch wohl unfreiwillige Pointe. Der bis dahin selbst so unpolemische, bittweise zuredende Autor beklagt hier nämlich das Verschwinden der Polemik und mahnt deren literarische Wiederbelebung ein. Er schreibt:

Warum ist uns die Streitlust abhanden gekommen, jenes Lebenselexier literarischen Lebens und kritischer Öffentlichkeit? Es hat den Anschein, als ob eine solche Öffentlichkeit nicht mehr in die Zeit von Interessenausgleichen, von Taktik und gewerkschaftlicher Organisation und Minimierung von Konflikten paßt. Wir leben in einer pazifizierenden Gesellschaft, die auch die geistige Fehde, in der man Position bezieht, Stellung nimmt (übrigens militärische Metaphern), aus dem öffentlichen Dialog verbannt.

(S. 190)

Recht hat er. Ich habe mir seine Mahnung zu Herzen genommen.

Ein Dutzend AutorInnen machte sich übereinander her: Unter dem Titel Geistesgegenwart zerfiel das angestrebte „Netzwerk“ schon durch die Anordnung des Literarischen Quartiers der Alten Schmiede in zwei hermetisch getrennte Ringelreih-Gruppen, wo jeweils die/der nächste das Opfer der/des vorigen war.

Gruppe 1: Wolfgang Müller Funk — Alfred Pfabigan — Josef Haslinger — Konrad Paul Liessmann — Rudolf Burger — Wolfgang Müller-Funk (diesen also trifft unser Beitrag).

Gruppe 2: Robert Menasse — Marie-Therèse Kerschbaumer — Werner Vogt — Oliver Rathkolb — Franz Josef Czernin — Gerhard Amanshauser — Richard Heinrich — Robert Menasse.

Da die Anordnung gemäß Konzeption (Kurt Neumann) ausschloß, daß zwei jemand vom eigenen Gegenstand besprachen werden konnte, gab’s keinen Grund zum Abtausch besonderer Freundlichkeit, so war einer schätzenswerten Aufrichtigkeit die Schleuse (danke) geöffnet.

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