FORVM, No. 154
Oktober
1966

Die Räte des Volkes

Zum 10. Jahrestag der ungarischen Revolution

Das erstaunlichste war, daß aus einer Volksaktion ohne Führer und ohne vorher festgelegtes Programm kein Chaos entstand und keine Anarchie. Es kamen keine Plünderungen der Läden vor, überhaupt keine Eigentumsdelikte, und dies in einem Lande, dessen niedriger Lebensstandard und großer Warenhunger notorisch waren. In den Fällen, in denen die Menge zu direkter Aktion schritt und Geheimpolizisten öffentlich henkte, bemühte sie sich, gerecht zu sein.

Statt Lynchjustiz und Mobherrschaft, auf die man sich hätte gefaßt machen müssen, bildeten sich sofort, nahezu gleichzeitig mit den ersten bewaffneten Demonstrationen, jene revolutionären Räte — Arbeiter- und Soldatenräte —, welche nun seit mehr als hundert Jahren mit einer Regelmäßigkeit ohnegleichen im Aktionsfeld der Geschichte erscheinen, wann immer das Volk für ein paar Tage oder Wochen oder Monate die Chance hat, seinem eigenen politischen Menschenverstand zu folgen, ohne von einer Partei am Gängelband geführt oder von einer Regierung gelenkt zu werden.

Historisch begegnen wir diesen Räten zum erstenmal in den Revolutionen, welche im Jahre 1848 über Europa dahinfegten. Wir treffen sie wieder in der Pariser Commune 1871 und in der ersten russischen Revolution 1905; aber in voller Stärke und Klarheit zeigen sie sich doch erst 1917 in der Oktoberrevolution in Rußland und in den Nachkriegsrevolutionen 1918 und 1919 in Deutschland und Österreich.

Für diejenigen, die meinen, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, ist das Rätesystem natürlich längst erledigt, denn es ist immer besiegt worden, und zwar keineswegs immer nur von der sogenannten Konterrevolution. Das bolschewistische Regime entmachtete die Räte, die Sowjets, wie sie auf russisch heißen, bereits unter Lenin und stahl den Namen für das eigene antisowjetische Regime, womit es ihnen immerhin ihre Popularität bestätigte.

Um die Ereignisse der ungarischen Revolution zu verstehen, müssen wir in der Tat, wie Silone in einem großartigen Artikel zu den Vorgängen im Winter 1956 bemerkte, „erst einmal die Sprache säubern“ und einsehen, daß „die Sowjets schon 1920 aus Rußland verschwanden“, daß die russische Armee eben gerade keine „Sowjet“-Armee ist und daß „die einzigen Sowjets, die es gegenwärtig (d.h. vor zwei Jahren) in der Welt gibt (gab), die ungarischen Revolutionsräte“ waren.

Vielleicht hat die russische Armee gerade deshalb so unerbittlich und so schnell zugeschlagen, weil die ungarische Revolution nichts restaurieren wollte und keineswegs „reaktionär“ war, sondern weil in ihr das ursprüngliche Sowjetsystem, das Rätesystem, das aus der Oktoberrevolution entstanden und im Kronstädter Aufstand von der bolschewistischen Partei niedergeschlagen worden war, wieder auf die Bühne der Geschichte getreten war. Vor nichts haben die totalitären Machthaber Rußlands heute größere Furcht als vor dieser „elementaren Form der Volksmacht“ (Silone).

Aber mit dieser Furcht steht die bolschewistische Partei nicht allein; sie wird, kaum ist das Rätesystem erstanden, von allen Parteien von rechts bis links geteilt. So ist es auch in Deutschland nicht die Reaktion gewesen, sondern die Sozialdemokratie, die das Rätesystem liquidiert hat. Und hätte sie es nicht getan, die Kommunisten hätten es bestimmt getan, wenn sie ans Ruder gekommen wären.

Deutlicher noch als in den früheren Revolutionen repräsentierte das Rätesystem in Ungarn „den ersten praktischen Schritt, die Ordnung wieder herzustellen und die ungarische Wirtschaft auf sozialistischer Basis neu zu organisieren, ohne sie der Starrheit einer Parteikontrolle zu unterstellen oder einem Terrorapparat auszuliefern“ (Ungarnbericht der UNO).

Alternative zum Parteiensystem

Das Rätesystem kann man nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es genau so alt ist wie das Parteiensystem selbst, zusammen mit ihm entstand und immer wieder von ihm vernichtet wurde. Die Räte stellen bis heute die einzige Alternative zum Parteiensystem dar, d.h. die einzige Alternative einer demokratischen Regierung in der Moderne. Sie sind nicht anti-parlamentarisch, sie schlagen nur eine andere Art der Volksvertretung vor, aber sie sind ihrem Wesen nach anti-parteilich; sie richten sich gegen eine Volksvertretung, die durch Klasseninteressen, Ideologien oder Weltanschauungen bestimmt ist.

Während der historische Ursprungsort des Parteiensystems im Parlament liegt, entstehen die Räte ausschließlich durch das Zusammenhandeln selbst und durch die dieser Aktion spontan entspringenden Forderungen des Volkes. Hinter ihnen steht keine Ideologie, und sie sind von keiner politischen Theorie über die beste Staatsform vorgesehen, geschweige denn vorbedacht worden.

Wo immer Räte auftraten, begegnete ihnen die gesamte Parteibürokratie von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken mit entschlossener Feindschaft. Von seiten der Staatswissenschaftler und der politischen Theorie ist ihnen bisher nur ein einmütiges Totschweigen zuteil geworden.

Dabei ist es ganz fraglos, daß der Geist des Rätesystems echt demokratisch ist, aber Demokratie tritt hier in einer Form auf, die man nie zuvor gesehen und noch nie erwogen hat. Desto kennzeichnender ist die eigentümliche Hartnäckigkeit, mit der sie jedesmal wieder vorgeschlagen wird, wenn das Volk überhaupt dazu kommt, seine Stimme zu erheben.

Hier haben wir es wirklich mit einer Spontaneität zu tun, die unmittelbar aus dem Handeln selbst stammt und weder von einem außerhalb des Handelns liegenden Interesse noch von einer von außen herangetragenen Theorie bestimmt ist.

Ist solch eine Körperschaft von Vertrauensmännern erst einmal im Amt, so werden sich natürlich auch unter ihnen Meinungsverschiedenheiten entwickeln, welche dann zu Parteibildungen führen können. Aber solche Gruppierungen zwischen Männern gleicher Meinung innerhalb des Rätesystems sind streng genommen keine Parteien; sie dürften eher jenen Fraktionen innerhalb eines Parlaments entsprechen, aus denen die Parteien ursprünglich entstanden sind. Daß sich aus solchen Fraktionen wieder Parteien entwickeln müssen, ist keineswegs ausgemacht, solange die Wahl des Kandidaten selbst nicht von seiner Fraktionszugehörigkeit, sondern von der persönlichen Überzeugungskraft abhängt, mit der er seine Meinung vorzutragen und zu vertreten versteht, d.h. solange die Wahl selbst auf persönlichen Eigenschaften beruht.

Das würde aber bedeuten, daß die Räte die Parteifraktionen kontrollieren würden, anstatt ihre Repräsentanten zu sein. Die Macht der Fraktion würde nicht von ihrem bürokratischen Apparat und von ihrem Programm, auch nicht von der Attraktion irgendeiner Weltanschauung abhängen, sondern einzig davon, wie viele Menschen zu ihr gehören, die über Eigenschaften verfügen, die sie vertrauenswürdig machen. Sie würde, mit anderen Worten, davon abhängen, populär im besten Sinne des Wortes zu sein.

Wie gefährlich dies rein persönliche Prinzip für die Diktatur einer Partei sich auswirken kann, konnte man aus den Anfangsstadien der russischen Revolution lernen, als Lenin es für nötig hielt, die Sowjets zu entmachten, weil es sich herausgestellt hatte, daß die Sozialrevolutionäre bei weitem mehr Menschen in ihren Reihen hatten, denen das Volk traute, als die Bolschewiki. Die Macht der bolschewistischen Partei, die ja immerhin die Revolution gemacht hatte, war gefährdet durch das Rätesystem, das aus der Revolution hervorgewachsen war.

Es gab in Ungarn alle Arten von Räten — solche, die aus dem Zusammenwohnen der Menschen entstanden, die Nachbarschaftsräte, die dann zu Stadt-, Kreis- und Provinzorganen anwuchsen, die revolutionären Räte, die aus dem Zusammenkämpfen geboren waren, die Schriftsteller- und Künstlerräte, die, möchte man meinen, in den Cafés sich bildeten, die Studenten- und Jugendlichenräte aus dem Zusammenstudieren an den Schulen und Universitäten, die Soldatenräte der Armee, aber auch Räte für Ministerialbeamte, Arbeiterräte in den Fabriken usf. Wo immer es ein Zusammen von Menschen in einem wie immer gearteten Öffentlichen Raum gab, entstanden Räte, welche in jeder dieser unter sich ja ganz disparaten Gruppen das zufällige Zusammen in eine politische Institution verwandelten.

In die Räte wurden Kommunisten, Nichtkommunisten, Angehörige aller Parteien in buntem Durcheinander gewählt, einfach, weil Parteilinien überhaupt keine Rolle spielten. Das einzige Kriterium, so meinte eine Tageszeitung, war, daß „niemand unter ihnen seine Macht mißbrauchen oder nur an seine eigenen Interessen denken würde“. Und dies ist weniger eine Frage der Moral als der persönlichen Qualifikation.

In den zwölf kurzen oder langen Tagen, die ihr vergönnt waren, hat die ungarische Revolution nicht nur das Prinzip des Rätesystems überhaupt hervorgebracht, sie hat — und dies war vielleicht das Erstaunlichste — einen großen Bereich seiner Verwirklichungsmöglichkeiten im einzelnen und konkreten abgeschritten und die Richtungen gewiesen, in der es sich entfalten kann.

Kaum waren die ersten Räte in direkter Wahl gewählt, als sie begannen, sich miteinander in Beziehung zu setzen und aus ihrer Mitte die Vertreter für die höheren Regierungsorgane zu wählen, bis hinauf zu dem Obersten Nationalen Rat, der etwa einer Regierung gleichkommt. Und die Initiative dafür, die normale Regierung durch ein höchstes Organ, das aus den Räten selbst hervorgeht, zu ersetzen, ging von der gerade wieder ins Leben gerufenen Nationalen Bauernpartei aus, sicher keiner Gruppe, die man linksradikaler Ideen verdächtigen könnte.

Während es wegen der Kürze der Zeit zu der Etablierung eines solchen Obersten Rates nicht mehr kam, war doch genug Zeit, um überall die nötigen Vorkehrungen zu treffen; Arbeiterräte hatten Kommissionen aufgestellt, die zwischen ihnen vermittelten und sie miteinander in Beziehung hielten, und zentrale Arbeiterräte waren in vielen Gebieten bereits in Funktion getreten. Die revolutionären Räte der einzelnen Provinzen waren koordiniert und planten die Schaffung einer Nationalen Revolutionären Kommission, welche das Parlament, die Nationalversammlung, ersetzen sollte.

Selbstverwaltung

Sehr viel mehr als dies wissen wir nicht. Hier wie in den früheren nur zu kurzen historischen Augenblicken, in denen die Stunde des Volkes, unverfälscht von dem Geschrei des Gesindels und dem Gezänk der Fanatiker, hörbar wird, bleibt uns nichts übrig, als so skizzenhaft, wie es eben gehen will, uns ein Bild vom Wollen und Scheitern zu machen, von der Physiognomie des einzigen demokratischen Systems, das in Europa, wo das Parteiensystem schon fast bei seiner Geburt diskreditiert war, je wirklich das Volk auf seiner Seite gehabt hat.

So wissen wir nicht, ob dieses System den Anforderungen moderner Politik auf die Dauer sich gewachsen zeigen würde, welcher Korrekturen es bedürfte, wie groß seine Tragfähigkeit als politischer Körper ist, ob die Rätedemokratie und das ihr zugrunde liegende Wahl- und Auswahlprinzip geeignet sein würden, auch in Ländern mit großen Bevölkerungszahlen die repräsentative Demokratie zu ersetzen.

Politische Erfahrung kann durch keine theoretischen Überlegungen ersetzt werden, aber für dieses System spricht doch ein wenig mehr als seine unbezweifelbare Popularität. Immerhin ist es einmal in Rußland ausprobiert worden, also einem der modernen Großstaaten, und es ist nicht in sich zusammengebrochen, sondern mußte mit Waffengewalt aus der Welt geschafft werden.

Nicht zu übersehen ist auch die erstaunliche Tatsache, daß die Demokratie in der modernen Welt nur dort wirklich zu funktionieren scheint, wo jene lokalen Organe der Selbstverwaltung existieren, die — wie das Kanton-System der Schweiz oder das Townhall-Meeting in Amerika, wie ähnliche Organe in England und Skandinavien — mit dem Rätesystem im Prinzip eine verblüffende Ähnlichkeit haben.

Obiger Text entstammt einem Vortrag am Bayerischen Rundfunk, mit freundlicher Druckerlaubnis des Piper-Verlages, München.

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