FORVM, No. 157
Januar
1967

Die Prüfung

Ich hatte mir insgeheim schon lange gewünscht, Heimito von Doderer einmal aus der Nähe zu sehen, als aber sein Sekretär und Mitarbeiter, mein Freund W. F., mich wissen ließ, der große Mann wünsche mich in Augenschein zu nehmen, waren meine Gefühle doch etwas zwiespältig. Anlaß für den Augenschein gaben meine ersten Schreibversuche, von welchen W. F. ihm erzählt hatte.

Ich brachte also schon einige Befangenheit mit, vergaß sie jedoch zunächst bald. Doderer behandelte mich sehr liebenswürdig und auch sehr kurz. Gleich darauf wandte er sich fast ausschließlich einem Altphilologen zu, mit dem er sich über Homer und Vergil unterhielt; unvermittelt übergoß er uns mit einem Sturzbach prachtvoller Hexameter, an dem ich mich trotz meiner ziemlich soliden humanistischen Gymnasialbildung verschluckte, weil ich einfach vor Staunen den Mund nicht mehr zubrachte. Die Gedächtnisleistung beeindruckte mich dabei wahrscheinlich weniger als die dramatische Brillanz des Vortrags und das sprühende Leben dieser Verse, die wir in der Schule ahnungslos seziert hatten. Nach der ersten Überraschung fühlte ich mich unter der homerischen Dusche im Verein der anderen Gäste recht wohl. Er beachtete mich weiter nicht. Ich war es sehr zufrieden, machte den Mund wieder zu und widmete mich still der Bewunderung, während die Hexameter weiter rauschten und donnerten. Beim allgemeinen Aufbruch, zu dem er das Signal gab, betrübte es mich zwar, daß er, der angeblich neugierig auf mich gewesen war, mich offensichtlich recht uninteressant gefunden hatte, aber es ist im Zweifelsfall angenehmer, gar keine Figur zu machen als eine schlechte. Nach diesem Beginn unserer Bekanntschaft war ich immerhin beruhigt, daß er mir meine Schriftstellerei nicht verübelte, und traute mir zu, ihm bei dem noch ungewissen nächsten Mal eine Hand zu geben, die nicht vor Aufregung feucht war.

Am Tag darauf traf ich W. F. Natürlich sprachen wir über den vergangenen Abend. Und dann fühlte ich mich wie ein Esel, dem nachher dazu gratuliert wird, wie gut er auf dem Eis tanzen kann: „Er hat mir ganz genau geschildert, wie du schreibst. Es stimmt: Du schreibst wirklich so. Du bist auch so. Er möchte dein Buch haben, sobald es fertig ist.“ Ich wollte es nicht glauben und ließ mir seine Worte wiederholen, soweit W. F. sich erinnerte, Ich schreibe wirklich so. Ich bin so. Es stimmte alles.

Vielleicht hätte ich eines Tages den Mut gefunden, ihn zu fragen, wie die Prüfung vor sich gegangen war. Ich erkannte, daß er mich aus Güte und Verständnis diesen ersten Abend lang übersehen hatte, und Güte und Verständnis bewies er mir auch in den viel zu wenigen Stunden, die ich in dem folgenden Jahr, das sein letztes wurde, mit ihm beisammen sein durfte. Aber ich war nie sicher, was alles er nebenbei und zwischen unseren Worten hindurch an und in mir sah. War die Prüfung abgeschlossen? Habe ich wirklich bestanden?

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