FORVM, No. 198/II/199
Juni
1970

Die Oekologie-Bombe tickt

Während in Südostasien ungebetene amerikanische Soldaten fremde und in manchen Lebensqualitäten ihnen überlegene Völker in den American Way of Life hineinzubombardieren versuchen, ist in den USA selbst eine mächtige Bewegung aufgebrochen, die den American Way of Life grundsätzlich in Frage stellt. Die Mythen der amerikanischen Zivilisation — der Traum vom unendlichen technischen Fortschritt und vom ungehemmten Wachstum der Produktion — werden verantwortlich gemacht für zunehmende Verseuchung unserer natürlichen Umwelt mit Giftstoffen und Abfallprodukten aller Art, die nach Ansicht mancher Unheilspropheten die Erde über kurz oder lang unbewohnbar machen werden. Einige gehen dabei so weit, zu behaupten, der Menschheit seien bloß noch wenige Dezennien Lebenszeit gegönnt, wenn sie im bisherigen Ausmaß und Tempo fortfahre, Erde, Luft und Wasser zu vergiften und durch Manipulationen aller Art die Natur aus ihrem inneren Gleichgewicht zu bringen.

In Europa ist die „Umweltsforschung“ bisher das Reservat einiger weniger Wissenschafter geblieben, die aber zum Teil ebenfalls zu alarmierenden Ergebnissen gelangen. So hat der führende französische Umweltsforscher Professor Jean Dorst kürzlich die Behauptung aufgestelit, die Menschheit würde nur für wenige Jahrhunderte genügend Sauerstoff zum Atmen haben, wenn sie im bisherigen Stile fortfahre, ihre natürliche Umwelt zu zerstören. Er verwies dabei auf die konstante Zunahme des Kohlendioxyds in der Atmosphäre, eine Folge der Verringerung der Vegetation und der Verseuchung der Luft durch die Abfallprodukte unserer technischen Zivilisation. Zum Beispiel verbrauche ein Düsenflugzeug auf dem Wege von Paris nach New York 36 Tonnen Sauerstoff.

Die Zunahme von Kohlendioxyd in der Luft sei heute in Frankreich nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande festzustellen. Daraus resultiere eine Erwärmung der Luft, was zu einer Veränderung des Klimas führe.

In den USA ist die Umweltskrise zu einem viel und heftig diskutierten Problem geworden, das alle Zeitungen füllt, Gegenstand wissenschaftlicher Kongresse ist, bereits gebieterisch in die Politik eingreift, die Studenten mobilisiert und die Kirchen beschäftigt. Das Wort „environment“ (Umwelt) erscheint heute in der Presse mindestens so oft wie das Wort „Vietnam“ (respektive neuerdings „Kambodscha“).

Die Ökologie — das heißt die Wissenschaft, die sich mit den Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umwelt befaßt — ist drauf und dran, eine Modewissenschaft zu werden, die der Soziologie den Rang abläuft, und an den Universitäten spezialisieren sich immer mehr Wissenschafter aus den verschiedensten Fachgebieten auf ökologische Probleme.

Vielleicht die interessanteste Entwicklung ist auf kirchlich-theologischem Gebiet zu verzeichnen. Schon zu Beginn der sechziger Jahre hatte sich eine kleine „Glaube-Mensch-Natur-Gruppe“ gebildet, die im Verlauf vieler Konferenzen so etwas wie eine „Theologie der Natur“ — man spricht auch bereits von einer „Ökologischen Theologie“ — auszuarbeiten versuchte und die ihre Ergebnisse in einem Buch „Die Christen und die gute Erde“ zusammenfaßte.

Aber erst in jüngster Zeit sind breitere kirchliche Kreise auf die Probleme der Ökologie aufmerksam geworden, und zwar — abgesehen von der unmittelbaren Erfahrung der Umweltsverseuchung — wesentlich aus zwei Gründen. Der eine ist die 1964 erfolgte Veröffentlichung einer durch Aldous Huxley angeregten Übersetzung des in Europa fast unbekannt gebliebenen Buches des französischen Jurisprudenz-Professors Jacques Ellul: „La technique ou l’enjeu du siècle.“ (In der amerikanischen Übersetzung: „The Technological Society.“)

Das Buch ist mit einem Vorwort des bekannten amerikanischen Soziologen Robert K. Merton erschienen und von John Wilkinsoen, einem der führenden Geister des in „fortschrittlichen“ Kreisen Amerikas renommierten „Center for the Study of Democratic Institutions“ im kalifornischen Santa Barbara übersetzt worden. Dieses Buch ist eine durch ihre Radikalität provozierende Unheilsprophetie: gegen die technologische und technokratische Entwicklung ist kein Kraut gewachsen, diese Entwicklung ist irreversibel, die Menschheit schreitet stürmischen Schrittes auf eine unheilvolle Weltdiktatur der Technik zu, in der der Mensch untergehen wird.

Ellul gibt sich in diesem Buche als ein moderner Dante, der seine Leser vor das Höllentor mit der Aufschrift „Laßt alle Hoffnung fahren ...“ führt. Aber bald wurde bekannt, daß es neben Ellul, dem Unheilspropheten, auch noch einen Ellul als Heilspropheten gibt: der vielseitige Rechtsprofessor aus Bordeaux bekennt sich zur Theologie von Karl Barth, und er hat in anderen Büchern von dieser Theologie her die Christen zur Umkehr aufgerufen. Ein Aufruf, der in kirchlichen Kreisen Amerikas nicht ungehört blieb.

Aber wichtiger für das Entstehen einer „Umweltstheologie“ war vielleicht ein zweites: Es ist von einigen Ökologen der Kirche gegenüber der Vorwurf erhoben worden, die ganze technologische Entwicklung des Abendlandes — und dadurch auch die durch sie verursachte Umweltskrise — sei letztlich zurückzuführen auf das biblische „Seid fruchtbar und mehret euch“. Eben das habe der Mensch blindlings und raffgierig getan, indem er sich verantwortungslos vermehrte und rücksichtslos die ganze Natur zu beherrschen und auszubeuten trachtete.

Durch diesen Vorwurf fühlten sich nun kirchliche Kreise um so mehr herausgefordert, als sie seine Berechtigung schwer bestreiten konnten. Man begann, über das Verhältnis von Mensch und Natur nachzudenken, und bald verkündeten die Umweltstheologen, die traditionelle philosophische und theologische Naturauffassung sei überholt: die Natur könne heute nicht mehr als ein starres System betrachtet werden, sondern sie sei ein Prozeß, der voller Möglichkeiten sei, Mensch und Natur seien in einer gemeinsamen Geschichte verbunden, der Natur komme ein eigener Wert zu, der Mißbrauch der Natur habe auch das Verhältnis der Menschen untereinander korrumpiert und der Mensch müsse der Natur gegenüber ein neues Verantwortungsgefühl entwickeln.

Als Auftakt zur „Erdwoche“, die in ganz Amerika vom 20. bis zum 26. April „gefeiert“ wurde, hatten die Kirchen den 19. April zum „Umweltssonntag“ erklärt, an dem die Pfarrer von den Kanzeln herab ihren Gemeinden ins Gewissen redeten, die Erde als ein zu pflegendes Heim und nicht mehr bloß als Abfalleimer und Ausbeutungsobjekt zu betrachten.

So wurde etwa in der National Cathedral in Washington eine „Liturgie der Erde“ verlesen: „Herr Gott, wir bekennen hier in Deiner Gegenwart, daß wir individuell und kollektiv keine guten Verwalter Deiner Erde gewesen sind. Wir haben die Luft verpestet, die Wasser verschmutzt, den Boden vergiftet und haben uns dabei gegenseitig schwer geschadet ... Wir bereuen diese und alle anderen Sünden aufrichtig. Gib uns die Kraft und die Führung, wiedergutzumachen, was wir getan haben, und schenke uns die Erleuchtung, einen neuen Lebensstil zu finden.“

Einen neuen Lebensstil zu finden: die Umweltstheologen sind sich der Tatsache bewußt, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur ein Reflex seines Verhältnissess zum Mitmenschen und zur Gesellschaft ist. So entdeckt die Umweltstheologie, die sich auch schon eine „Theologie des Überlebens“ genannt hat, immer mehr ihre gesellschaftliche Relevanz.

Man wendet sich gegen die „amerikanische Anbetung des Nationaleinkommens“, gegen die gedankenlose Verehrung des wirtschaftlichen Wachstums und gegen ein Nützlichkeitsdenken, das Natur und Gesellschaft nur als Gegenstand möglicher Rendite betrachtet. Auf den Sinn und die Qualität des Lebens komme es an, nicht auf die Quantität der Dinge.

So verwandelt sich die neue Umweltstheologie in eine Sozialkritik, die den geheiligten American Way of Life grundsätzlich in Frage stellt und offen seine „Entmythologisierung“ fordert. Es handelt sich dabei um eine durchaus ernst zu nehmende Bewegung, was allein die Tatsache beweist, daß im Oktober in Washington ein Kongreß stattfinden wird, an dem über 800 Theologen und Pfarrer drei Tage lang über das Thema „Menschliches Überleben und Qualität des Lebens“ diskutieren wollen.

Die Bewegung hat inzwischen auch die Studenten erfaßt. Zwar verdächtigen manche radikale Studenten den ganzen Umweltskreuzzug als eine Erfindung des „Establishments“ zur Verschleierung der eigentlichen sozialen und politischen Probleme, aber für eine aktive Minderheit von Studenten hat dieser Umweltskreuzzug gerade wegen seines sozialkritischen Aspekts doch schon eine ähnliche Bedeutung gewonnen wie jener Kreuzzug für die Rassenintegration, aus dem die radikale amerikanische Studentenbewegung erwachsen ist.

An der Universität Berkeley existiert bereits ein sehr aktives „Ecology Action Education Institute“, und am 22. April, der zum „Erdtag“ proklamiert worden war, fanden an fast allen Universitäten Amerikas Kundgebungen und Aufklärungkampagnen statt. Eine Gruppe von etwa 70 Studenten hatte sich zu einem 800-Kilometer-„Überlebens-Marsch“ von Sacramento nach Los Angeles aufgemacht, den man als „Periode des Übergangs zu einem neuen Leben“ bezeichnete.

Am Erdtag kamen Studenten auf Pferden und mit Fahrrädern zur Universität, und einige hatten Gasmasken umgehängt, um so symbolisch gegen die durch das Auto verursachte Luftverpestung zu demonstrieren. Da und dort wurden feierlich mit Kränzen geschmückte Automotoren beerdigt. Auf einem der Kränze stand zu lesen: „Vergib mir!“

Am Erdtag wurde mir in der Universität von Santa Barbara — wo einige Tage zuvor im Verlauf einer Demonstration ein Student „unabsichtlich“ von einem Polizisten erschossen worden war, Wochen vor der Invasion in Kambodscha — ein ökologisches Manifest in die Hand gedrückt, dessen Hauptpunkte lauten: Verbrauche nicht mehr, als du unbedingt zum Leben nötig hast; überwinde die „Ich will haben“-Lebensphilosophie; iß, um zu leben, lebe nicht, um zu essen; bekämpfe die sozialen Mythen „Wachstum — Fortschritt — Entwicklung“; bekämpfe die gesellschaftliche Forderung nach Kinderproduktion und großen Familien; fahre weniger Auto, benutze Reitwege, öffentliche Verkehrsmittel, geh mehr zu Fuß, nimm das Fahrrad ...

Gleichzeitig werden Anweisungen gegeben, wie man DDT und andere Pestizide durch natürliche Pflanzengifte ersetzen kann und welches die für die Umwelt am wenigsten gefährlichen Waschmittel sind. Der Leser wird aufgefordert, in den Geschäften keine Produkte in Wegwerfflaschen oder unzerstörbaren Plastikbehältern mehr zu kaufen, da diese die Abfallberge wachsen lassen, deren Beseitigung immer größere Probleme stellt und enorme Summen verschlingt.

Gewiß sieht das alles etwas nach Bildersturm aus. Einem Versuch, die wissenschaftlich-technische Revolution rückgängig zu machen und die Autobahnen in Reitwege zu verwandeln, wird zweifellos kein Erfolg beschieden sein. Aber wesentlich ist, daß in diesem in gutem Sinne typisch amerikanischen Umweltskreuzzug sich ein neues Bewußtsein vom Sinn und Wert des Lebens herauszubilden beginnt. Ein Bewußtsein, daß das menschliche Leben als solches durch eine weitere unreflektierte und ungehemmte Entwicklung von Wissenschaft und Technik in einer primär an Leistung, Erfolg und Rendite orientierten Genußgesellschaft gefährdet wird.

So sollen die Kinder Frankensteins — wie Herbert Muller seine Landsleute in einem unter diesem Titel erschienenen Buch nennt — ihrem technokratischen Glauben an Macht, Profit und Produktivität und damit ihrem „amerikanischen Traum“ abschwören, um ihn durch den „Traum von der guten Erde“ zu ersetzen, die es zu erhalten und zu hegen gelte, einen Traum, der gleichzeitig ein solcher von einer besseren Gesellschaft ist.

II.

Das Insektenvertilgungsmittel DDT, das vor allem in der Bekämpfung der Malaria große Erfolge aufzuweisen hat, löst sich in Wasser kaum auf, wird auch durch Mikroorganismen nur sehr langsam abgebaut und bleibt deshalb im Boden jahrelang wirksam. Hingegen hat es die Eigenschaft, in Fetten lösbar zu sein, was bedeutet, daß es sich in Menschen und Tieren ablagert. Es gelangt in den Körper pflanzenfressender Tiere und über diese in den Körper der fleischfressenden. Das Tier, das am Ende der Nahrungskette steht, akkumuliert eine besonders hohe DDT-Menge in seinem Organismus, was auch vom Menschen gilt, der schon als Säugling mit der Muttermilch DDT aufnehmen kann.

Über Flüsse und Atmosphäre gelangt das DDT aber auch in die Meere. So ist der DDT-Gehalt des Baltikums vom schwedischen Ökologen Dr. Lundholm als „ziemlich erschreckend“ bezeichnet worden, da die Toleranzgrenze schon beinahe erreicht sei. Insbesondere die Heringe weisen hohen DDT-Gehalt auf, aber am schlimmsten ist es bei den Fischvögeln, die diese Fische fressen. Amerikanische Ökologen wie Murdoch und Connell behaupten, daß heute die Seeadler und Pelikane infolge der von ihnen angespeicherten großen DDT-Mengen bereits am Aussterben seien.

Die Auswirkungen des DDT auf den menschlichen Organismus kennt man noch nicht. Aber Professor Larry Ruff meint, das DDT habe Probleme geschaffen, die beinahe so schlimm — manche meinten: noch schlimmer — seien als diejenigen, die man mit ihm lösen wollte.

Durch den Bau des Assuandamms am oberen Nil wollte man Überschwemmungen verhindern sowie Wasser für Bewässerungsanlagen und Elektrizitätswerke gewinnen. Nun hat aber das bisherige jährliche Hochwasser des Nils wertvolle Futterstoffe für die Fische ins Meer geschwemmt. Seit dem Bau des Dammes bleiben diese aus, und statt der früheren 18.000 t Sardinen pro Jahr können heute im östlichen Mittelmeer nur noch 500 t gefischt werden.

Außerdem hatte das Entstehen eines Stausees bedenkliche Nebenwirkungen. Die Wasserschnecken, die früher in den Trockenperioden in großen Mengen zugrunde gingen, haben sich beängstigend vermehrt. Diese Schnecken dienen aber den Larven eines Insekts als Zwischenwirt, das unter den Menschen eine Schistosomiasis genannte Krankheit verbreitet. Diese hat an Ausmaß und Heftigkeit inzwischen unter der Bevölkerung des oberen Niltals stark zugenommen. Das ruft nach einer Schnecken- und Insektenvertilgungsaktion, was aber bedeuten würde, daß man den Nil vergiften muß. Er würde dann, statt natürliche Futterstoffe für die Fische, Gift ins Meer tragen ...

Das sind einige der Probleme, mit denen sich die amerikanischen Ökologen heute in ihren Instituten und an zahlreichen Konferenzen beschäftigen. Ganz besonders hat sich dieser Probleme eine private Institution angenommen, deren Name sie dazu freilich nicht als prädestiniert erscheinen läßt: das „Center for the Study of Democratic Institutions“ im kalifornischen Santa Barbara. [1] Diese über 100.000 Mitglieder zählende, politisch einer demokratischen Linken verpflichtete Organisation — die Millionäre, die in diesem paradiesischen amerikanischen Ascona ihren Lebensabend verbringen, nennen das „Center“ den „kleinen Kreml auf dem Eukalyptushügel“ — hat sich bisher wesentlich nur mit Strukturfragen einer demokratischen Gesellschaft und einer globalen Friedensorganisation befaßt.

Nun hat man die Wechselwirkung zwischen Technologie (und damit auch Ökologie) und Politik erkannt und sagt sich, daß die besten politischen Institutionen nichts nützen, wenn einerseits die praktische Politik als solche immer mehr zum Instrument der Technik — freilich auch der hinter ihr stehenden Interessen — und damit selbst zu bloßer Technik wird, andererseits die Gefahr besteht, daß dieselbe Technik über kurz oder lang die Erde zu einem unbewohnbaren Planeten macht.

Zweitens wirft die Ökologie neue politische Probleme auf, da zum Beispiel die Verseuchung der Meere und der Atmosphäre nach internationalen Vereinbarungen und Institutionen zu deren Eindämmung und Kontrolle ruft.

So hat Elisabeth Mann Borgese — eine Tochter Thomas Manns —, die der Leitung des „Center“ angehört, ein Statut für ein „Ozeanregime“ ausgearbeitet, dessen Aufgabe es sein soll, die Meere als gemeinsames „Sozialeigentum“ der Menschheit zu verwalten, ihre Verwendung für ausschließlich friedliche Zwecke zu garantieren und eine rücksichtslose Ausbeutung ihrer Tierwelt und ihrer Mineralien ebenso wie deren bedenkenlose Verseuchung zu verhindern.

Ende Juni organisiert das „Center“ auf der Insel Malta unter dem Motto „Pacem in Maribus“ eine Konferenz, an der etwa 250 Ökologen, Politologen und Diplomaten aus aller Welt teilnehmen werden und die den Statutenentwurf für ein Ozeanregime diskutieren soll. (Das ganze Unternehmen erfreut sich des Wohlwollens der UNO.) Um diese Großkonferenz auf Malta vorzubereiten, hat das „Center“ fünf vorbereitende Konferenzen in Santa Barbara durchgeführt.

Wenn die fünfte dieser Konferenzen, über die hier zu berichten ist, symptomatisch war für den Stand des Wissens über die Umweltkrise, dann muß leider gesagt werden, daß wir vorläufig nur über sehr wenig exakte wissenschaftliche Daten verfügen, daß wir entsprechend über die zukünftige Entwicklung nur vage Vermutungen äußern können und daß vor allem die langfristigen Auswirkungen auf den Menschen und die Menschheit als solche so gut wie unbekannt sind.

Es besteht zwar Einigkeit darüber, daß die Kombination von Faktoren wie: Zunahme der Erdbevölkerung; durch Verbrennungsrückstände verursachte Zunahme von CO2 in der Atmosphäre; Verseuchung von Erde, Luft, Wasser durch Chemikalien und Abfälle aller Art; Zunahme der Radioaktivität in der Atmosphäre; bewußte oder ungewollte Beeinflussung des Klimas usw., zu einer Umweltkrise geführt haben. Über das Ausmaß und die Gefährlichkeit dieser Krise jedoch besteht keine Einigkeit.

Die einen fürchten, daß es, entwickeln die Dinge sich weiterhin wie bisher, schon in wenigen Jahrzehnten zu einer globalen Katastrophe kommen könnte, andere hingegen sprechen von einer Übergangskrise der wissenschaftlich-technischen Revolution, die die Menschheit werde meistern können.

Entsprechend herrscht Uneinigkeit über die anzuwendenden Mittel: die einen fordern ein radikales Umdenken, ja eine eigentliche Umkehr der Menschheit und eine Revolution der Werte, von denen wir uns im Privat- und Wirtschaftsleben sowie in der Politik leiten lassen; daher ist von der Notwendigkeit einer Änderung unserer sozio-ökonomischen Strukturen die Rede. Andere wiederum glauben, das Problem werde auf rein technologischem Wege gelöst werden können.

Eben dies aber, so antworten die ersten, hieße den Teufel mit Beelzebub austreiben, denn technologische Lösungen würden — falls sie die bestehenden Probleme überhaupt zu lösen vermöchten, was sehr fraglich sei — nur wiederum neue technologische und damit auch ökologische Probleme schaffen.

Was nun zunächst den Ozean anbelangt, so wird heute von einer „Meeresrevolution“ gesprochen, die sich an die Agrar- und Industrierevolution anschließe und die gekennzeichnet sei durch die Stichworte: Fischfang, Ausbeutung der Mineralien, Verwendung der Meere für militärische Zwecke sowie für Wissenschaft, Technik und Erholung. Während Fischereiexperten wie die Professoren Wilbert Chapman und Milner Schäfer der Ansicht sind, die bestehenden internationalen Vereinbarungen seien durchaus wirksam und genügten, um die Probleme der „marine revolution“ zu lösen, vertreten andere Ökologen einen eher pessimistischen Standpunkt.

Durch Verseuchung und räuberische Ausbeutung des Fischbestandes, so meinte Professor Joseph Connell, seien bereits einige Fischarten so dezimiert worden, daß das innere ökologische Gleichgewicht der Meere gestört zu werden drohe, Wenn am Ende der Nahrungskette Arten ausgerottet werden, hat das große Änderungen an der Basis zur Folge. Lundholm wies darauf hin, daß die Ozeane das letzte Sammelbecken für sozusagen alle Verseuchungsmaterien der Industriegesellschaft sind. Die feststellbaren Auswirkungen auf das Leben in den Meeren seien jetzt schon als ernst zu bezeichnen. In der Irischen See sei es vor kurzem zu einer biologischen Katastrophe gekommen — Massensterben von Fischen und Vögeln —, deren Ursache man noch nicht habe herausfinden können.

Ähnliche Probleme stellen sich in bezug auf die Atmosphäre. Professor Wendell Mordy forderte auch hier internationale Institutionen zur globalen Kontrolle der Luftverseuchung und Klimabeeinflussung.

Man spricht von einer Umleitung des Golfstroms, vom Schmelzen des Eises in der Arktis — eventuell durch Atomexplosionen —, von der Eindämmung der Beringstraße, um arktisches Wasser in den Pazifik pumpen zu können, von der Schaffung eines den Saturnringen ähnlichen Kreises von Natrium rund um den Erdball, um eine 12prozentige Erhöhung der Sonnenwirksamkeit zu erreichen, usw.

Im Gegensatz zum Ozean gibt es heute für die Atmosphäre überhaupt noch kein wirksames Kontrollsystem, Die Gefahr besteht, daß wir, ohne die möglichen Folgen zu kennen, die Atmosphäre und damit auch das Klima auf irreversible Weise beeinflussen.

Aber was soll und kann auf nationaler Ebene getan werden? Auch hier herrschte Uneinigkeit. Professor Larry Ruff entwickelte am Beispiel von Los Angeles seine These, daß die Großstädte sich nicht in ökologische Krisenherde verwandelt hätten, hätte man die selbstregulierenden Kräfte des Marktes walten lassen. Man baute Autobahnen durch Los Angeles, um die Luftverpestung zu bekämpfen, und pumpte von fern her Wasser in die Stadt, um dem Wassermangel zu begegnen. Mit dem Resultat, daß es heute noch mehr Autos gibt als früher, die Bevölkerung weiter zunimmt und der Wasserbedarf erst recht zugenommen hat, da nun jeder auch sein Schwimmbassin haben will. Hätte man die kritische Situation sich selbst regulieren lassen, wären die Menschen gezwungen gewesen, aus Los Angeles auszuziehen.

Andere wiederum neigen zu vermehrten planwirtschaftlichen Eingriffen und Kontrollen und verlangen vor allem eine radikale Änderung der politischen Maschinerie, in der die Entscheidungen getroffen werden, da diese in Amerika noch aus der Postkutschenzeit stamme. Entscheidend sei die Transparenz des Entscheidungsprozesses und die Beteiligung der Öffentlichkeit.

Wieder andere erklärten, daß solche Wandlungen ohne Wandlung des Sozialsystems nicht möglich seien. Robert Jungk forderte die Ökologen auf, sich mit den tieferen philosophischen, sozialen und politischen Ursachen des gegenwärtigen pathologischen Zustandes der Beziehungen zwischen Mensch und Natur zu befassen. Dr. Oliver Bryk erklärte, die Rücksichtslosigkeit in unserem Verhalten gegenüber der natürlichen Umwelt entspreche der Rücksichtslosigkeit in unserem Wirtschaftssystem.

Andere wiederum unterbreiteten Vorschläge, wie man die Unternehmen zwingen könnte, die „Umweltskosten“ selbst zu tragen, die sie bisher auf die Gesellschaft abwälzten. Am weitesten geht das Projekt des „Center“-Mitglieds Harvey Wheeler, der nichts weniger als die Errichtung eines umfassenden zweiten Parlamentssystems verlangt, das neben dem bestehenden politischen sich ausschließlich mit der Kontrolle von Wissenschaft und Technik befaßt.

In diesen Diskussionen tauchte eine besondere Schwierigkeit auf: die westlichen Ökologen stoßen auf den geschlossenen Widerstand der dritten Welt. Deren Vertreter erklären, es handle sich bei den Vorschlägen, wie die Umweltskrise zu meistern sei, bloß um Manöver der reichen Industrienationen, die industrielle Entwicklung der dritten Welt zu verhindern.

Das liegt natürlich keineswegs in der Absicht der Ökologen, aber in der Tat haben einige von ihnen Vorschläge unterbreitet, die ähnliches zur Folge haben könnten. Gemeint sind diejenigen, die die Umweltskrise wesentlich als Folge des ungehemmten, zum Fetisch gewordenen, sich der Wissenschaft und Technik bedienenden wirtschaftlichen Wachstums interpretieren und diesem mit der Parole einer „Zero-Growth-Economy“ — einer „Null-Wachstums-Wirtschaft“ — den Kampf ansagen. Der industrielle und technische „Fortschritt“, die dauernde Erhöhung des Nationaleinkommens, so meint diese Gruppe, sei vom ökologischen Standpunkt aus katastrophal; der Lebensstandard erhöhe sich umgekehrt proportional zur Lebensqualität.

Daß eine solche Theorie für die dritte Welt inakzeptabel erscheint, ist verständlich, und man muß sich fragen, ob sie nicht überhaupt illusionär ist. Was leider im Verlaufe der Konferenz nur einmal kurz angetönt wurde, dürfte realistischer sein: würde man auch nur einen Teil der für den Vietnamkrieg und für sonstige militärische Rüstung ausgegebenen Unsummen zur Bekämpfung der Umweltskrise verwenden, wären wir in deren Lösung schon einen gewaltigen Schritt weiter.

So erweist sich das ganze Problem der vielleicht das Überleben der Menschheit in Frage stellenden Umweltskrise letztlich als eine Frage der Werte oder Unwerte, die unsere Industriegesellschaft und unsere technische Zivilisation inspirieren, damit als eine philosophisch-politische, für manche sogar religiöse Frage schlechthin. Die Umweltskrise markiert, wie die Atombombe, einen Wendepunkt in der Entwicklung der Menschheit. Es gilt, diesen als solchen zu erkennen und aus dieser Erkenntnis die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Eine gute Erde setzt eine gute Gesellschaft voraus.

[1Mit dem CSDI steht das NF in engem Kontakt auf dem Weg über das zu Ostern 1968 gemeinsam begründete „International Dialogue Committee“, das im Juli 1969 erstmals in Wien tagte („Chancen der Revolution in einer industriellen Gesellschaft“) und im Oktober 1970 erneut in Wien zusammentreten wird („Strategie und Theologie des Überlebens“). Vorsitzender des IDC ist Arnold Künzli, Autor obigen Textes, Sekretäre sind John Wilkinson (Santa Barbara) und G. N. Zu den Mitgliedern gehören unter anderen Elisabeth Mann Borgese, Harvey Wheeler, ferner Roger Garaudy, Giulio Girardi, Ivan Illich und die Österreicher Wilfried Daim, Ernst Fischer, Eduard März, Prälat Leopold Ungar. Die englischsprachige Ausgabe des NF, DIALOGUE, der 1968/69 ihr junges Lebenslicht ausging, wird ab Mitte 1970 als Zeitschrift des IDC wiederum erscheinen.

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